Streitgespräch: Zeitgeist


Irgendwie hört man dauernd nur die Frage, ob Science Fiction “tot” sei. Was Anwesende Diskutanten natürlich heftig verneinen. Doch selten fragt einer: Hat Science Fiction einen Zeitgeist, und wenn ja, wie sieht der aus? Wir tun es.

Andreas: Kurd Laßwitz ist sicher keine „moderne“ Science Fiction, während Cory Doctorow sicher modern ist. Die SF kennt sichtlich Modeerscheinungen und einen Zeitgeist. Ist da was dran?

Sven: Klar. Zum einen wollen die Verlage verkaufen. Und das geht oft nur mit „moderner“ SF. Wer heutzutage nicht wenigstens schon mal das Wort Steampunk in einen Blog geschrieben hat, ist (auf Partys) ultra-out. Demgegenüber steht die Bewahrung von Traditionen. Ich finde, beides hat etwas für sich (Steampunk = schicke Mädels in engen Kostümen, Tradition = unumstößliche literarische Qualität). Aber ganz so extrem ist die Schere wahrscheinlich nicht. Ich als Erfinder von MegaFusion müsste ja eigentlich sagen: „Hey! Es geht nix über moderne SF.“ Tue ich aber nicht. Warum? Weil ich auch anders (schreiben) kann. Und ob es eine spezifische „deutsche moderne SF“ gibt, wage ich zu bezweifeln. Im Endeffekt passt sich auch die deutsche SF immer an gewisse internationale Strömungen an. Jedenfalls gibt es noch keinen „BerlinPunk“ oder „KanzlerPunk“. Oder hast du da was in der Schublade?

Andreas: Berlin hat schon genug Punks. Und der Angie stehen auch ohne Rasierschaum die Haare zu Berge. Aber im Ernst: Neulich gab es eine Ausschreibung zu Mythenpunk, die sich regionale Mythen wünschte. Kommt vielleicht parallel zum Boom der Regional-Krimis der Regional-Sci-Fi? Verrückte Wissenschaftler lassen Bielefeld verschwinden? Aliens laden im Ruhrpott? Ist das „modern“?

Uwe: Die Aliens sind schon längst und mehrfach im Ruhrpott gelandet, lies mal meine Geschichten. Ich habe mich neulich mit einem Jugendlichen unterhalten, der freiwillig SF-Romane liest. Ja, so was gibt’s! Ist aber selten, sagt er selbst. Er mag Otherland und Lukianenko. Von Asimov, Lem oder Clarke hat er noch nie was gehört. Das muss nicht heißen, dass ihm der Kram nicht gefällt. Aber machen wir mal ein Gedankenexperiment: Gib diesem Jungen die dicke Foundation-Trilogie mit Zigarre rauchenden Funktionären in knarzenden Ledersesseln, und gib ihm „Little Brother“ von Cory Doctorow, worin Spielekonsolen, Hacker und Privatsphäre thematisiert werden. Was wird ihm besser gefallen?

Andreas: Aber Klassiker haben doch unbestreitbare Qualitäten.

Uwe: Aber die wenigsten können heute aktuellen Themen gerecht werden. Wie auch? Die Zeiten ändern sich, also auch ihr „Geist“. Bloß kann den keiner ernsthaft vorhersagen. Aber wenn ein Autor ihn völlig ignoriert, und heute einen altbackenen Roman ohne Ideen des 21. Jahrhunderts schreibt, sollte er sich nicht wundern, wenn niemand sein Buch lesen will. Das betrifft sowohl inhaltliche Aspekte als auch die Sprache.

Sven: Och schade, jetzt muss ich meinen eben erst konzipierten Roswell-Atom-U-Boot-Roman wieder in der Schublade versenken Nein, im Ernst: Ich glaube nicht, dass es *den einen* Zeitgeist gibt. Natürlich sind gewisse Tendenzen im Kauf- und Meinungsverhalten klar erkennbar, aber deshalb gleich auf einen gemeinsamen Nenner zu schließen halte ich für falsch. Vielmehr müsste man mal sozialhistorisch belegen, welche Szenegänger vorzugsweise welche Bücher lesen. So lassen sich Gothics schon eher für Anti-Pop à la Bernemann oder Beigbeder begeistern und Techno-Fans sicher auch für Cyberpunk. Das bedarf aber alles erst einmal der näheren Analyse bevor man eine große Zeitgeist-Theorie postuliert. Ich z. B. kann nur für jene Gruppen sprechen denen ich mich zugehörig fühle bzw. gefühlt habe …

Uwe: Es gibt ganz sicher mehr als einen Zeitgeist. Ganz viele sogar, und hinzu kommt eine heterogene Zielgruppe. Oder ganz viele. Deshalb kann man Erfolg kaum vorhersagen. Da man also Autor ohnehin niemandem nach dem Mund schreiben sollte, bleibt nur eines, um die Chancen zu, äh, optimieren: Die Interessen möglicher Leser nicht vorsätzlich ignorieren.

Andreas: Ja, und was sind die die Interessen der modernen Leser in Sachen SF?

Sven *trinkt ein Bier*: Sex, Drugs & Rock’n Roll geht imma!

Andreas: Also am Ende doch: „Aliens! Titten! Raumschiffe!“? Vögelnde zugedröhnte Werwolf-Telepathinnen auf Kepler 22b?

Uwe: Genau, fragen wir doch unsere Leser! Welche Zeitgeister sind eurer Meinung nach in der SF aktuell relevant?