Uwe Post, Chefredakteur von dsf und mehrfach ausgezeichneter SF-Autor, hat die meisten 2012 erschienenen Kurzgeschichten gelesen und fasst seine Erkenntnisse zusammen.
Wie in jedem Jahr erschien 2012 eine schier unüberschaubere Anzahl Science-Fiction-Kurzgeschichen. Beinahe historisch kann man allerdings die Tatsache nennen, dass der Wurdack-Verlag diesmal die sonst übliche (und beliebte) Anthologie ausfallen ließ. Dafür holte der bis vor einem Jahr fast unbekannte Begedia-Verlag den Deutschen Phantastik-Preis mit einer SF-Story der Österreicherin Nina Horvath. Die deutsche SF-Szene ist auch im Hinblick auf Kurzgeschichten lebendig und dynamisch – Grund genug für einen ausführlichen Jahresrückblick.
Der beginnt allerdings nicht mit aktuellen Kurzgeschichten, sondern mit einer historischen Aufarbeitung. Dieses Jahr erschien nämlich unter dem Titel »Die Stille nach dem Ton« eine Zusammenstellung aller Geschichten, die den Deutschen Science Fiction Preis (bzw. dessen Vorgänger, den SFCD-Literaturpreis) gewonnen haben. Man kann gar nicht genug würdigen, was die Herausgeber Ralf Boldt und Wolfgang Jeschke da geleistet haben. Das in jeder Hinsicht monumentale Buch ist bei p.machinery erschienen und sollte in keiner Sammlung fehlen. Angesichts der geballten Ladung deutscher Qualitäts-SF auf fast 400 Seiten akzeptiert man gerne die etwas klein geratene Schrift und erfreut sich an äußeren und inneren Werten dieses außergewöhnlichen Bandes.
Richtig ist, dass 2012 so gut wie keine klassischen SF-Anthologien erschienen. Dafür besannen sich die Szeneverlage auf die Qualitäten ihrer Top-Autoren und brachten bemerkenswerte Sammlungen mit Geschichten namhafter Schriftsteller heraus. Da ist an erster Stelle »Willkommen auf Aurora« von Heidrun Jänchen zu erwähnen. Der Band, der pünktlich zur Auszeichnung der Autorin mit dem Deutschen Science Fiction Preis erschien, enthält neben einigen älteren, überarbeiteten Geschichten hauptsächlich neues Material. Da Jänchen zu den herausragenden deutschen SF-Autorinnen der Gegenwart gehört, darf ihr im Wurdack-Verlag erschienener Erzählband uneingeschränkt empfohlen werden.
Ebenfalls im Wurdack-Verlag erschien unter dem Titel »Die letzten Tage der Ewigkeit« eine Sammlung mit Kurzprosa von Michael K. Iwoleit. Zwar sind die meisten enthaltenen Texte bereits anderswo abgedruckt worden, aber sie sind zum Teil, wie beispielsweise die Titelgeschichte, preisgekrönt, so dass hier SF-Leser, die die jeweilige Erstveröffentlichung verpasst haben, voll auf ihre Kosten kommen. Auch eine völlig neue Geschichte ist im Band enthalten.
Ein dritter namhafter Autor der Szene legte noch kurz vor Ende des Jahres einen Sammelband vor: Frank Hebben. Unter dem Titel »Maschinenkinder« erschienen bei Shayol 13 Erzählungen des wohl sprachgewaltigsten Cyberpunk-Experten Deutschlands. Mit enthalten ist die dystopische Koproduktion »Outage«, die Hebben gemeinsam mit Thorsten Küper und dem Autor dieser Zeilen verfasste. Wen »Prothesengötter«, Hebbens erste Sammlung, begeistert hat, wird von »Maschinenkinder« keinesfalls enttäuscht.
Ebenfalls bei Shayol erschien ein Sammelband mit Geschichten von Marcus Hammerschmitt unter dem Titel »Nachtflug«. Auch dieser Band enthält neben älteren Storys einige bisher unveröffentlichte.
An die Stelle regulärer Anthologien traten in diesem Jahr die Magazine. Neben der gewohnt hochwertig layouteten Ausgabe 29 von EXODUS und dem bunten GOLEM verdient das Magazin NOVA besondere Aufmerksamkeit. Mit Nummer 20 wurde nicht nur das Erscheinungsbild modernisiert. Außerdem wagte das NOVA-Team den Schritt zur professionellen Vermarktung. NOVA 20 war in Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen erhältlich und hat so der deutschen SF zu noch mehr Verbreitung verholfen. Zu diesem Anlass haben die Herausgeber das Who is Who der deutschen SF-Literatur rekrutiert. Es glänzen beispielsweise Michael Marrak in der Disziplin Weltenbau, Marcus Hammerschmitt in der ironischen Social Fiction, Karsten Kruschel mit einer Alternativwelt-Story und Thorsten Küper mit der ihm eigenen tödlichen Konsequenz. NOVA bestätigt mit Ausgabe 20 den Anspruch, den besten und visionärsten deutschen SF-Autoren eine breite Bühne zu bieten.
