Dieter Rieken

Beiträge des Autors

Rezension: “Der Zef´ihl, der vom Himmel fiel” von Dieter Bohn

Adrian Deneersen, einem Datendieb, gelingt es mithilfe einer List, sich seinem Prozess und dem sicheren Todesurteil durch Flucht zu entziehen. Er landet mit einer Rettungskapsel auf einer fremden, mittelalterlichen Welt, wo ihn der Herrscher des Landes Kofane zwingt, für ihn zu arbeiten. Er wird zum “Zef´ihl” ernannt, eine Mischung aus Magier und königlicher Berater, der sein überlegenes Wissen dazu einsetzen soll, Kofane vor der Eroberung und Zerstörung durch das Reitervolk der Masuti zu retten. Adrian fügt sich, nicht zuletzt weil er beginnt, sich unter den menschenähnlichen Einheimischen zu Haus zu fühlen. Er versucht alles, mit den verfügbaren Arbeitskräften und Ressourcen Waffen herzustellen, mit denen die zahlenmäßig weit überlegenen Invasoren aufgehalten werden können. Doch das ist gar nicht so einfach, weil seine Kenntnisse auf Schulwissen beschränkt sind und er sich an vieles nur vage erinnert. Und selbst wenn er erfolgreich sein sollte, hat er immer noch das Problem, dass die Mächtigen, die ihn nach wie vor verfolgen, nicht ruhen werden, solange er lebt.

Die kurze Inhaltsangabe macht deutlich, dass “Der Zef´ihl, der vom Himmel fiel” viele gängige SF-Motive aufgreift und variiert. Am meisten erinnert Dieter Bohns Buch an Arkadi und Boris Strugatzkis Roman “Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein” aus dem Jahr 1964, der 1971 erstmals auf Deutsch erschien. Beide spielen auf einem Planeten mit menschenähnlichen Bewohnern, in einer feudalen Gesellschaft, deren Entwicklung dem Mittelalter der Erde ähnelt. Wie Anton im russischen Roman darf Adriaan eigentlich nur beobachten und sich auf keinen Fall einmischen. Beide leben unerkannt unter Fremden – und beide höchst privilegiert –, bis es zu einer Krise kommt, die sie Partei ergreifen und in Aktion treten lässt.

Hier ist es mit den Parallelen auch schon vorbei. Denn anders als bei den Strugatzkis ist sich in Bohns Roman zumindest der Herrscher bewusst, welches Potenzial sein “Gast” ihm bietet. Er ist vom ersten Kapitel an Herr der Lage und zieht von der Androhung roher Gewalt bis zu subtiler Verführung alle Register, um Adriaan zur Kooperation und zum Eingreifen zu bewegen. Während Anton die fortschrittlichste Technik zur Verfügung steht, hat Adriaan nur das Wenige zur Hand, an das er sich erinnern kann und das die Handwerker der Stadt mit ihren begrenzten Mitteln herzustellen vermögen – manchmal mehr schlecht als recht.

Bohn schildert den Prozess der Produktion von Schutzkleidung, Waffen und Sprengstoff sehr anschaulich und detailliert, die Erfolge ebenso wie die Rückschläge, ohne dass dabei jemals Langeweile aufkommt. Das liegt vor allem an den vielen interessanten Figuren, mit denen es Adriaan in der Hauptstadt Kofanes zu tun bekommt. Wie auch der Protagonist selbst sind diese Männer und Frauen mit all ihren Stärken und Schwächen gezeichnet, sei es ihre Gewitzt- oder Beschränktheit, Hingabe oder Sturheit, Aufopferungsbereitschaft oder auch Brutalität. Dabei entsteht nie der Eindruck, der Erzähler würde auf die “Primitiven” herabblicken. Im Gegenteil: Immer wieder ist es Adriaan, der sich dazu gezwungen sieht, sich lächerlich zu machen, zum Beispiel bei seinen öffentlichen Auftritten als Zauberer, um die Masuti einzuschüchtern.

So ist es Dieter Bohn gelungen, altbekannte Motive auf eine ganz eigenständige, dabei schöne und überaus unterhaltsame Art und Weise zu variieren. Zu den inhaltlichen Stärken dieses Buchs kommt das große Vermögen des Autors, wirklich spannend zu erzählen – und das in einer Sprache und einem Stil, die das Lesen zu einem echten Vergnügen machen.

