Rezension: “Neanderthal” von Jens Lubbadeh

Diktatur der Fürsorge

Haben Sie Kinder? Wenn ja, dann kennen Sie das: Gehen Sie mit Ihren Kleinen auf den Spielplatz, Fahrrad mit Stützrädern im Gepäck. Lassen Sie die Kleinen dort fahren, aber bitte schön immer mit Helm, die Verletzungsgefahr ist sonst zu groß. Wagen Sie es nicht, den Helm (evtl. auf Bitten oder Quengeln) der Kinder abzusetzen, die soziale Kontrolle funktioniert! Die Eltern der anderen werden über Sie tuscheln oder Sie gar darauf hinweisen, dass es doch gefährlich ist, so ohne …

Nun, meine Kinder fuhren immer ohne Helm, wie auch ich selbst das tue. Die Gefahr (auf dem Kinderspielplatz!!!) ist doch nun wirklich äußerst gering, die Fallhöhe sowieso und die Stützräder tun ihres dazu … Viel sinnvoller wäre es da doch, dass die Erwachsenen unisono beim Spazierengehen, ja sogar in der Wohnung einen Schutzhelm tragen sollten, die Fallhöhe und Wahrscheinlichkeit einer Verletzung ist deutlich höher, als in dem oben beschriebenen Beispiel. Zumindest sollten die Kleinen aber doch bei ihren ersten Gehversuchen einen solchen tragen, auch da ist Wahrscheinlichkeit und Fallhöhe zumindest gleich der, die in dem oben beschriebenen Szenario geschildert wurde.

Nun, seltsamerweise werden diese Schutzmaßnahmen komplett abgelehnt – noch!

Warum habe ich diesen Einstieg gewählt?

Nun, weil Jens Lubbadeh uns in eine Welt entführt, die sich aus der unseren entwickelt hat. Sie liegt gerade mal ein paar Jahrzehnte in der Zukunft. In einer Zukunft, in der es zum guten Ton gehört, sich gegen alle möglichen Risiken abzusichern, in der Zuschläge zur Krankenversicherung kassiert werden, wenn man das nicht tut. In einer Zukunft, in der fast jedes ungeborene Kind einer Genanalyse unterzogen wird. In einer Zukunft, in der die Designer für jede (oder eben nur fast jede) Krankheit, die durch Gene verursacht werden könnte, eine Antwort haben. Schädliche Gene müssen aus dem Genpool ausgemerzt werden. Sie verursachen Krankheiten und schädigen somit die Gesellschaft genauso, wie Rauchen, Alkohol trinken, die Einnahme sonstiger Drogen und eben das ungeschützte Fahrradfahren schon der Allerkleinsten (der Einschub ist von mir, ich gestatte dem Autor gerne, das bei einer zweiten Auflage seines Werkes mit einzubauen). Schadhaft ist jedes Gen, das im Verdacht steht, eine Krankheit auslösen zu können und sei es auch nur die 10%ige Wahrscheinlichkeit an Heuschnupfen zu erkranken. Für Vieles werden die 1-2% Neandertalergene verantwortlich gemacht, die jeder Europäer und Asiate noch heute in sich trägt. Im späteren Verlauf der Handlung treten dann plötzlich neue Volkskrankheiten auf, von denen vermutet wird, dass sie Folge der Genhygiene sein könnten.

Daneben ist die soziale Kontrolle immens. Sich in der Öffentlichkeit ohne Fitnesstracker zu bewegen ist für die Karriere auf gar keinen Fall förderlich. Lubbadeh schildert uns hier eine Gesellschaft, deren Entwicklung wir im Hier und Heute bereits in den Anfängen (s. o.) miterleben können.

Und bevor jetzt eben diese Gesellschaft einen Shitstorm über mich hereinbrechen lässt: Selbstredend ist es vernünftig nicht zu Rauchen und keine anderen Drogen zu konsumieren und es ist auch vernünftig, beim Radfahren einen Helm zu tragen (als Radrennfahrer laufe ich ansonsten Gefahr, mich ernsthaft zu verletzen), aber man sollte doch das Risiko abwägen und dann erst eine Entscheidung treffen und nicht pauschalieren.

Und da sind wir wieder bei Lubbadeh, er zieht hier zu Felde gegen jegliche Art der Pauschalierung, der Verallgemeinerung und zeigt uns anschaulich, welche Strömungen sich da in der Gesellschaft auftun.

Das alles verpackt er in einer Science-Thriller-Umgebung (früher hätte man Science Fiction dazu gesagt).

Der Roman beginnt damit, dass Polizisten eine Leiche zu untersuchen haben, eine Leiche, die Absonderlichkeiten aufweist. Ein Behinderter? So was gibt es noch?! Ja, aber selten, sehr selten, weil eben die Genhygiene eigentlich alles abfedert.

Zweifel schleichen sich ein, als auf seinem Smart(phone) eine Datei entdeckt wird, die zu einem Massengrab im Neandertal führt. Ein Massengrab, in dem sich merkwürdige Knochen befinden. Die hinzugezogenen Experten (einer davon gehörlos, sprich behindert!) bestätigen: Neandertaler. Und das ausgerechnet an dem Fundort, der wohl weltweit zu den am besten archäologisch dokumentierten Stätten gehört. In der Folge stellt sich heraus, dass die Knochen gar nicht so alt sind, wie sie sein sollten. Nicht einmal 100 Jahre ist es her, dass man sie im Boden verscharrte. Die C14 Methode ist ungenau, bei solchen Zeitabschnitten.

Nun geht es Schlag auf Schlag, Spannung kommt auf. Protagonisten verschwinden und werden durch andere ersetzt. Es gibt eine Rückblende in die Urzeit, die uns mit der Frage konfrontiert, warum die Neandertaler, unsere Vettern, denn nun wirklich ausgestorben sind. Hat der Homo Sapiens sie ermordet? Der erste Genozid? Haben unsere Vorfahren sie gar als Eiweißquelle benutzt, sie gegessen?

Nun, in den Protagonisten liegt eine gewisse Schwäche des Romans. Nicht unbedingt in der Charakterisierung, sondern eher darin, dass gut eingeführte Personen (der Kommissar beispielsweise) an Stellen aus dem Spiel genommen werden, an denen es unnötig war, das zu tun. Er hätte einen würdigeren Abgang verdient gehabt.

Was mich ebenfalls gestört hat, war die Darstellung der Antagonisten. Die kamen für mich nicht wirklich glaubhaft rüber. Abgrundtief böse, mit nicht dem Mainstream entsprechenden sexuellen Neigungen, das war für mich zu viel des Guten (ähm, Bösen). Da bevorzuge ich Gegenspieler, deren Motive für mich als Leser nachvollziehbar sind und bleiben (aber deshalb lese ich ja auch keine Horrorromane).

Sei es drum, das Buch ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die Vielfalt jeglicher Art begonnen im Kleinsten Baustein, in unseren Genen. Ein Thema, das mir aus dem Herzen spricht.

Und wer wissen will, warum nun die Neandertaler ausgestorben sind, der muss sich bis fast zur letzten Seite gedulden. Auch das eine eindrucksvolle Lösung des Rätsels und wenn man mich fragt, durchaus eine wahrscheinliche.

Lubbadeh hat sich in meiner Wahrnehmung mit diesem Roman sehr gesteigert. Habe ich für seinen Erstling noch drei Sterne vergeben (das war auch nicht schlecht!), vergebe ich hier vier.

Passend zum Roman gibt es auch ein Interview mit dem Autor auf unserer Seite.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität: