Interview mit Kai Meyer

dsf: Hallo Kai. Zuallererst möchte ich mich für deine Bereitschaft bedanken, mir für ein Interview zur Verfügung zu stehen.

Meyer: Sehr gerne.

dsf: Wählen wir einen etwas ungewöhnlichen Einstieg: Wie hältst du es mit dem Helm beim Radfahren?

Meyer: Mein Fahrrad staubt seit über zehn Jahren unbenutzt in der Garage vor sich hin. Der einzige Helm in Sachen Fortbewegungsmittel, den ich mal besessen habe, war als Kind einer für Rollschuhe – damals hießen die Disco Roller –, und den habe ich nie aufgesetzt. Ich hab ihn bei irgendeinem Preisausschreiben gewonnen, und damals gab es wenig Uncooleres als Rollschuhfahren mit Helm.

dsf: Erzählst du uns etwas über deinen Werdegang? Ich meine, du bist mir in der SF erstmalig aufgefallen, als du deinen Roman des Zyklus Krone der Sterne (Link zur Rezension von Teil 1+2) veröffentlicht hast. Davor gab es von dir „nur“ Fantasy. Wie bist du zur SF gekommen, warum auf einmal SF?

Meyer: Das ganze Schubladendenken in der Szene hilft ja niemandem, deshalb nenne ich das, was ich schreibe, ganz pauschal Phantastik. Fantasy wird immer schnell mit High Fantasy in der Tolkien-Tradition verwechselt – die habe ich nie geschrieben. Sehr viele meiner Bücher sind phantastische Romane vor historischem Hintergrund. Dann gibt es diverse Bücher von mir, die wohl am ehesten Horror sind (auch wenn die Verlage es nie aufs Cover geschrieben haben). Und ich schätze „Hex“, Ende der Neunziger, war sogar SF.

dsf: Warum gerade SF? Ich meine, es gibt immense andere Literaturströmungen. Den Mainstream beispielsweise. Was hebt für dich die SF von den anderen Strömungen ab? Ist deines Erachtens tatsächlich derzeit ein neuer Hype bei der SF-Literatur zu erwarten oder haben wir hier nur ein Strohfeuer?

Meyer: Mir geht es in allem, was ich schreibe, um den Sense of Wonder. Den hat ja nicht die SF für sich allein gepachtet, gerade in der Fantasy gehört er zum Inventar. Man könnte ihn auch etwas anthropologischer „das Numinose“ nennen, und dann sind wir nur noch einen Schritt vom Religiösen entfernt. Nun könnte man diskutieren, welche Genrespielart eher ein Religionsersatz ist, SF oder Fantasy.

Was den Hype angeht – der ist schon wieder vorbei. Die Verlage haben es drei, vier Jahre lang versucht, aber es hat doch kaum etwas so gut funktioniert wie die Fantasy noch vor einigen Jahren. Die einzigen SF-Romane, die sehr erfolgreich waren, waren jene, die sich aus irgendwelchen Gründen in den Mainstream verirrt haben, etwa „Der Marsianer“. Der Rest bleibt letztlich Nische.

dsf: Auf Spiegel online ist vor einiger Zeit (Herbst 2017) ein Artikel erschienen, in dem gesagt wird, dass es heutzutage Eskapismus sei, SF NICHT zu lesen. Begründet wird das damit, dass dies die einzige Literaturgattung ist, die sich mit den Problemen der Zukunft befasst, bevor sie entstanden sind. Wie siehst du das? Ist es wirklich die Extrapolation oder werden nicht vielmehr häufig unsere Probleme der Jetztzeit lediglich verfremdet dargestellt?

Meyer: Ich lese nicht genug SF, in der es in erster Linie um die Vorhersage künftiger Probleme gibt, um mir darüber ein Urteil erlauben zu können. In den Siebzigern gab es ja eine Menge Dystopien, und ich fand die schon damals sehr freudlos und trist. Mich hat es sehr überrascht, als Dystopien vor einigen Jahren wieder ein so großes Thema wurden – wobei wir uns da nichts vormachen sollten: In den erfolgreichen modernen Varianten ging es um Liebesgeschichten vor einem dystopischen Hintergrund. „Hunger Games“ & Co. benutzen ja eigentlich eher historische Versatzstücke, die sie in eine wenig realistische Zukunft verlegen.

dsf: Kannst du deine Projekte frei wählen? Oder musst du, wie Verschwörungstheoretiker in der Szene gerne kolportieren, „Auftragsarbeiten“ für den Verlag erledigen?