Unterhaltung:
Anspruch:
Originalität:

Rezension: “Von Zeit zu Zeit” von Hans Jürgen Kugler

Daniel Damberg, ein freischaffender Lektor und Konzertkritiker, wacht im Juli 2022 in seiner Wohnung in Freiburg auf und stellt fest, dass sich die Zeit um ihn herum extrem verlangsamt hat. Nur er selbst ist von diesem Phänomen nicht betroffen. Nach ein paar Stunden, in denen er seine Umgebung erkundet, kommt es zu einer Art Zeitraffer, und der Spuk, der die ganze Stadt erfasst hatte, ist vorbei. Das Erlebnis hat Daniel so verstört, dass es ihn noch lange beschäftigt. Der Arzt, den er konsultiert, kann ihm nicht helfen – ebenso wenig wie Tobias Heubach, Daniels früherer Mitbewohner und bester Freund, dem er sich anvertraut. In den folgenden Monaten kommt es zu weiteren ungewöhnlichen Phänomenen. Heiße Windstöße und Lichtblitze am nächtlichen Himmel führen Daniel und Tobias zunächst auf einen Joint zurück, den sie rauchen – bis Tobias verkohlte Fledermäuse auf dem Balkon und im Garten findet. Während einer Fahrradtour mit Iris Lutz, Daniels früherer Flamme, beobachtet das Paar in der Dunkelheit eigentümliche Leuchterscheinungen, die es für einen Meteoritenschauer hält. Auf einem Kurzurlaub bei Überlingen stranden die beiden dann in einem “Zeitverzögerungsfeld”, wie es Daniel im Vorjahr erlebt hat. Ihr Versuch, sich daraus zu befreien, wird zu einem dramatischen Überlebenskampf.

Mit seinem jüngsten Buch hat der Autor, Journalist und Herausgeber Hans Jürgen Kugler einen kleinen, feinen Roman geschrieben. Klein, weil er nur 180 Seiten umfasst, aus einem einzigen Blickwinkel – dem der Hauptfigur – geschrieben ist und sich regional auf wenige Schauplätze konzentriert. Fein, weil er in Sachen Story, Sprache und Stil zu begeistern weiß.

Die Handlung wird lange ausschließlich aus Daniels Sicht wiedergegeben – und sie erschöpft sich nicht in dem oben beschriebenen Plot. “Von Zeit zu Zeit” erzählt nämlich auch die Geschichte eines Mannes, der anspruchslos und selbstzufrieden ist und dem Neugier und Abenteuerlust abhandengekommen sind; der lange alleine gelebt hat und dem es deshalb schwerfällt, unbefangen auf andere zuzugehen. Als er seine Jugendliebe wieder trifft und sie ihm Avancen macht, werden ihm seine Defizite bewusst. Die gemeinsame Fahrradtour im französischen Jura weckt in ihm den Wunsch, sein Leben zu ändern. Doch das fällt ihm schwer. Es ist streckenweise geradezu quälend zu lesen, wie Daniel sich beim Versuch, Iris näherzukommen, immer wieder selbst im Weg steht.

Das albtraumhafte Erlebnis der Zeitanomalie einerseits und Daniels Hoffnung auf Veränderung andererseits bieten zahlreiche Anlässe für Gedanken und Gespräche über die Zeit, über die Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf das Heute, über verpasste Gelegenheiten und neue Chancen. Die Reflexionen, die den Roman durchziehen, umfassen nicht nur Daniels und Iris´ Leben, sondern auch das ihrer ganzen früheren Clique aus Villingen.

Erst im letzten Drittel weitet das Buch den Blickwinkel: auf die Flugverkehrsleitung in Zürich, wo “Normalzeit” herrscht, und auf eine Passagiermaschine im Luftraum über dem Protagonisten, die in der Zeitanomalie festhängt – und der dasselbe Schicksal droht wie den Fledermäusen. Dadurch werden die Gefahren, die ein großes “Zeitverzögerungsfeld” darstellt, auf dramatische Weise deutlich gemacht.

Die schüchterne Liebesbeziehung, die sich langsam entfaltet, ist einfühlsam entwickelt – wenn auch nur aus Daniels Sicht dargestellt. Die Dialoge sind lebensnah und wirken nie verkünstelt. Zu den faszinierendsten Passagen gehören die, in denen Kugler die Zeitverzögerungsphänomene beschreibt: die Kälte in geschlossenen Räumen, die Beschaffenheit von Wasser in seinen vielen Erscheinungsformen, die Gefahren, die von Blättern, Grashalmen und Insekten ausgehen, und die Probleme damit, Nahrung zu sich zu nehmen.

Die Schauplätze des Romans sind Freiburg im Breisgau und die Gegend rund um Überlingen. Kugler versteht es, die Eigenart und Atmosphäre der Schwarzwaldmetropole und der Bodenseeregion in vielen Details einzufangen.

Eine weitere Stärke dieses durchweg lesenswerten Buchs ist sein Ende: Der Autor verzichtet auf eine detaillierte physikalische Erklärung des Zeitphänomens und belässt es bei einer Andeutung, die er Tobias´ Frau, einer Teilchenphysikerin, in den Mund legt. Was den Protagonisten selbst betrifft, überraschen die letzten Seiten, denn bei aller der Gefahrensituation angemessenen Tragik gibt es zumindest für Daniel und Iris eine versöhnliche Lösung.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität:

Rezension: “Exploit – Information ist nicht umsonst” von Ralph Mayr

Nathan Long ist der CEO des Software-Unternehmens Veridical. Die Firma, die er zusammen mit seinem Freund Jacob Dragos gegründet hat, ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Das ist beabsichtigt und einer der Gründe für ihren Erfolg. Veridical hat nämlich eine komplexe Bild- und Videoanalyse-Software entwickelt, und diese wird von Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitskräften rund um den Globus eingesetzt, um für “Recht und Ordnung” zu sorgen.

Auf einer Geschäftsreise durch Südostasien wird Nathan mit einem Video konfrontiert: Darin wirft man ihm vor, dass Veridicals Produkte manipulierbar seien. Sie würden von Kunden missbraucht, um Dissidenten zu verfolgen, Oppositionelle mundtot zu machen und unliebsame Minderheiten zu kriminalisieren. Diese Vorwürfe – von einem Hacker-Kollektiv über WikiLeaks verbreitet – wachsen sich zu einer handfesten Erpressung aus: Veridical soll die Manipulierbarkeit der Software öffentlich zugeben. Während Nathan fieberhaft überlegt, was er noch tun kann, um seine Firma zu retten, sieht er sich plötzlich vom chinesischen Geheimdienst bedroht…

Der Roman “Exploit” fährt einige Thriller-Elemente auf: ein unbescholtener Mann, der zwischen die Fronten zweier bedrohlicher Mächte gerät; ein Dissident auf der Flucht; geheimnisvolle Hacker versus skrupellose Geheimdienstleute; treue Mitarbeiter, die sich als Maulwürfe entpuppen und sensible Firmendaten gestohlen haben. Das Buch bietet ein Set interessanter Nebenfiguren, allen voran die junge Software-Entwicklerin Ashlee, die, obwohl sie bei Veridical als “perfect fit” gilt, an ihrer Arbeit zu zweifeln beginnt. Positiv auch, dass selbst komplexe Technologien dem Leser in einfachen Worten verständlich gemacht werden. Die zeitgeschichtlichen Bezüge und die Beispiele für den Missbrauch der innovativen Technologie in Ländern wie China, Japan, Singapur, Rußland und Polen sind ebenfalls sehr gelungen..

Nicht zuletzt wirft das Buch eine Reihe wichtiger Fragen auf: Welche Verantwortung trägt ein Software-Unternehmen für den Verkauf und den Einsatz seiner Produkte? Ist es richtig, dass eine solche Firma im Geheimen agiert? Und welche Verantwortung haben die einzelnen Mitarbeitenden, die für das Unternehmen programmieren? Reicht es, aktiv daran mitzuwirken, dass die Software keine Fehler oder Angriffspunkte aufweist?

