Streitgespräch 2: Gibt es überhaupt so etwas wie “deutsche SF”?

Neulich trafen sich Uwe und ich wieder mal im Virtua Inn auf ein oder zwei virtuelle Biere und schwadronierten über dies und das. Irgendwie kamen wir dabei auf dieses Thema:

Gibt es überhaupt so etwas wie „deutsche SF“?

up: Jawollja, es gibt “deutsche” SF. Es meint die SF, die von neuen deutschen Autoren produziert wird, die eine eigene Sprache gefunden haben, und eigene Themen. Deutsche SF gibt es genauso wie es amerikanische gibt und wie es, äh, saudi-arabische so gut wie nicht gibt.

sk: Natürlich, das bestreitet ja auch niemand. Aber schon das Wort “Sciencefiction” kommt aus dem englischen Sprachraum, weist also deutlich auf eine enge Verwandtschaft mit dieser Sprache hin. Ist doch wohl klar, dass man sich als deutscher SF-Schreiber- oder -leserling frägt, ob es hierzulande überhaupt sinnvoll ist, sich mit dem Thema zu beschäftigen, wo doch fast alles aus Übersee importiert wird. Es ist meiner Meinung nach auch eine Generationenfrage. Wie wollen wir Nachwuchs in die “Szene” locken, ohne gleich mit USArgumenten daherzukommen?

up: Wir sagen bloß Science-Fiction, weil es der übliche Aufkleber ist. Dabei ist der Begriff genauso unzutreffend wie Zukunftsroman oder Spekulative Fiktion (der trifft noch am häufigsten ins Schwarze). Die Historie der SF ist stark mit der Technologiegläubigkeit im Amerika des 20. Jahrhunderts verbunden. Aber von Vertrauen in Technologie kann insbesondere in Deutschland keine Rede mehr sein. In kaum einer Hinsicht sind die USA noch leuchtendes Vorbild. Die europäische, die deutsche SF hat sich emanzipiert. Klar gibt’s immer noch rasende Raumschiffe, und daran ist nichts falsches. Aber die mitteleuropäische Gesellschaft interessiert sich auch für regionsspezifische Themen – und die kann Amiland naturgemäß nicht bieten. Da kommt mit “Julian Comstock” ein wirklich tolles Werk über ein fiktives Amerika im 22. Jahrhundert… das ist interessant, ja! Aber wäre nicht ein gutes Buch über ein fiktives Deutschland im 22. Jahrhundert noch viel spannender für Leser hierzulande?

sk: Du gibst ja selbst zu, dass Science Fiction im 20. Jahrhundert  hauptsächlich in den USA entstand und ähnlichen Gesellschaftssystemen (Kanada, Australien, …). Also gibt es schon mal ganz klar “amerikanische SF”. Die Frage war ja, ob es “deutsche SF” gibt. Überlegen wir mal: Welche Kriterien könnten die verschiedenen Richtungen denn trennen? Ist es lediglich der Schauplatz von Storys, oder vielleicht das Wertesystem, das den fiktiven Gesellschaften innewohnt? Oder bloß die Herkunft der Autoren? Letzteres halte ich für unangemessen. Ich würde Ronald Hahns “Socialdemokraten auf dem Monde” zum Beispiel ganz klar der “deutschen SF” zuordnen. In meinen MegaFusion-Storys versuche ich immer, eine möglichst große Bandbreite an Personen und Orten aufzuzeigen. Natürlich überwiegt der spanische und englische Sprachraum, aber Deutschland möchte ich nicht ausschließen. Wie ist es eigentlich bei dir? Ich habe in deinen “Bikepunks” von einem postnuklearen Ruhrgebiet gelesen. Schreibst du eigentlich häufiger “deutsche SF”? Deinem Argument “Technologieungläubigkeit” kann ich übrigens ganz und gar nicht zustimmen. Denn wir sind gläubiger denn je. So sehr, dass sich unsere Gläubiger vor unserer Haustür versammeln, mit ihren Handyrechnungen winken und Inkassoparolen gegen uns anstimmen. Und ja – natürlich wäre ein Buch über ein fiktives Deutschland interessant. Aber verkauft sich das auch? Kommt wohl drauf an wer es schreibt …

Die Duellanten bitten zum Tanz ...

up: Mit einem inhärenten Wertesystem wäre ich sehr, sehr vorsichtig. Was soll denn das sein, ein “deutsches Wertesystem”? Ich hoffe doch sehr, dass es dergleichen überhaupt nicht gibt! Es gibt bestenfalls Tendenzen, die Deutschen gerne zugewiesen werden: Nörgelei, preußische Genauigkeit… ob sowas erbauliche Themen für SF-Texte sind, wage ich aber zu bezweifeln. Die äußerste Klammer ist trivial: Jedes in deutscher Sprache verfasste SF-Werk ist “deutsche SF”. Darüber hinaus … vielleicht könnte man zusätzlich in Deutschland spielende Werke als “regionale deutsche SF” bezeichnen. Wer in Deutschland lebt, kennt sich hier vergleichsweise gut aus und vermag vielleicht eine besonders authentische Atmosphäre zu vermitteln. Authentischer als wenn er einen Plot im Mittleren Westen ansiedelt und nie dort war, sondern nur ein paar TV-Serien geguckt hat. Deshalb spielt mein “Noware” in Düsseldorf und “Bikepunks” in Bochum. Mal sehen, wo der Schluss dieser Trilogie stattfindet … Aber Lokalkolorit ist genausowenig ein Muss wie spezifisch deutsche Themen (was immer das sein mag). Es kann ohnehin nicht an uns sein, Vorgaben für Autoren zu machen. Die sollen gefälligst schreiben, wie ihnen die Schnauze gewachsen ist! Was ich persönlich mir wünsche, ist aber eine bewusste Abkehr von Standards, die von der amerikanischen Unterhaltungsindustrie geprägt wurden und werden. Es gibt noch andere Themen als Alien-Invasionen, Verschwörungstheorien und Generationsraumschiffe in Schwierigkeiten. Möglicherweise gibt es Nischen, die ausländische Autoren auf dem hiesigen Markt schlicht und einfach nicht besetzen können – die also für deutsche Autoren frei sind.

sk: Ja, ja, die deutschen Tugenden … Wie gern erinnere ich mich noch daran, dass ich mir vor und nach jeder Mahlzeit die Hände waschen soll! Vielleicht gibt es irgendwo da draußen ja auch einen Planeten, auf dem alle nach diesen gut gemeinten Ratschlägen leben. De facto und realpolitisch bedeutet Deutschsein aber hauptsächlich, die eigenen Territorialansprüche zu verteidigen – vor Aliens, Zombies, Terroristenstaaten, was auch immer. Dazu kommen die Werte des goldenen Zeitalters (18./19. Jh.), die du hier nicht einfach so totschweigen kannst. Humanistische Werte wie Toleranz und Mitmenschlichkeit bildeten doch erst die Grundlage für unsere modernen Demokratien. Und in Ländern wie Deutschland (oder damals noch dem Hl. Römischen Reich Deutscher Nation) und Frankreich sind diese prägend entstanden. Insofern gibt es sehr wohl ein urdeutsches (von mir aus auch europäisches) Wertesystem. Neu hinzugekommen sind in meinen Augen noch Weltoffenheit und eine gewisse Leidensfähigkeit, wenn es darum geht, die Unwissenheit von anderen zu ertragen. Mit “regionale deutsche SF” wäre ich auch vorsichtig – denn dass es zig unterschiedliche Regionen allein in Deutschland gibt, ist ja wohl offensichtlich. Daraus würde dann ein Sammelsurium unterschiedlichster Inhalte, die zwar “rheinisch”, “bayrisch” oder “norddeutsch” sind, aber nicht im geringsten deutsch – oder siehst du das anders? Einigen wir uns doch auf Deutschland als Handlungsort. Das ist ja schon mal was. Wie im SF-Netzwerk schon einmal richtig erwähnt wurde, schlägt das lokalkolorisierte Herz ja schon viel höher, wenn der Kölner Dom in die Luft gesprengt wird als wenn irgendwo in Bangladesch eine Brücke einstürzt. So. Und wer überzeugt jetzt unsere Top-SF-Autoren, mal etwas in Deutschland spielen zu lassen?

up: Die Leser. Leser, die dergleichen fordern. Die gibt’s aber kaum, denn sie nehmen, was ihnen angeboten wird. Was auch sonst? Der Buchmarkt ist längst nicht so weit wie der Musikmarkt, wo es via Netz oft einen direkten Draht zwischen Künstlern und Fans gibt. Ich denke, dass sich dergleichen auch bei Büchern so entwickelt. Viele Autoren haben Facebook-Seiten. Zwar wird dort selten konstruktives abgesondert, das über eine virtuelle Verbeugung hinausgeht, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Und weil einer ja anfangen muss, schreibe ich gerade mal wieder einen Roman, der hierzulande spielt (“Symbiose” tut’s ja zum Teil auch). Es kommt gar nicht so sehr aufs Wertesystem an. Welcher Leser würde schon nach der Lektüre eines Romans das Fazit ziehen: Oh, hier wird aber deutlich auf das typisch deutsche Wertesystem Bezug genommen! Wenn, dann funktioniert das nur beim Aufeinandertreffen mit einem anderen: Wenn beispielsweise die Chinesen ankommen und fragen, wann wir denn endlich die kapitalistische Diktatur nach ihrem Vorbild einführen. Was übrigens, wenn ich mich nicht irre, so ähnlich vor ein paar Tagen den Amis passiert ist … aber das ist ein Thema für ein anderes Streitgespräch.