Story: “Stillstand” von Uwe Hermann

Uwe Hermann gewann 2018 sowohl den Deutschen Science Fiction Preis als auch den Kurd-Lasswitz-Preis für die Kurzgeschichte “Das Internet der Dinge”. Nichts liegt also näher, unsere neue Kurzgeschichten-Rubrik mit einer Story dieses bemerkenswerten Autors zu starten. Die hier vorliegende Geschichte erschien 2017 in der Anthologie »Die Rückkehr zum grünen Kometen« zum 90. Geburtstag von Herbert W. Franke in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar und wird außerdem in Uwe Hermanns kommendem Erzählband “Der Raum zwischen den Worten” enthalten sein. Weitere Infos auf seiner Homepage: www.kurzegeschichten.com

Wie die Wochen zuvor, saß ich gelangweilt hinter der Kasse der Tankstelle, las in einem Magazin, und wartete darauf, dass meine Nachtschicht endete. Auf einen Kunden hoffte ich schon lange nicht mehr. Seit die Bauarbeiten an der Kreuzung ein paar Kilometer entfernt begonnen hatten, verhinderte ein Loch in der Straße, dass jemand zu unserer Tankstelle gelangte. Trotzdem verlangte der Vertrag der Mineralölgesellschaft, dass wir rund um die Uhr geöffnet hatten. Also saß ich Nacht für Nacht hinter dem Tresen und ärgerte mich über die schleichenden Zeiger der Wanduhr. Inzwischen war ich sicher, dass wir pleitegingen, bevor sich ein neuer Kunde in die Tankstelle verirrte.

Um kurz nach drei Uhr morgens wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte, denn zu dieser Zeit betrat ein großer Mann den Vorraum der Tankstelle. Ich hatte keine Motorengeräusche gehört und schreckte hoch, als er vor mir stand. Er hielt ein smartphoneähnliches Gerät in der Hand und tippte auf dem Display herum.
»Verstehst du mich?«, fragte er.
Ich nickte und er steckte das Gerät zurück in die Tasche.
»Harmonie! Kann ich bei dir Lebensmittel und Wasser erwerben?«
»Sicher.« Ich wies in Richtung der Regale. »Mineralwasser ist kein Problem, aber an Lebensmitteln haben wir nur Kekse und Konserven. Es kommen zu selten Kunden, als dass sich frische Ware für uns noch lohnen würde.«
Der Mann ging zu den Regalen hinüber und betrachtete unser Angebot. »Das ist essbar?«
Ich nickte. »Das meiste schon.«
Die Luft um ihn herum flackerte. Ich kniff die Augen zusammen. »Sie flimmern.«
Er drehte sich zu mir herum. »Das ist nicht meine richtige Gestalt. Ich habe dieses Aussehen nur angenommen, um dich nicht zu erschrecken.«
»Ich habe mich schon gefragt, warum Sie wie der Kerl draußen auf der Eiscreme-Werbetafel aussehen.-«
»Ich trage darunter einen Raumanzug.«
»Aha.«
Ihm entging meine Skepsis nicht. »Ich bin ein Weganer.«
»Sie meinen kein Fleisch und so?«
»Nein, ich komme von dort. Mit einem Raumschiff.«
Ich schaute aus dem Fenster. An den Zapfsäulen stand kein Fahrzeug, nicht einmal eines, mit vier Rädern. »Mit einem Raumschiff?«
»Ja, es liegt nicht weit entfernt von hier.« Er zögerte. »Ich hatte Probleme.«
»Sind Sie abgestürzt?« Nicht, dass ich seinen Worten glaubte, aber meist war es besser, wenn man den Kunden nicht widersprach.
»Abgestürzt ist nicht das richtige Wort. Dazu hätte ich fliegen müssen.« Sein Gesicht verzog sich. »Und genaugenommen ist dein Planet in mein Schiff gekracht. Mein Raumschiff ist mit einer neuen Antriebsart ausgerüstet: Bewegung durch Stillstand.«
»Klingt wie der Wahlspruch unserer Regierung.«

Er nahm eine Kiste mit Mineralwasser aus dem Regal und wandte sich dem Kekssortiment zu. »Es ist ganz einfach. Alles im Universum bewegt sich. Dein Planet dreht sich mit mehr als eintausend Kilometern pro Stunde um die eigene Achse. Dazu kommt die Geschwindigkeit, mit der er um die Sonne kreist. Etwa einhunderttausend Stundenkilometer, richtig?«
Ich nickte, ohne zu wissen, ob er recht hatte.
»Und natürlich bewegt sich auch das Sonnensystem. Ebenso, wie die Milchstraße und alles andere. Alles ist in Bewegung.«
»Und?«
»Mein Schiff bewegt sich nicht. Unsere Wissenschaftler haben eine Möglichkeit gefunden, wie wir seine relative Geschwindigkeit stoppen können. Ich versetze es während des Fluges in einen Zwischenraum der Realität und halte an.«
»Dann beschleunigen Sie nicht Ihr Raumschiff, sondern stoppen es?«
»Genau, es ist ein Stillstand-Antrieb. Ich halte an und lasse mein Ziel auf mich zu kommen.«
»Und wie navigieren Sie dann?«
»Nun ja, es ist ein Prototyp. Der Antrieb ist noch in der Entwicklung und ehrlich gesagt haben unsere Wissenschaftler die relative Geschwindigkeit des Universums unterschätzt.«
»Verstehe, deshalb Ihr Absturz.«

Ich erinnerte mich an einen Artikel in einem Magazin, den ich in der letzten kundenlosen Nacht gelesen hatte.
»Aber wie konnten Sie dann zu uns gelangen? Ich dachte, das Universum wäre so riesengroß, dass man Jahrzehnte fliegen müsste, bis man den nächsten bewohnbaren Planeten erreicht.«
»Das haben unsere Wissenschaftler auch behauptet. Offensichtlich haben sie sich verrechnet, sonst wäre ich ja nicht hier.«
»Ärgerlich, und was wollen Sie jetzt tun?«
»Weiter warten und hoffen, dass irgendwann ein bekannter Teil der Milchstraße an mir vorbeikommt.«
»Na, dann viel Erfolg.«
Er schaute zu dem Ständer mit den Straßenkarten hinüber. Ich kam seiner Frage zuvor und schüttelte den Kopf. »Die sind alle schon ein paar Jahre alt. Und ich bezweifele, dass wir eine Karte dieser Galaxis haben.«

Nachdem er sich noch ein paar Dosen mit Obst geholt hatte, legte er mir einen Ei-großen Diamanten auf den Tresen. »Reicht das als Bezahlung?«
Ich betrachtete den Edelstein skeptisch. »Ist der echt?«
»Sicher.« Er nickte. »Der Stein besteht aus modifiziertem Kohlenstoff und ist keine Illusion, wenn du das meinst. Ich habe ihn selbst hergestellt.«
»Dann reicht er.«
Ich verstaute den Diamanten in einer Schublade neben der Kasse und packte seine Einkäufe in mehrere Tragetaschen mit dem Slogan unserer Tankstelle: Wir bringen Sie in Bewegung!
Der Außerirdische griff nach den Tüten und bedankte sich. »Harmonie!«
»Harmonie«, antwortete ich und sah ihm nach, wie er auf den Ausgang zu ging.
»Gutes Stillstehen!«, rief ich ihm noch nach.
Er drehte sich lächelnd zu mir herum: »Und dir gute Reise!« Dann ging er und ich widmete mich wieder meinem Magazin.

ENDE