Dem einen oder anderen Leser mögen diese Fragen (und die im Buch gegebenen Antworten) egal sein. Manche – wie Nathan – stellen sie sich vielleicht zum ersten Mal. Nun ist es aber so, dass die Verantwortung von Wissenschaft und Forschung, das kritische Hinterfragen der eigenen Arbeit und die Analyse möglicher Folgen seit dem Bau der Atombombe breit diskutiert werden. In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass die Forschung nicht nur die Folgen ihres Handelns reflektieren, sondern auch die Bevölkerung transparent über aktuelle Projekte und deren Finanzierung informieren muss. Dieselbe Diskussion findet in Politik und Gesellschaft statt, und sie beschränkt sich schon lange nicht mehr auf Waffentechnik, sondern umfasst zum Beispiel auch die Gentechnik und Big-Data-Technologien. Nicht umsonst schließen die Außenwirtschaftsgesetze der meisten westlichen Staaten Kontrollen und Beschränkungen aller Technologien mit ein, die zur internen Repression oder anderen Menschenrechtsverletzungen beitragen könnten.

Vor diesem Hintergrund wirken die Dialoge wie auch das Verhalten der meisten Figuren sehr naiv. Ihr Erstaunen darüber, dass ihre Produkte von einzelnen Regierungen und Behörden missbraucht werden (können), ist selbst für Software-Entwickler ziemlich unglaubwürdig.

Dazu kommt, dass sich bei dem als “Thriller” titulierten Roman echte Spannung erst relativ spät einstellt. Das liegt unter anderem daran, dass ein großer Teil der Handlung an Nathans Laptop stattfindet. Doch auch die Konstruktion der einzelnen Handlungsstränge ist nicht immer gelungen. So zeigen einige der Szenen mit dem geflohenen Dissidenten wenig mehr als das, was der Leser anderswo gerade erst erfahren hat.

Die größte Schwäche des Buchs sind der Stil und die Sprache. Hier hätte man sich vom Lektorat mehr Aufmerksamkeit gewünscht. “Exploit” ist flüssig geschrieben, es gibt aber eine Menge überflüssige Adjektive und Füllwörter, und die Formulierungen sind bisweilen etwas umständlich geraten, zum Beispiel wenn etwas auf dem Bildschirm “zunehmend deutlich erkennbar” wird. Die Dialoge wirken immer wieder hölzern, und manche Gedankensprünge seltsam unmotiviert. Noch dazu strotzt die Sprache der Figuren vor Allgemeinplätzen und abgedroschenen Redewendungen.

Während man über einzelne Rechtschreib- und Grammatikfehler leicht hinweglesen kann, fällt es einem bei schrägen Bildern und Formulierungen schon schwerer, zum Beispiel wenn es einer Figur “den Appetit verwirkt” oder wenn ein Bild “krachend” von der Wand fällt (statt auf dem Boden aufzuschlagen). Als deutscher Leser stolpert man außerdem über Wörter wie “verunfallt”, “angriffig”, “nießen”, “ungustiös” und “Einvernahme”. Es sind österreichische Dialektwörter und Amtssprache, die sich im Roman bis in die wörtliche Rede der englischsprachigen Figuren ziehen.

Ein Lichtblick in sprachlicher Hinsicht sind die englischen Wörter und Wendungen, die Ashlee gerne benutzt und die so typisch für die junge, hippe IT-Szene sind. Doch im zweiten Teil des Buchs übertreibt es der Autor mit dem “creepy”, “indeed” und “for real” so sehr, dass Ashlee ungewollt zu einer Karikatur wird.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität:

Rezension: “Eines Menschen Flügel” von Andreas Eschbach

Owen aus dem Nest der Ris gelingt es Kraft seiner eigenen Flugkünste und mit Hilfe einer selbst gebauten Rakete, den Himmel zu durchstoßen und die Sterne zu sehen. Als er Jahre später endlich davon erzählt, kommen Menschen aus allen Teilen der bekannten Welt geflogen, um die Geschichte zu hören. Das macht eine im Geheimen wirkende Bruderschaft auf ihn aufmerksam, und sie nährt Zweifel an seinen Worten. Owen sieht sich gezwungen, den Flug zu wiederholen, und stirbt bei dem Versuch. Sein Sohn Oris schwört, den Namen seines Vaters reinzuwaschen. Zusammen mit einigen Freunden macht er sich auf die Suche nach den Verantwortlichen. Die jungen Leute decken nicht nur die geheime Agenda der Bruderschaft Pihrs auf, sondern finden auch das Raumschiff, mit dem ihre Vorfahren einst auf dem Planeten gelandet sind. Eine Verkettung unglücklicher Umstände macht die Prospektoren des galaktischen Imperators auf sie aufmerksam – mit fürchterlichen Folgen.

