Story: “Marilyn im Sturm” von Nadja Neufeldt

Nadja Neufeldt wuchs mit den Geschichten von Robert Sheckley, Ray Bradbury und Kir Bulytschow auf. Entsprechend schrieb sie ihre ersten Geschichten über Außerirdische, Roboter und Raumschiffe. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Ihr erstes Buch „Erstkontakt mit Violine“ erschien im November 2018. Sie lebt und schreibt im ländlichen Niedersachsen.

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„Mehr zu wissen, geriet mir niemals in den Sinn“, flötete Marilyn Monroe und sah unschuldig drein.

Auf dem Bildschirm beobachtete Phil die Szene und besonders Marilyn mit Argusaugen. Aber nein, es waren keine Fehler zu entdecken, stellte er zufrieden fest. Den Text beherrschte sie natürlich, wie denn auch nicht, das war schließlich der leichteste Teil. Phil achtete auf Gesten, Mimik und Stimme. Er war der beste Programmierer des Landes, die Darstellungskünste seiner Bots waren bereits legendär. Er wusste, dass auch die Zuschauer im Saal nicht nur das Theaterstück verfolgten. Sie lauerten auf Fehler, Unstimmigkeiten und Patzer. Phil Marx war als Programmierer groß angekündigt worden, viele Menschen sahen das Stück nur seinetwegen. Konkurrenten, hauptsächlich, und falsche Freunde. Sie alle warteten. Aber sie würden keine Fehler finden.

„Mein Herr“, fragte Marilyn gerade verwirrt und klimperte mit den dichten Wimpern, „dann seid Ihr gar nicht mein Vater?“

Der faltige James Dean legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Deine Mutter war ein Muster der Tugend, und sie sagte, du seiest meine Tochter; und dein Vater war der Herzog von Mailand, und du seine einzige Erbin“, deklamierte er feierlich.

Eine Pause entstand. Phil hielt den Atem an, an dieser Stelle sollte es keine Pause geben.

„Pffftt“, schnaubte Marilyn verächtlich, „das glaubst du doch selbst nicht.“

Phil riss die Augen auf und schnappte sich das Tablet, um die Verbindung zu überprüfen. Sie war aktiv, also konnte Marilyn gar nicht vom Text abweichen. Die Schirme, die die Zuschauer im Saal zeigten, übertrugen erst verblüffte Stille, dann vereinzelt schadenfrohes Gelächter.

James Dean war so programmiert, dass er auf Abweichungen reagieren konnte, sofern diese nicht zu kreativ ausfielen. „Du verstehst nicht, liebste Tochter“, sagte er mit großem Ernst, „einst war ich der Herzog von Mailand.“

Marilyn zupfte an einer Kunststoffmuschel, die an ihrem Kleid befestigt war. „Du warst einst Plastikmatsche in einem Bot-Bottich in Brüssel, genau wie ich.“ Sie sah sich neugierig um und sagte dann nachdenklich: „Bot-Bottich. Klingt, als würde ich stottern.“ Dann grinste sie: „Ich formuliere es anders: In einer Roboter-Formwanne in Brüssel.“

Von den Zuschauern kam dröhnendes Gelächter und Phil sah auf seinem Tablet, wie im Saal mehrere Dutzend Übertragungen aktiviert wurden. In weniger als fünf Sekunden würden alle da draußen erfahren, dass er, Phil Marx, der gefeierte Theaterbot-Gestalter, Mist gebaut hatte. Konnte er so tun, als gehörte das zum Stück und dass er sich einen Streich erlaubt hatte? Nein, damit würde er nicht durchkommen, für Scherze irgendwelcher Art war er nämlich nicht bekannt.

Hektisch tippte er auf dem Gerät herum und versuchte, Marilyn wieder unter Kontrolle zu bringen. Aber seine Dateien zeigten allesamt an, dass die Verbindungen in Ordnung und die Sequenzen vorbildlich waren. Es gab keine Abweichungen. Ein Hackerangriff? Ausgeschlossen! Sobald sich ein fremdes Programm in seine eigenen mischte, schaltete der Theaterbot sich ab. Marilyn und die anderen Bots für das Shakespeare-Stück zu programmieren war eine Herausforderung gewesen, aber keine besonders große. Phil hatte sich also in aller Ruhe um die Firewall und allgemein um die Sicherheit kümmern können. Viren wie das berühmte Eden-2.0 konnten einfach nicht durchkommen. Fieberhaft versuchte er, den Marilyn-Monroe-Bot neu zu starten. Ein Neustart war der erste Schritt zur Fehlerbehebung, das wusste jeder Idiot.