Reich wird damit freilich niemand. Die deutsche SF-Kurzgeschichte ist ein Zuschussgeschäft von und für Liebhaber. Dessen ungeachtet besteht mit dem c’t-Magazin weiterhin eine einzigartige Plattform, die SF-Autoren ein Honorar zahlt. Da die Leser der c’t und die SF-Szene allerdings weitgehend disjunkte Mengen sind, ist die Aufmerksamkeit weder auf Seiten der Autoren noch auf Seiten der Leser hoch. Zwischen Vielschreibern, deren Werke kaum über Gebrauchsliteratur hinausgehen, finden sich 2012 kaum erwähnenswerte Werke, für die sich die Anschaffung einer c’t-Ausgabe (oder der digitalen Version der jeweiligen Seiten) lohnt. Vielleicht hängt das mit der (unausgesprochenen) Themenvorgabe “Computertechnik” in der c’t zusammen – ein Thema, das in der SF weitgehend abgegrast ist.
Bleiben eine Handvoll Themenanthologien: Freilich verbietet sich dem Autor eine Bewertung des von ihm selbst herausgegebenen Bandes »2012 – T minus Null« (Begedia-Verlag). Erwähnt werden darf, dass einige der darin enthaltenen Geschichten, beispielsweise jene von Karsten Kruschel, klar dem Genre SF zuzuordnen sind (andere gehören eher zur allgemeinen Phantastik), sowie dass das Buch im Widerspruch zum eigenen Titel auch nach dem (ausgefallenen) Weltuntergang erhältlich ist. Auch in “Drachen, Drachen” (Blitz-Verlag) finden sich einige SF-Storys. Eine große Anzahl in kleiner Auflage (oder via BoD) erschienenen Anthologien sei der Vollständigkeit halber erwähnt: »Avatare, Roboter und andere Stellvertreter«, herausgegeben von Susanne O’Connel, sowie »Erinnerungen an Morgen«, eine Steampunk-Sammlung herausgegeben von Alisha Bionda, die mit namhaften Autoren wie Andreas Gruber und Bernd Perplies aufwarten kann. Eine weitere Steampunk-Sammlung sei nicht nur erwähnt, weil sich das Subgenre hoher Beliebtheit erfreut, sondern weil die Herausgeber einen Sonderweg einschlagen: »Chroniken aus dem Æther« erschien als kostenloses eBook unter Creative-Commons-Lizenz.
A propos eBook: Zwangsläufig muss dieser Rückblick das Phänomen »Kindle« außen vor lassen. Die immer noch relativ neue Option der Selbstveröffentlichung auf einer Plattform wie Amazon hat die Zahl publizierter Kurzgeschichten (eingeschlossen solche, die als Romane getarnt sind) explodieren lassen. Was meist fehlt, sind unabhängige (das kann man gar nicht kursiv genug schreiben) Bewertungen. Positive Amazon-Rezensionen sind bekanntlich käuflich (egal ob gegen Geld oder als Freundschaftsdienst). Nicht selten ist die Enttäuschung groß, wenn jemand aufgrund einer solchen Bewertung ein eBook kauft, das sich als Buchstabenverschwendung erweist. Das schlägt sich dann in negativen Bewertungen nieder, die dem Buch durchaus gerechter werden als die positiven. Um sich einen objektiven Überblick verschaffen zu können, ja um auch nur eine einzige plausible Empfehlung für ein SF-Kurzgeschichten-eBook geben zu können, benötigt ein Wahnsinniger aufgrund der unüberschaubaren Menge an Publikationen mehr Lebenszeit, als der Redaktion dieses Portals zur Verfügung steht. Ernsthafte (und unabhängige) Empfehlungen nehmen wir freilich gerne zur Kenntnis. Allein – bislang ist uns noch kein »Geheimtipp« übermittelt worden, der selbst einer flüchtigen Überprüfung (»Blick ins Buch«) hätte standhalten können. Es bleibt die These, dass die Anzahl fähiger SF-Autoren immer noch an zwei Händen abgezählt werden kann, selbst wenn es sich um Hände Außerirdischer handelt, die um ein paar mehr Finger verfügen als die meisten von uns. Die Werke dieser Autoren landen dann eben in den hier lobend erwähnten Sammlungen, deren erfahrene Herausgeber mit sicherem Blick handwerkliche Qualität und gute Ideen meist als solche erkennen.
Denn darauf kommt es an, und das wird sich auch 2013 nicht ändern.