Andreas Eschbachs Entwurf der fremden Welt und der Gesellschaftsordnung der sie bevölkernden Stämme ist überaus detailreich und überzeugend. Diese Welt – paradiesisch und doch voller Gefahren – besteht im Wesentlichen aus einem großen Kontinent und ein paar Inseln. Sie ist von 33 Stämmen besiedelt, die größtenteils in sogenannten “Nestern”, kleinen Hüttendörfern in riesenhaften Bäumen, leben, denn im Erdreich lauert der “Margor”. Was die geflügelten Menschen nicht im Wald und im Meer an Nahrung finden, bauen sie an. Außerdem gibt es Vieh, die “Hiibus”, die mit Pfeil und Bogen gejagt werden. Es ist eine nachhaltig lebende, vorindustrielle Gesellschaft, in der man zwar Metall abbaut, aber nur einfache Öfen und kaum Werkzeuge besitzt. Überhaupt umfasst das persönliche Eigentum wenige Dinge. Vielmehr tragen alle – je nach Begabung und Neigung – ihren Teil zum Wohl des eigenen Nests und der Allgemeinheit bei. Wichtige Entscheidungen werden von der oder dem Ältesten und von regionalen Räten getroffen.

Im Verlauf der Handlung erfährt der Leser, dass die gesellschaftliche Ordnung von den “Ahnen”, den ersten Siedlern, festgelegt wurde. Vor über 1000 Jahren hatten diese eine Diktatur heraufziehen sehen und weit außerhalb der bewohnten Gebiete unserer Galaxis eine neue Heimat gesucht. In den Büchern, die sie ihren genetisch veränderten Nachkommen hinterließen, stellten sie detaillierte Regeln auf, die diese seitdem von klein auf studieren und befolgen. Es gibt Bücher über das Zusammenleben, die Natur, den Handel und die Heilkunst, außerdem solche mit Liedern, Theaterstücken und viele mehr. Die Anhänger der Lehren Pihrs sorgen heimlich dafür, dass die Gesellschaft bleibt, wie sie ist, indem sie den technischen Fortschritt ausbremsen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen ahnden.

So überzeugend, wie Eschbachs “Worldbuilding” auch ist, stellen sich beim Lesen schnell Irritationen ein. Das liegt zum einen am Schauplatz selbst: In dieser einfachen Gesellschaft, in der selten Aufsehenerregendes passiert, drehen sich die Gespräche um das immer Gleiche: die Arbeit, das Wetter, das Essen, Liebschaften, Partner und Kinder. Und obwohl der Erzähler sich zumeist auf das Besondere an den Figuren konzentriert, etwa auf ihre Handwerkskunst, wird das wiederholte Wer-liebt-Wen – glücklich oder nicht – nach dem ersten Dutzend an Lebensgeschichten ermüdend. Dazu kommt, dass einige der Figuren, die die Haupthandlung vorantreiben, recht holzschnittartig geraten sind: Oris stets zielgerichtet und furchtlos, Bassaris stark und treu; und so wie Luchwen immer Hunger hat, bleibt Hargon über weite Strecken des Buchs ein verantwortungsscheuer Hedonist.

Eschbach ist ein großartiger Erzähler. Er pflegt einen sehr lebendigen, geradezu poetischen Erzählstil. Das macht seine Bücher zu einem großen Lesevergnügen, das bei “Eines Menschen Flügel” durch die allzu große Detailverliebtheit des Autors nur leicht getrübt wird. Gelungen sind auch die vielen Sprichwörter und Redewendungen, die sich um die anatomische Besonderheit der Figuren drehen. Dagegen stellt man sich unweigerlich die Frage, wie es kommt, dass alle Bewohner dieser Welt in den ihnen gewidmeten Kapiteln die gleiche “schöne” Sprache sprechen wie der Erzähler selbst. Von der im Buch behaupteten Vielfalt kaum eine Spur – im Gegenteil: Die gehobene Sprache reicht bis in die wörtliche Rede. “Ist gar niemand da?”, fragt eine Frau bei einem privaten Besuch unter Freunden. Man mag es nicht so recht glauben, dass diese Ausdrucksweise auf das Studium der Bücher der Ahnen zurückzuführen ist.

