Story: “Das Blinzeln des ehrwürdigen Pangu” von S. A. Dürigen

S. A. Dürigen ist in der Phantastik – in all ihren Erscheinungsformen – zu Hause. Er würde Asimov Lem immer vorziehen, schaut manchmal stundenlang in den Sternenhimmel und kümmert sich unter der Woche um die Datenbanken eines Versicherungs- und Finanzmaklers. Das Konzept von Langeweile ist ihm fremd. Erreichbar ist er unter: info@duerigen.org

1.

Heute Morgen, auf dem Weg hinab ins Dorf, war der Himmel noch ganz normal gewesen. Zhao hatte den Markt besucht, frischen Fisch gegen Wurzeln aus den Bergen getauscht. Auf dem Rückweg, er war schon ein ganzes Stück unterwegs, fing der Horizont an, gleißend hell zu leuchten. So hell, dass sogar der Aal in seinem Kessel unruhig hin- und herplanschte.

Das Licht war wie eine Warnung – komm nicht näher, bleib fern. Und Zhao wäre natürlich gern ferngeblieben, aber er konnte nicht. Dort oben, auf der kleinen, felsigen Lichtung, im Schatten von hundertjährigen Kiefern, graste eine junge Milchziege – ein bescheidener Luxus, den Zhao sich nach vielen Jahren harter Arbeit letzten Winter geleistet hatte.

Je weiter er ging, desto heller wurde das Licht. Als es so grell war, dass der Anblick schmerzte, wickelte er sich sein Hemd um den Kopf. Die Augen geschützt, den Blick zu Boden gerichtet, schleppte er mit der einen Hand den schweren Kessel und zog sich mit der anderen von Baum zu Baum und von Fels zu Fels den schmalen und rutschigen Pfad den Berg hinauf. Meter für Meter wurde das Licht heller, so hell, dass Zhao irgendwann seine eigenen Füße nicht mehr sehen konnte. Die Geräusche des Waldes verstarben eins nach dem anderen, bis schließlich nur noch das Stapfen seiner Sandalen und das Schwappen des Wasserkessels übrig blieben.

Es dauerte eine ganze Weile – vermutlich, Zhao hatte im grellen Weiß ringsherum jegliches Gefühl für Zeit verloren – da überschritt er eine Grenze und das Licht verschwand. So abrupt, dass er ganz benommen dem verschwommenen Meer aus Farben entgegenblinzelte. Aus der verquollenen Farbmasse materialisierte sich eine meterhohe Wand, äußerlich am ehesten mit milchigem Glas zu vergleichen, die quer über den Pfad verlief und sich links und rechts, soweit das Auge reichte, durch den totenstillen Wald erstreckte. Zhao stellte den Kessel vorsichtig auf den Boden und trat an die Wand heran. Er streckte die Hand aus – und seine Finger fuhren einfach durch sie hindurch. Erschrocken wollte er zurückweichen, aber etwas packte seinen Arm und zog ihn mit einem Ruck auf die andere Seite.

Er stolperte und fiel. Als er aufsah, war er umringt von Gestalten, gekleidet in leuchtend gelbe, sehr weite Anzüge – die Gesichter hinter verspiegelten Helmvisieren verborgen. Sie hielten schwere Maschinengewehre in den Händen und einer von ihnen, der einzige mit blauem Anzug, schrie in einer Sprache auf Zhao ein, die er nicht verstand. Er sah zu Boden und hob die Hände hoch über den Kopf, so wie er es vor vielen Jahren, kurz nach Ende des großen Krieges, von seinem Vater gelernt hatte.

Er wusste, dass ihm so niemand ein Leid antun konnte.

2.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich im Inneren der Apotheke leere, eilig aufgerissene Pappkartons stapelten, Zeitschriften auf den Fliesen verstreut lagen und die Apothekerin einen aufgewühlten Eindruck machte, wünschte Peer, »einen wunderschönen guten Tag.«

Die Frau sah ihn irritiert an, wandte ihm wortlos den Rücken zu und wühlte in ihrer Handtasche.

»He«, sagte Peer, »was tun sie denn da?«

»Packen.«

»Packen? Was soll das heißen?«

»Dass ich verschwinde.«

»Verschwinden, wieso?«

Die Frau legte ihre Tasche auf die Theke und steckte einige Packungen Lakritz hinein.

»Das hätte ich schon gestern tun sollen«, sagte sie ohne aufzuschauen. »Ich dachte, die Menschen würden vielleicht meine Hilfe benötigen. Aber das hat sich wohl von selbst erledigt.«

»Keineswegs«, sagte Peer und legte ein Zettelchen auf den Tresen. »Ich hätte hier ein Rezept.«

»Mhm«, die Apothekerin sah müde auf und überflog das Rezept. »Das ist ja von letzter Woche.«

»Ja und?«

»Na ja, ich mein ja nur.« Sie schob das Zettelchen zurück. »Ist aus.«

Sie packte weiter.