Meyer: Behauptet das jemand ernsthaft über meine Bücher? Ich habe rund sechzig Romane geschrieben, und nicht ein einziges davon war eine Auftragsarbeit. Im Gegenteil: Den Verlagen wäre es oft viel lieber gewesen, wenn ich einfach wieder das gemacht hätte, was beim letzten Mal gut funktioniert hat. Nicht zwangsläufig Fortsetzungen, sondern dieselbe Art von Geschichte. Wer sich die Mühe macht und sich meine Bücher mal genau anschaut – Rückseitentexte lesen reicht –, wird merken, dass das albern ist.

„Die Krone der Sterne“ war keineswegs eine sichere Sache, was offenbar der eine oder andere wegen des „Star-Wars“-Revivals vermutet, sondern ein enormes Risiko. Und es ist eher nach hinten losgegangen, trotz – für SF ­– ordentlichen Verkaufszahlen. Ich erkläre das mal genauer: Ich habe „Die Krone der Sterne“ ja parallel zu meiner Reihe „Die Seiten der Welt“ geschrieben und veröffentlicht, im Frühjahr die eine Serie, im Herbst die andere. Der erste Band von „Die Seiten der Welt“ hat sich sechsstellig verkauft, der erste Band von „Die Krone der Sterne“ gerade mal knapp fünfstellig. Die großen Buchhandlungen bestellen aber ihre Neuerscheinungen nach Warenwirtschaftssystem, das heißt, automatisch nach ihrer Verkaufszahl meiner letzten Veröffentlichung. Entsprechend bestellen sie dann einen neuen Band von „Die Seiten der Welt“ nicht etwa basierend auf dem Vorgängerband, sondern basierend auf „Die Krone der Sterne“. Was dazu führte, dass der jeweils neue „Seiten“-Roman in radikal kleinerer Stückzahl auf den Tischen lag, als es dem Verkauf der ersten Teile angemessen gewesen wäre. Und was weniger ausliegt, wird weniger verkauft. Das führt zu einem unguten Kreislauf, den ich bei den letzten paar Büchern zu spüren bekommen habe.

Und natürlich wusste ich vorher, dass SF sich nie so gut verkaufen wird wie „Die Seiten der Welt“, und ich habe „Die Krone der Sterne“ trotzdem geschrieben – einzig und allein, weil ich so große Lust auf eine klassische Space Opera hatte. Vom reinen Karrierestandpunkt aus betrachtet, war das ein Fehler. Trotzdem tut es mir kein bisschen leid. Die Geschichte ist jetzt da draußen, viele Leute mögen sie, und ich habe mir das Subgenre quasi von der Seele geschrieben.

dsf: Wie projektierst du deine Romane? Ich meine, es gibt ja so viele verschiedene Herangehensweisen an das Schreiben eines Buches. Manche Autoren machen sich einen ausführlichen Szenenplan, andere fangen einfach an und schreiben drauflos. Wie machst du das?

Meyer: Ich plane sehr detailliert. In der Regel sitze ich drei, vier Monate an der Recherche und der Konzeption. Danach habe ich ein 40- bis 50seitiges Expose des gesamten Romans, mit jeder einzelnen Szene und einem möglichen Finale. Manchmal ändert sich aber vor allem das Ende noch einmal beim Schreiben.

dsf: Wird es auch mal Kurzgeschichten aus deiner Feder geben? Mich faszinieren vor allem Kurzgeschichten.

Meyer: Es gibt ein paar, vier oder fünf. In erster Linie ist es eine Zeitfrage. Ich sage fast alle Anthologie-Anfragen ab, weil ich eigentlich immer mitten in einem Roman stecke.

dsf: Kommen wir zu deinem neuesten SF Werk: Krone der Sterne, Hexenmacht. Du kennst meine Rezension. Was hat dich dazu bewogen dieses Thema zu wählen? Habe ich recht damit, dass du Star Wars und den Wüstenplaneten kennst? Kann es sein, dass du sie in deiner Jugend konsumiert und tatsächlich von ihnen beeindruckt wurdest?