Die von Eschbach erdachte Gesellschaft zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass alle – wie der Pilot Dschonn anmerkt – ungewöhnlich “freundlich” sind. Sie ist auch sehr demokratisch organisiert. Jeder und Jede ist etwas Besonderes, und alle tragen etwas zum großen Ganzen bei, sei es ein Segelboot, eine neue Farbe für die Signalraketen oder auch nur ein neues Gewürz. Dieses demokratische Prinzip zieht sich durch unzählige Handlungsdetails. Mehr noch: Andreas Eschbach macht es zum Grundprinzip seiner komplexen Romanstruktur.

“Eines Menschen Flügel” hat nicht zwei oder fünf Protagonisten, sondern überrascht den Leser mit knapp 30 Figuren. Jeder von ihnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Das können zehn oder auch 50, 60 Seiten sein. Am Ende des Kapitels wechselt die Perspektive, und eine andere, stets neue Figur übernimmt die Erzählung. Das funktioniert zunächst ganz gut, vor allem dort, wo es sich um Oris´ Gruppe und die Agenten der Bruderschaft handelt. Denn diese “Geschichten in der Geschichte” tragen nicht nur eine andere Perspektive bei, sondern auch Neues zum Fortlauf der Haupthandlung. Eschbach hat das Ganze überaus geschickt konstruiert. Selbst die bis dahin unbekannten Figuren sind irgendwie mit den bereits bekannten verwandt oder anderswie verbunden – wenn nicht mit den oben Genannten, dann zumindest mit einer Nebenfigur. Manchmal stehen sie auch stellvertretend für eine ganze Gruppe, die sich später als wichtig erweisen wird, etwa der “Verkünder” Efas (zunächst) für die Apokalyptiker oder Maheit für die Skeptiker.

Eschbach baut diese Geschichten gleichwertig in die Haupthandlung ein. Dabei nimmt er in Kauf, dass sie diese im Verlauf des Romans immer wieder ausbremsen. Meistens erfährt man darin (erneut) viele Details aus dem Leben einer Figur und lernt ihr Umfeld – ein neues Nest und eine neue Gegend – kennen. Am Ende so manchen Kapitels ist man aber unweigerlich enttäuscht, weil es nur Bekanntes variiert, mit wenig neuen Erkenntnissen aufgewartet oder kaum zur Haupthandlung beigetragen hat.

Insofern hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Es ist ohne Zweifel ein stilistisch herausragender Roman mit einem stimmigen, in seinem Detailreichtum geradezu grandiosen Weltentwurf. Wer die langen “Geschichten in der Geschichte” aber nicht mag, der wird ihn wohl als grandios gescheitert ansehen.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität:

Rezension: “Kleiner Drache” von Norbert Stöbe

Wei Xialong leitet den Pekinger Premium-Store “Himmlische Geschöpfe”, der lebensechte Roboter verkauft. Als Tochter der Firmenleiterin wurde sie von Kindheit an für die Spitzenfunktion im Unternehmen trainiert. Ihre Karriere erscheint ihr vorgezeichnet. Bis zu dem Tag, an dem ihr digitaler Assistent eine Reihe an Fehlfunktionen hat. Zu Hause entgeht die junge Frau nur knapp einem Anschlag. Und als ein Klon Xialongs Platz im Geschäft einnimmt, wird nach ihr gefahndet (Nebenbei bemerkt: eine originelle Variante des Themas Identitätsdiebstahl). Zusammen mit dem weiblichen Sexroboter Litse, den sie im Laden stehlen kann, flieht sie in eine Kleinstadt in der Grenzregion zu Myanmar. Mithilfe eines Schleusers gelingt es den beiden, die streng überwachte Grenze zu überwinden.

Die Männer, die Xialong aufgreifen, verkaufen sie als Arbeitssklavin nach Bangladesch, an eine Werft, in der alte Schiffe abgewrackt werden. Monate später kann sie sich freikaufen und übernimmt im nahen Space-Center einen Laden. Im Space-Market wird modernste Technik der Mondkolonie gehandelt. Dort führt sie den Aufstand der Händler gegen das Syndikat an, das den Markt kontrolliert. Nach dem Sieg wird er der Startpunkt für Xialongs Rückkehr nach Peking. Sie hat nun Macht und Kapital, kontrolliert den lokalen Netzknoten und hat sich zudem eine junge Hackergruppe verpflichtet. So gerüstet wagt sie es – vier Jahre nach ihrer Flucht –, den Kampf gegen ihre Klonschwester aufzunehmen.