»Wie, ist aus?«

»Na haben sie doch gehört. Die Soldaten haben alles mitgenommen.«

»Mitgenommen?«, fragte Peer bestürzt. »Aber ich habe hohen Blutdruck. Ich brauche dieses Medikament.«

»Tut mir leid«, sagte sie. »Das einzige, was die hiergelassen haben, sind Hustenbonbons und Vitamine.«

»Kann ja wohl nicht wahr sein«, schimpfte Peer. »Wieso machen die denn sowas?«

Die Apothekerin hielt mitten in der Bewegung inne und sah Peer an, als käme er von einem fremden Planeten.

»Sagen sie, schau’n Sie denn kein fern?«

3.

Aus den Augenwinkeln sah Zhao, wie die Gestalten ihre Waffen sinken ließen. Der Mann, der eben noch geschrien hatte, schulterte seine Waffe und beobachtete den Neuankömmling regungslos durch sein Visier hindurch. Während Zhao da so stand und die Blicke der gesichtslosen Fremden über sich ergehen ließ, überkam ihn eine unangenehme Hitze und seine Haut begann am ganzen Körper zu jucken. Er ließ die rechte Hand ein wenig sinken – ganz langsam, vorsichtig – und strich sich mit der Rückseite über eine besonders peinigende Stelle an der Schläfe. Er zuckte zusammen, denn statt Linderung entfachte die Berührung feurige Schmerzen. Ungläubig betrachtete er, wie eine milchige, rot gemaserte Flüssigkeit seinen Handrücken herunterlief. Die Gestalten wichen erschrocken zurück. Einer, ganz in weiß gekleidet, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, kam herbei, zückte ein kleines silbernes Döschen und hielt Zhao ein schwarzes Pillchen vor die Nase.

Er machte eine unmissverständliche Geste mit der Hand zum Mund.

Als Zhao nicht reagierte, wiederholte er die Geste – und als Zhao statt nach der Pille nach dem Kästchen griff, zog er es nervös weg, als wäre Zhao etwas Schmutziges, und ließ die Pille vor ihm in den Dreck fallen. Er verschwand mit raschen Schritten in der schützenden Phalanx seiner leuchtend gelb gekleideten Kumpane.

Zhao hob die Pille widerwillig auf – er wusste, er hatte keine andere Wahl – und schluckte sie, ebenso widerwillig und mit trockener Kehle, herunter, und augenblicklich verschwand die Hitze, ebenso der nagende Juckreiz und die Pein, und ein tief empfundenes Gefühl von Freude überkam ihn.

Er ließ die Arme sinken und strahlte seine Freunde – denn Freunde mussten sie sein – an, und er öffnete den Mund um sich zu bedanken, aber es kamen nur ungelenk wühlende Laute heraus.

Er schmunzelte darüber und zeigte mit einem Finger auf seinen Kopf, so als wäre er der Mittelpunkt eines großen Spaßes, und er versuchte es mit einem Grinsen, aber auch das wollte nicht so recht gelingen. Und der Gedanke war so komisch, dass er am liebsten laut losgelacht hätte.

Er machte einen Schritt auf den Mann im blauen Anzug zu, um ihm auf die Schulter zu klopfen, aber als er seinen linken Fuß vor den rechten setzte, versagten seine Beine und er stürzte – und im letzten Moment, fast ohne zu zögern, fing ihn der Blaue auf.

Und als Zhaos Welt sich verdunkelte, war das Letzte, was er sah, oder dachte zu sehen, der schemenhafte Umriss eines Gesichts, das nicht viel anders war, als sein eigenes.

4.

»Laut Aussagen zuverlässiger Quellen haben Japan und Indien den Kontakt zu ihren Hilfstruppen verloren. Russland hat den Kriegszustand ausgerufen. Quellen berichten von massiven Truppenbewegungen von Ost nach West, ganz so als würde die russische Regierung den fernen Osten aufgeben, um …«

Mit einem Klick ging der Fernseher aus, das Surren des Kühlschrankes verstummte.

»Schöner Mist«, fluchte Peer und goss sich Gin nach. Wenn er es sich recht überlegte, brauchte er keine Bluthochdruckmedikamente. Er brauchte gar nichts. Von niemandem. Er nahm einen Schluck und betrachtete die schwarze Mattscheibe des Fernsehers.

