Story: “Nur eine Unterbrechung” von Hubert Hug

Hubert Hug, geboren 1959, verheiratet, zwei Kinder, ist Molekularbiologe. Science-Fiction-Geschichten von ihm sind unter anderem in Golem, Flash Fiction Magazine, Fantasia des EDFC und der Edition Bärenklau erschienen. Er lebt in einer Sackgasse an einem Bach mit merkwürdigen Kreaturen. Das könnte seine Andersartigkeit erklären.

Der Bach rauschte und die Erlen blühten. Im Gehöft mit dem weit überhängendem Dach klingelte das Telefon. Herr Wiesler schaltete den Herd aus, ging zum Telefonapparat und nahm den Hörer ab.

„Hallo. Wer ist dort?“, fragte er.

„Mein Name ist Überking, Leiter des Amts für Pollenverwaltung.“ Die Stimme klang etwas heiser und belegt.

„Was für eine Verwaltung?“, erkundigte sich Herr Wiesler.

„Amt für Pollenverwaltung“, sang es aus dem Hörer.

„Noch nie gehört“, sagte Herr Wiesler.

„Das sollten Sie aber. Wir haben sowieso das Gefühl, dass Sie nicht mit der Zeit gehen wollen.“

„Mit welcher Zeit?“

„Hören Sie, Herr Wiesler. Ich habe nicht viel Zeit.“ Herr Überking klang ärgerlich. „Ich rufe Sie wegen einer ernsten Sache an.“

„Ja … dann sagen Sie endlich, was passiert ist.“

„Genau. Sie scheinen vernünftig zu werden. Ihre Erlen blühen.“

„Die Erlen am Bach?“

„Ja genau. Sie stehen auf ihrem Grundstück. Sie hätten diese schon letztes Jahr fällen sollen. Ein entsprechendes Schreiben war Ihnen von uns zugekommen.“

„Davon weiß ich nichts. Sicher war Ihr Schreiben nicht wichtig.“

„Alles, was von uns kommt, ist wichtig“, schrie Herr Überking. „Wir sind eine hoheitliche Behörde.“

„Das ist gut. Ich bin ein Bauer im Schwarzwald.“

„Hören Sie, mein guter Herr. Wir geben Ihnen die letzte Chance.“

„Was wollen Sie von mir?“

„Ich sage Ihnen, was Sie schon lange wissen sollten. Nach Baum- und Blütengesetzbuch Paragraph 14z, Absatz 4.1.3, Zeile 5 bis 11 dürfen keine Erlen im Schwarzwald blühen.“

„Das ist mir neu. Erlen blühen hier meines Wissens seit Tausenden von Jahren.“

„Kann sein. Aber Erlen dürfen nicht mehr blühen. Das ist Allgemeinwissen. Bald habe ich keine Geduld mehr mit Ihnen.“

„Kein Problem. Ich muss sowieso gleich meine Hühner füttern.“

„Hühner …“, Herr Überking machte eine Pause. Er hustete und röchelte, bevor er erbost weitersprach. „Ich werd’ schon krank, wenn ich das Wort ‘Hühner’ höre. Hoffentlich haben Sie die Viecher entsprechend der Vorschriften eingesperrt.“

„Ja“, sagte Herr Wiesler.

„Okay. Um Ihre Hühner wird sich später eine andere Abteilung kümmern. Ich werde das Problem weiterleiten. Zurück zu den Erlen.“

„Ich bin noch hier“, sagte Herr Wiesler. „Aber bald muss ich gehen.“

„Sie müssen die Erlen fällen. Sonst werde ich eine dafür qualifizierte Baumfällfirma vorbeischicken. Auf Ihre Kosten.“

„Die Krähen bauen ein Nest in den Erlen. Die kann man nicht einfach fällen. Außerdem brauche ich die Bäume als Hochwasserschutz.“

„Um den Hochwasserschutz kümmert sich eine andere Abteilung.“

„Hat die Abteilung einen Kuhstall?“

„Lenken Sie nicht wieder vom Thema ab.“

„Sie haben mit dem Thema angefangen. Wir wissen doch, dass Erlen, wenn es regnet, fast so viel Wasser aufnehmen können, wie ihrem Volumen entspricht. Das ist alles Wasser, das nicht mehr in meinen Kuhstall laufen kann. Der ist nämlich manchmal überschwemmt und die Kühe stehen im Wasser. Dann geben sie weniger Milch. Kann ich jetzt auflegen? Ich möchte die Erlen behalten. Sie gehören doch mir, oder?“

„Nein. Die Bäume stehen zwar auf Ihrem Grundstück. Aber die Verantwortung der Verwaltung liegt bei uns.“

„Aha.“

„Nichts aha. Wir haben klare Grenzen. Die Vorschrift besagt, dass die Erlen verschwinden müssen und zwar sofort.“

„Ich lasse die Erlen stehen. Sie gefallen mir.“

„Hören Sie! Meine Geduld ist am Ende. Sie sind schuld, dass jedes Jahr Tausende von Menschen erkranken.“

„Ich mache niemanden krank. Meine Eier und meine Milch sind gesund. Alles auf meinem Hof ist gesund.“

„Sie sind ein Luftverschmutzer. Ihre Erlenpollen fliegen in unsere Städte und verursachen Allergien. Die Menschen in den Städten haben wegen solchen Starrköpfen wie Ihnen kein angenehmes Leben.“

„Diese Menschen machen doch bei uns Urlaub. Jedes Jahr kommen Sie hierher, in großen Scharen. Die Touristen, die uns besuchen, sehen gesund aus.“

„Die Kranken bleiben eben zu Hause“, antwortete Herr Überking gereizt.

„Das ist besser für Kranke. So werden sie schneller gesund. Brauchen Sie Krankenrezepte von meiner Oma? Leider ist sie vor sieben Jahren gestorben.“

„Wir brauchen keine Rezepte.“ Herr Überking schrie in den Hörer. „Wir wollen, dass keine Erlenpollen in unseren Städten landen.“

Herr Wiesler nahm den Hörer etwas vom Ohr weg und schüttelte den Kopf. Nach ein paar Augenblicken antwortete er.

„Pflanzen Sie doch Erlen in die Städte. Dann werden die Menschen sicher wieder gesund. So gesund wie ich.“

„Wir müssen alle Erlen fällen. Es gibt moderne Vorschriften. Das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit zu erklären. Zum letzten Mal …“ Herr Überking brüllte wieder. „Erlenpollen verursachen Allergien!“

„Meine Tiere und ich haben keine Allergien.“ Herr Wiesler zeigte keine weitere Regung.

„Sie sind eben eine Ausnahme. Und Ausnahmen gibt es bei uns nicht.“

„Das ist nicht richtig. Ausnahmen sind manchmal gut. Ich zum Beispiel besitze ein Huhn mit zwei krummen Zehen. Mein Nachbar riet mir, es zu schlachten. Aber jetzt legt es die meisten Eier, mindestens 300 im Jahr. Stellen Sie sich vor. Essen Sie gerne Eier?“

„Das Gespräch mit Ihnen macht mich müde. Sie wollen mich nicht verstehen, lesen unsere Schreiben nicht und weigern sich, unsere Vorschriften zu beachten. Ich werde die Sache meinem Vorgesetzten übergeben. Auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören, Herr Amtmann. War schön, dass Sie sich mal bei mir gemeldet haben.“

Herr Wiesler legte auf und lächelte.

‘Meine Erlen sind so schön grün’, dachte er. ‘Niemals werde ich sie fällen. Eher werde ich gefällt.’