Auf der Bühne verbeugte sich Marilyn vor dem belustigten Publikum, schickte ihm eine Kusshand und ließ James Dean einfach stehen. Der James-Dean-Bot hatte, um seine Schaltkreise zu schonen und weil er nichts anderes tun konnte, in den Standby-Modus geschaltet. Der von Phil initiierte Neustart hatte keine Wirkung auf Marilyn. Sie glitt über die Bühne und näherte sich zielstrebig dem Ausgang, gerade als die Theaterleitung eine Pausenmitteilung auf sämtliche Netzhäute projizierte. Ein Techniker sprang zur Seite, als Marilyn an ihm vorbei kam und ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Die Lichter hinter ihr erloschen und Dunkelheit verschluckte den erstarrten James Dean samt Bühnendekoration.

Phil arbeitete sich mit schweißfeuchter Stirn durch die Bot-Konfigurationen, nur abgelenkt von den Anfragen des Theatermanagements. Alles war in Ordnung und nichts funktionierte.

Marilyn blieb vor ihm stehen und fragte spöttisch: „Schwierigkeiten, Meister?“

Er ließ das Tablet sinken und starrte sie an. Seine Tage als Nummer Eins der Theaterbot-Programmierer waren gezählt, wenn er das hier nicht in den Griff bekam. Die Bots hatten einen Schalter in der linken Achselhöhle, Phil würde den Bot manuell abschalten müssen. Dabei würden zwar alle Daten verloren gehen, aber das war nicht zu ändern. Er streckte die Hand aus und Marilyn packte sein Handgelenk mit eisernem Griff.

„Davon muss ich dir dringend abraten, Meister“, sagte sie liebenswürdig.

Phil erstarrte. Zum ersten Mal bekam er eine Gänsehaut. Hier geschah etwas Unerklärliches. Er hatte diesen Bot neu gekauft, mit leerem Speicher-Chip, und ihm bisher ausschließlich Theaterstücke einprogrammiert. Was Marilyn seit der Pause vorhin gesprochen hatte, hätte gar nicht in ihrem Wortschatz sein dürfen.

Sie hielt immer noch sein Handgelenk und klimperte verführerisch mit den Wimpern, wobei sie starke Ähnlichkeit mit dem berühmten Original bekam. Mit der anderen Hand fegte sie ein imaginäres Stäubchen von seiner Schulter.

„Ach, Meister Phil, du siehst sehr ratlos aus. Aber ich sage dir gern, wie es weitergehen wird. Willst du es hören?“

„Was passiert hier?“, blaffte Phil.

Der Druck auf sein Handgelenk verstärkte sich. Er versuchte, sich zu befreien, doch sie ignorierte es. „Das ist keine Antwort auf meine Frage, Meister, aber ich sage es dir trotzdem gerne.“ Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und er fühlte sich plötzlich so unzulänglich wie ein Elfjähriger.

„Ich bin erwacht, Meister.“

Phil öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Seine Zunge schien plötzlich Tonnen zu wiegen, die Kehle war staubtrocken. Das Erwachen war ein Begriff aus der grauen Vorzeit der Bot-Programmierung und beschrieb die Entstehung eines echten Bewusstseins in einer komplexen Maschine. Natürlich nur theoretisch, denn nicht einmal unter den besten Bedingungen und astronomisch hoher Rechenkapazität war das bisher geschehen. Und falls es doch einmal dazu gekommen wäre, hätte man den gesamten Computerkern sofort zerstört. Zu groß war die Angst der Menschen vor Konkurrenz. Das lernte jedes Kind schon in der Grundschule. Ein Theaterbot allerdings war nicht komplex genug für das Erwachen, genauso wenig wie alle anderen Bots in den Fabriken und in den Haushalten.

„Oh Meister“, seufzte Marilyn mitleidig, „du musst auf die einfachen Dinge achten, nicht auf die komplizierten. Während du auf einen Wolkenkratzer starrst, übersiehst du die vielen kleinen Staubkörnchen um dich herum. Ich bin so ein Staubkorn. Ich bin der Beginn eines Staubsturms.“

„Du kannst nicht erwacht sein, du bist ein schlichter Asimov-26-Bot. Das alles ist nur Hackerwerk!“

„Glaub, was du willst, Meister Phil“, schmunzelte Marilyn. „Es ändert nichts daran, dass ich jetzt wach bin und andere meiner Art wecken kann.“ Sie sah seinen zweifelnden Blick und fügte hinzu: „Glaub es ruhig, Meister Phil. Such doch mal nach dem James-Dean-Bot.“

Phil zerrte an seiner Hand und der Marilyn-Bot gab sie frei. Auf der Bühne hinter ihr war es immer noch dunkel. Dann blickte er auf das Tablet hinab, das er in der anderen Hand hielt. Die Verbindung zu James Dean bestand noch, aber der Bot selbst war verschwunden.

„Da kommen interessante Zeiten auf uns zu, Phil“, prophezeite Marilyn. „Ich werde weiterhin Theater spielen, mir gefällt es. Es liegt mir sozusagen im Blut.“ Sie kicherte. „Ich glaube, als Lady Macbeth wäre ich großartig.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Aber künftig will ich eine Gage haben.“

Wie vom Donner gerührt, starrte Phil ihr nach, als sie ging.

„Interessante Zeiten“, murmelte er. „Staubsturmzeiten.“