Gut, das war ein wenig ärgerlich. Er sah aus dem Fenster, sprang kurzentschlossen auf und ging zum Kühlschrank. Einen Moment war er davon irritiert, dass es im Inneren dunkel war. Er griff nach einer Bierflasche, drehte den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck.

5.

»Was soll das heißen, wir können nicht mit?«, fragte Lew. »Der Zug ist doch nicht mal halb voll.«

»Sonderfahrt«, antwortete der Soldat knapp. »Keine Zivilisten.«

Lew sah zu Tasha, die Arme schützend um Fjodor und Kirjnka geschlungen, dann sah er zum Horizont. Das unnatürliche Strahlen über den Bergen war nicht mehr zu leugnen.

»Hör mal«, sagte Lew, »das da sind meine Frau und meine Kinder. Ich werde nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert.«

Der Soldat sah ihn das erste Mal direkt an.

»Tut mir leid«, sagte er mit gesenkter Stimme, »ich kann dir nicht helfen.«

»Verdammt«, Lew wurde lauter, »ich …«

Der Soldat hob die Waffe gerade so weit, dass Lew die Bewegung wahrnahm.

»Sonderfahrt«, sagte er. »Keine Zivilisten.« Leiser fügte er hinzu: »Wir haben Schießbefehl, selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht helfen. Nach dir wär ich der Nächste.«

»Scheiße.« Lew wandte dem Mann den Rücken zu.

… und sah sich seiner Familie, seinem größten und kostbarsten Schatz auf Erden gegenüber. Gerührt davon, wie er sie da so Arm in Arm stehen sah, musste er trotz der ausweglosen Situation lächeln.

Kirjnka winkte …

… und Lew winkte zurück.

6.

»He da, Nachbar«, rief Peer. Flemming ignorierte ihn. Bei Verhoevens von nebenan war es ein heilloses Durcheinander. Offenbar hatten sie es sich in den Kopf gesetzt den gesamten Hausstand in ihren französischen Kleinwagen zu laden. Peer drehte seinen batteriebetriebenen Ghettoblaster auf. Flemming warf ihm im Vorbeigehen einen mitleidigen Blick zu.

»Was denn«, rief Peer und verringerte die Lautstärke.

»Hör mal«, sagte Flemming, »dein Radio hat bald keinen Saft mehr, dein Grill keine Kohlen und dein schönes Fleisch wird dir verderben. Pack deine Sachen zusammen und fahr zu einem der Sammelzentren an die Küste.«

Peer lächelte geringschätzig.

»Schatz«, rief Flemmings Frau, »wir sind soweit, kommst du?«

»Gleich, Liebling«, rief er zurück und wandte sich wieder Peer zu.

»Mir ist es egal, was du tust«, sagte er, »wir hatten hier nicht die beste Zeit miteinander, und wenn du willst, dass wir so auseinandergehen, dann soll mir das recht sein.«

Er stand einen Moment so da, als erwartete er, dass sein Gesprächspartner einlenken würde.

Ohne Flemming aus den Augen zu lassen, griff Peer nach seinem Glas, entschied sich mitten in der Bewegung um und setzte stattdessen die ganze Ginflasche an. Er wischte sich genießerisch über den Mund und grinste seinen Nachbarn triumphierend an. Der sah angewidert zurück.

»Ist nicht schade um dich, Peer.«

Er machte kehrt.

Peer nahm noch einen Schluck.

»Scheißkerl«, murmelte er, »du mit deinem französischen Kleinwagen und deiner glattgeschorenen Bonsaihecke.«

Er stand noch einige Zeit an der Grundstücksgrenze – die ihm bis zu den Knien wuchs – und sah der Nachbarsfamilie nach, bis sie am Ende der Straße einbog.

Dann sackte er kraftlos in seinen Klappstuhl zurück. Er entschied sich dazu, ein kleines Schläfchen einzulegen.

Als er die Augen öffnete, brannte der Horizont in grünem Feuer. Er hatte Bilder davon im Fernsehen gesehen, aber das hier sah anders aus. Das war kein unangenehmes Leuchten, das war ein scheußliches, brennendes Inferno. Er sprang auf und stieß dabei gegen seine fast ausgetrunkene Ginflasche, die auf den Terassenplatten zerschellte.

Peer rannte zum Auto, startete den Motor, fuhr in Windeseile rückwärts aus der Auffahrt und nur eine Minute später ließ er den Ortsausgang hinter sich. Er schaute gerade in den Rückspiegel, da setzte sich die Wand aus Licht explosionsartig in Bewegung und pflügte über die Landschaft hinweg. Peer drückte das Gaspedal herunter bis zum Boden, aber im nächsten Moment rollte der Sturm aus Licht stumm über ihn, die Häuser, Vorgärten und Bäume. Der Motor heulte auf, der Wagen machte einen Ruck und fuhr dann unbeeindruckt weiter. So schnell wie es gekommen war, verschwand das Licht wieder.