Meyer: „Star Wars“ kennt jeder, oder? „Der Wüstenplanet“ mag ich als Film, fand den ersten Roman eher langweilig (vielleicht, weil ich den Film schon kannte) und die Fortsetzungen mehr als zäh. Bis zur dritten bin ich gekommen, dann hab ich aufgegeben. „Star Wars“ ist natürlich ein Einfluss, aber eher so, wie jeder Western von früheren Western beeinflusst wird: Man lässt die Cowboys nicht plötzlich auf Kamelen reiten und mit Steinschleudern schießen, nur weil Pferde und Pistolen schon mal anderswo benutzt wurden. Ich habe immer sehr gern Leigh Brackett gelesen, mit Abstrichen Edward Hamilton, C.L. Moore und andere Autoren aus der frühen Space-Opera- oder Planetary-Romance-Schule. Ich habe z.B. eine recht anständige Sammlung von Originalausgaben des Pulp-Magazins „Planet Stories“ im Regal stehen. Letztlich hatten sie alle einen größeren Einfluss auf den Ton der Geschichte als George Lucas. Was ich wollte, war diese Begeisterung des 10- oder 12jährigen in mir wieder heraufbeschwören, der Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger für jedes „Star-Wars“-Rip-off ins Kino gegangen ist. Ich kaufe mir heute noch jede Neuveröffentlichung von „Star Crash“ und hätte gern „Der große Krieg der Planeten“ auf Blu-Ray – nicht weil das gute Filme wären, sondern weil ich einfach an ihnen hänge wie an alten Stofftieren. Mit zwölf hätte ich den Sense of Wonder nicht benennen können, aber ich wusste schon sehr genau, was etwa der Vorspann von „Kampfstern Galactica“ bei mir bewirkt. Oder das erste Auftauchen der Draconia in „Buck Rogers“. Genau da wollte ich mit „Die Krone der Sterne“ hin. Ob die Bewahrer der reinen SF-Lehre mir das nun glauben oder nicht: Die Reihe war für mich ein reines Vanity-Projekt, das ich mir leisten konnte, weil „Die Seiten der Welt“ so erfolgreich war.

Und noch zum „Wüstenplaneten“: Das Hexen-Matriarchat in „Die Krone der Sterne“ kommt nicht von Frank Herbert, sondern direkt aus dem Vanga-Zyklus der „Mythor“-Serie. Als Teeanger war ich fanatischer „Mythor“-Fan und bin es immer noch.

dsf: Bei unserem gemeinsamen Frühstück im Hotel in Leipzig fragte ich dich, ob du planst in einer der zu erwartenden Fortsetzungen Tiamande als die alte, unsere, Erde darzustellen. Du verneintest das. Für dich, sagtest du damals, gibt es keinen Zusammenhang zwischen deinem Universum und unserem aktuellen. Was wiederum ein Anklang an Star Wars wäre, da werden wir ja bereits im Vorspann darauf hingewiesen, das wir uns ganz woanders befinden. Warum keine Nähe zur Realität? Ist das deiner bisherigen schriftstellerischen Tätigkeit als Fatasyautor geschuldet?

Meyer: Was wäre denn realistisch daran, wenn in meiner völlig phantastischen Space Opera mit einem Mal die Erde auftaucht? Es würde die Geschichte kein bisschen näher an unsere Wirklichkeit bringen – Hexen bleiben Hexen und Schwarze Löcher sind keine Götzen –, sondern würde lediglich der Glaubwürdigkeit meines eigenen Kosmos schaden. Ähnlich wie ein Anachronismus im historischen Roman.

Meine Fantasy hingegen spielt fast durchweg auf der Erde in einem fest definierten historischen Kontext – es gibt bei mir keine Fantasyländer à la Mittelerde. Deshalb gibt es da auch keinen Zusammenhang zur fehlenden Erde in „Die Krone der Sterne“.

dsf: Wie weit ist dein Vorlauf? Wie viele Bücher sind bereits fertig, wenn eines erscheint?

Meyer: Manchmal ist eines schon ganz knapp fertig, meistens schreibe ich aber noch am nächsten.

dsf: Kannst/darfst du uns einen Ausblick geben, was wir in naher Zukunft aus deiner Feder zu erwarten haben?

Meyer: Im Frühjahr erscheint erst einmal „Die Krone der Sterne – Maschinengötter“, der dritte und vorerst letzte Band der Reihe. Möglich, dass ich später noch einmal dorthin zurückkehre, weil ich die Hauptfiguren so mag. Mal abwarten. Gerade ganz frisch erschienen ist der fünfte und letzte Bibliomantik-Band, also das zweite Prequel zu „Die Seiten der Welt“, außerdem bei Splitter der Horrorcomic „Das Fleisch der Vielen“, den ich sehr, sehr mag.

dsf: Ich vergleiche das Schreiben eines Buches gerne mit der Zeugung und Geburt eines Kindes. Der Beginn ist wunderschön, zum Ende hin wird es immer beschwerlicher und der Schluss ist häufig Schmerz pur. Dann kommt die plötzliche Erleichterung und der Autor fällt in ein Loch. Kannst du dich in dieser Beschreibung wiederfinden?

Meyer: Nur bedingt. Ich falle nicht in Löcher. Ich bin erleichtert, wenn ein Buch fertig ist, und freue mich auf das nächste.

dsf: In der Literatur gibt es genügend Beispiele, dass das Alterswerk eines Autors nicht mehr die Qualität hat, die der Autor auf dem Höhepunkt seines Schaffens hatte. Stellvertretend seien hier nur Karl May, Robert Heinlein oder Isaac Asimov erwähnt. Hast du vor einer solchen Entwicklung Angst? Ich persönlich hoffe darauf, dass man mich darauf hinweist, wenn es so weit ist. Wie siehst du das?

Meyer: Aufgrund der Masse von Hinweisen, die wir alle mittlerweile in Form von Online-Rezensionen bekommen, dürfte es schwierig werden, den einen Hinweis herauszufiltern, den wir ernst genug nehmen, um dann zu sagen: „Das war’s also, ich kann das nicht mehr.“ Wir alle werden trotzdem weitermachen, weil es eben das ist, was wir tun. Autoren gehen nicht in Rente. Sie haben allerhöchstens keine Lust mehr, und das ist ja dann auch eine ehrenwerte Selbsterkenntnis. Aber so lange man schreiben will, soll man eben schreiben. Ich sehe mich selbst immer noch in der Phase, in der ich mit jedem Buch dazulerne, und so lange das so bleibt, werde ich ganz sicher nicht aufhören.

dsf: Wenn ich einen Text fertiggestellt habe, bin ich in der Sekunde des Abschlusses euphorisch. Endlich geschafft …, und überzeugt davon, etwas absolut geniales verfasst zu haben. In der Sekunde danach kommt dann immer der Absturz, die Selbstzweifel. Ich überlege dann, ob das Werk überhaupt jemals das Licht der Öffentlichkeit erreichen darf, weil ich mir urplötzlich aller Schwächen bewusst werde (ob berechtigt oder nicht sei mal dahingestellt). Kennst du solche Zustände auch und falls ja, wie meisterst du sie?

Meyer: Selbstzweifel kennt jeder Autor. Ich hab sie vor einem Roman, mittendrin und danach. Grundsätzlich weiß ich aber: Ich kann das. Manches besser als anderes, aber ich weiß, dass ich mich am Ende immer noch durch jede schwierige Passage geschlagen habe und letztlich – manchmal mit dem Abstand von ein paar Monaten oder Jahren – etwas Ordentliches zustande gebracht habe. Selbstzweifel sind bei mir also schon Teil der Routine geworden, sie machen mir schlechte Laune, treiben mich aber nicht zur Verzweiflung.

dsf: Ich habe dich Eingangs gefragt, wie du es mit dem Helm beim Radfahren hältst. Hintergrund für diese Frage ist, dass ich der Meinung bin, dass wir in unserer Gesellschaft mittlerweile eine Art Diktatur der Fürsorge erfahren. Eine Art der Diktatur, der sich auch durchaus einmal ein Autor widmen könnte. Es ist ja nicht nur der Helm beim Radfahren (der ja durchaus sinnvoll ist, aber eben nicht bei jeder Gelegenheit und schon gar nicht bei kleinen Kindern auf dem Spielplatz, die noch mit Stützrädern fahren. Wer das als sinnvoll erachtet, müsste den Kleinen auch beim Laufen einen Helm aufsetzen) , wir haben z. B. auch die DSGVO, die in eine ähnliche Richtung zeigt. Wie siehst du diese Art der Entwicklung?

Meyer: Eine Diktatur ist etwas vollkommen anderes, deshalb würde ich den Begriff in diesem Kontext vehement ablehnen. Davon abgesehen bin ich durchaus der Meinung, dass erwachsene Menschen selbst in der Lage sein sollten, Risiken für ihre Gesundheit abzuschätzen. Wer viel im Großstadtverkehr mit dem Fahrrad unterwegs ist, mag einen Helm ganz sinnvoll finden, ob mit oder ohne Gesetz. Jemand, der auf dem Feldweg von einem Dorf zum nächsten fährt, hält ihn vielleicht für überflüssig. Ein wenig gesunder Menschenverstand würde auch den Gesetzgebern häufiger ganz gut tun. Andererseits: Wenn sich heute weniger Leute beim Fahrradfahren den Schädel einschlagen als früher, gibt es nur wenige gute Argumente gegen die Helmpflicht. Oder gegen jede andere Pflicht, die die Leute am Leben hält.

dsf: Lieber Kai, ich möchte mich an dieser Stelle recht herzlich für das Interview bedanken.

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