Weiterlesen

Rezension: “Salzgras & Lavendel” von Gabriele Behrend

Douglas Hewitt ist in der Verwaltung von Acodis Inc. als “Datenarchäologe” tätig. Kaynee Simmons arbeitet im “Zenith”, einem Traumazentrum außerhalb der Stadt. Douglas ist im Ghetto unter “Wilden” geboren, die sich kein Implantat und “Persönlichkeitsset” leisten können. Nachdem er zur Waise wurde, erhielt er im Heim zumindest ein “Basisset”, das ihm ein sozialverträgliches Verhalten ermöglichen sollte. Kaynee dagegen hat ihr “Socket” gleich nach der Geburt implantiert bekommen und switcht nach Bedarf und Situation zwischen den vielen “Abspaltungen” ihrer künstlich erzeugten multiplen Persönlichkeit hin und her.

Die beiden leben im Zeitalter der “Effizienzdiversität”. Die in der Regel postnatal eingesetzten Implantate haben eine Gesellschaft hervorgebracht, die auf Effizienz getrimmt ist. Die Technik, die aus der Gamer-Szene hervorging, führte nicht nur zu einer Leistungssteigerung jedes Einzelnen, sondern ermöglicht es der großen Mehrheit auch, auf alle nur denkbaren Situation angemessen zu reagieren. So “kommen alle viel besser miteinander aus”, findet Kaynee.

Doch der äußere Schein trügt. Douglas zum Beispiel führt ein einsames und eintöniges Leben. Er wird von Ängsten und Zweifeln geplagt, die ihn bis in seine Träume verfolgen. Und dann begeht er – scheinbar aus heiterem Himmel – einen Mord. Um der Haft zu entgehen, bleibt ihm nur der Ausweg, sich ebenfalls eine multiple Persönlichkeit implantieren zu lassen. Im “Zenith” trifft er auf Kaynee, die seine “Patin” wird – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ihre Hardware Fehler aufweist und sie die Kontrolle über sich verliert.

“Salzgras & Lavendel” spielt an einem unbestimmten Ort in der Zukunft, an dem “alles seinen ruhigen Gang” geht, während die Welt ringsum “an allen Ecken und Enden brennt”. Die Autorin streut nur wenige Hinweise auf klimatische Veränderungen und auf den technischen Fortschritt ein. Sie konzentriert sich auf die Frage, wie eine Gesellschaft aussähe, in der technische “Aufspaltungen” der Persönlichkeit – “neuronale Cluster” genannt – die Regel sind. Indem man Katy, Keira, Kandy, Kassy und Kaynees andere “Splits” in Aktion erlebt, hat man bereits nach wenigen Seiten einen lebhaften Eindruck davon, wie die Menschen im Alltag damit umgehen.

Am Beispiel von Douglas zeigt Gabriele Behrend, dass diese Technik für Menschen mit schweren Traumata ein Segen sein kann. Auf der anderen Seite stellt das Buch kritische Fragen: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn eine solche Technik zur Norm wird, sie sich aber nicht jeder leisten kann? Wenn der öffentliche Frieden gefördert wird, aber niemand mehr eingreift, um Verbrechen zu verhindern? Was passiert, wenn die Technik versagt oder Fehler in ihrer Anwendung passieren? Wie würde der Staat reagieren, wenn ein Dogma ins Wanken gerät? Was die multiplen Persönlichkeiten betrifft, läuft der Roman auf die Frage hinaus, ob eine Separation – wie Kaynees “geordnetes Haus” – oder die Fusion der einzelnen Ich-Aspekte die richtige Antwort ist, um ein glückliches Leben zu führen.

Das alles packt die Autorin in eine Geschichte, die weder trocken noch langweilig ist. Dafür sorgen unter anderem die Nebenfiguren: der Techniker Sanders Mayerhoff, der neben seiner Arbeit im “Zenith” geheime Experimente durchführt und eifersüchtig auf Douglas ist; und Claire Paulson, die Leiterin des Traumazentrums, die als Spezialistin für “adulte Diversität” gilt – und die am bittersüßen Ende des Romans auf ganz unerwartete Weise zu Douglas’ Retterin wird.