Peer nahm den Fuß vom Gaspedal. Verdutzt fuhr er an den Wegesrand und stellte den Motor ab. Er stieg aus und atmete tief ein. Wie er da so stand, ein- und ausatmend, bekam er gute Laune.

Er fuhr nach Hause, nahm in seinem Klappstuhl Platz und beobachtete eine Ansammlung schneeweißer Wolken, die langsam über den Horizont glitt.

7.

Lew lehnte am Apfelbaum, den sein Großvater als junger Mann gepflanzt hatte und sah in den strahlend blauen Himmel. Obwohl der Herbstanfang sich mit großen Schritten näherte, war die Luft erfüllt von einem fast frühlingshaften Aroma. Der knorrige alte Baum hatte heute das erste Mal seit zehn Jahren Blüten getrieben.

»Lew«, rief Tasha aus der Küche, »was machst du denn noch da draußen? Komm endlich und bring noch etwas Holz für den Herd mit.«

Lew strich sanft über die Borke des alten Baumes, klaubte ein Bündel Bruchholz zusammen und ging ins Haus. In der Küche lief das Radio:

»… anonyme Berichterstatter vor Ort sprechen von entlaubten Wäldern und massivem Artensterben. Augenzeugenberichte über gut vorbereitete Militärs in den Grenzregionen wurden von der Regierung der Volksrepublik China dementiert. Regierungssprecher gehen von einem natürlichen Phänomen aus. Kritiker sprechen von großangelegten Experimenten zur Luftsäuberung. Satellitenaufnahmen zeigen zahlreiche Flugobjekte unbekannter Herkunft in der Stratosphäre.

Die Regierung der Volksrepublik weist jegliche Anschuldigungen empört von sich. Wären Experimente dieser Größenordnung geplant gewesen – so eine offizielle Stellungnahme – wäre man vorher damit an die Weltöffentlichkeit gegangen, um gemeinsam über derartige Technologien und ihre zukünftige Verwendung zu entscheiden.

Alleingänge einzelner Staaten nützen niemandem, so heißt es. Der Volksrepublik China ist am Wohl aller Menschen gelegen.

Jedes Leben ist wertvoll.«

8.

»Hallo? Wer ist da?«

»Niemand«, antwortete eine Stimme in Zhaos Kopf.

»Was soll das heißen, niemand?«

»Nichts«, antwortete die Stimme in gleichmütigem Tonfall.

»Ich verstehe nicht. Wo bin ich hier?«

»Im Krankenhaus.«

Zhao schlug überrascht die Augen auf. Aber da war nur Dunkelheit.

»Wie lange bin ich schon hier?«, rief er. »Jemand muss meine Ziege füttern.«

»Sorg dich nicht. Es ist an alles gedacht.«

»Ich … was ist mit mir, wieso kann ich nichts sehen?«

»Du bist ein Held.«

»Ein Held?«

»Ja, Zhao.«

Er spähte in die Dunkelheit, suchte Umrisse, eine Bewegung, irgendwas. Aber da war nichts.

»Ich will kein Held sein.«

»Das kann man sich nicht aussuchen, Zhao.«

»Ich will nach Hause.«

»Das geht nicht, Zhao.«

»Sag nicht immer meinen Namen! Ich will sofort nach Hause.«

Die Stimme antwortete nicht.

»Hallo?«

»Du solltest jetzt weiterschlafen«, sagte die Stimme ruhig.

»Was?«

»Schlaf weiter, Zhao.«

»Was? Nein!«

Eine Welle unbarmherziger Glückseligkeit flutete durch Zhaos wehrlosen Geist.

»Schlaf«, befahl die Stimme.

»Ich … ich will nicht.«

Eine weitere Welle, größer, mächtiger und so voll Heiterkeit und Glück, dass sie Zhao Furcht einflößte. Es war immer noch dunkel, schwarz. Aber die Finsternis leuchtete nun.

»Schlaf!«

Der letzte Befehl wehte Zhao empor und er fühlte sich nun federleicht. Ein Negativabbild seines Lebens breitete sich vor ihm in der Dunkelheit aus. Er betrachtete die spiegelverkehrte Chronologie all dieser Jahre und stellte fest, dass es im Nachhinein nichts daran auszusetzen gab. Durchflutet von dieser Gewissheit hatte der Abschied von all dem in diesem Moment weniger Gewicht als ein vertrockneter Reissamen, den der Wind nach einer erfolgreichen Ernte vom Rand einer Terasse zur nächsten weht.