Hier und da ist der Autorin beim Schreiben die Fantasie durchgegangen. Ein Meeting aller Ich-Aspekte im eigenen Kopf? Und im Kopf einer anderen Person? Das sind großartige Szenen, die noch dazu perfekt in die Dramaturgie passen. Sie erscheinen jedoch übertrieben.

In Stil und Sprache ragt das Buch deutlich aus der Masse der Science-Fiction-Literatur heraus. Die Verwendung des Präsens schafft eine große Nähe zu den Protagonisten. Mit einfachen Mitteln gelingt es der Autorin jederzeit, den Leser durch die vielen Ich-Aspekte der Figuren zu lotsen, so dass man immer genau weiß, mit welchem man es gerade zu tun hat.

Für die zentrale Frage des Buchs – Separation oder Fusion? – findet Gabriele Behrend starke Bilder. Eine eindeutige Antwort sucht man vergebens. Wahrscheinlich, weil es keine gibt.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum:

Rezension: “Unter den Sternen von Tha” von Heribert Kurth

Knapp 500.000 Jahre in der Zukunft: Unser Heimatuniversum ist erforscht und besiedelt, außer uns gibt es darin kein intelligentes Leben. Eine rätselhafte fremde Rasse, die aus einem Nachbaruniversum stammen muss, beauftragt den Navigator Ttrebi H*tr damit, die Geschichte der Menschheit zu protokollieren. Um den Auftrag abzuschließen, erhält er das Privileg, ein Jahr auf dem streng geschützten Planeten Tha zu verbringen. Dort gelangt er – unter dem Einfluss der Blüten einer heimischen Pflanze – zu ganz neuen Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen den Entdeckungen und Erfindungen der menschlichen Rasse und ihren (möglichen) religiösen Voraussetzungen.

Das Debüt von Heribert Kurth lässt sich in keine bekannte Schublade packen. Wer Action oder gar Space Opera erwartet, wird mit Sicherheit maßlos enttäuscht. Das Buch ist ein Protokoll, noch dazu ein Fragment, das nicht weniger als knapp 500 Jahrtausende umfasst. Der Protagonist Ttrebi H*tr nimmt den “geneigten Leser” fest an die Hand und führt ihn durch eine weitgehend chronologische Auflistung der wichtigsten Ereignisse. Das Spektrum reicht von kurzen Einträgen bis zu mehrseitigen Abhandlungen: vom Fund seltener Erden auf dem Mars über die Entdeckung der “Parallelkörper” in der “Terunalzone” bis zum Bau “dunkler Energiekollektoren” und “Sekundärlichtrezeptoren” – wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Entwicklungen, die nicht nur überlichtschnelles Reisen ermöglichen, sondern der Menschheit sogar Blicke in die Vergangenheit erlauben.

Ein “Protokoll” ist die denkbar unattraktivste Form, eine spannende Geschichte zu präsentieren. Es ist der blühenden Phantasie des Autors zu verdanken, dass diese “Zukunftsgeschichte der Menschheit” stets unterhaltsam bleibt. Aufgelockert wird sie zudem von Ttrebi H*trs persönlichen, oft philosophischen Reflexionen. Er weiß den Leser auf die Folter zu spannen, indem er wichtige Ereignisse und Erkenntnisse erst später, an passender Stelle berichtet. So wird zum Beispiel nach und nach immer mehr über seine Auftraggeber bekannt. Und es wird eine rote Linie deutlich, nämlich dass alle intelligenten Rassen von der Neugier getrieben immer neue Grenzen überschreiten, um Antworten auf die grundlegenden Fragen zu erhalten: nach dem Ursprung ihrer Schöpfung und dem Sinn ihrer Existenz. (Die Antworten, die das Buch selbst gibt, kann man mögen oder auch nicht.)

Der Stil und die Sprache dieser “Niederschrift” sind so außergewöhnlich wie ihr Thema. Der Leser ist mit opulenten Satzgebilden, einer sehr gewählten Ausdrucksweise und vielen Übertreibungen und Superlativen konfrontiert. Diesen Stil, der ein wenig an längst vergangene Zeiten erinnert, mag nicht jeder als “passend” empfinden. Aber wer weiß schon, wie sich unsere Nachkommen im Jahr 500000 ausdrücken werden.

Unterhaltung:
Anspruch:

Ideenreichtum: