Story: “Verdammtes Ungeziefer” von L.D. Schenk

L.D. Schenk ist Jahrgang 1948, hat Physik studiert und anschließend auf dem Gebiet EDV/Informationstechnik gearbeitet. Mittlerweile ist er im Ruhestand. Zur Science Fiction kam er sehr früh in seinem Leben Anfang der 60-er Jahre, als sie noch von den Heftchenromanen dominiert wurde und als “Schmutz- und Schundliteratur” galt. In der Schulzeit entstanden erste eigene Geschichten, aber Studium und Beruf führten ihn dann in andere Gefilde. “Verdammtes Ungeziefer” ist seine erste Geschichte nach einer langen Pause, zu der ihn tatsächlich ein Blattlausbefall auf seinem Balkon anfangs des Jahres inspiriert hat.

“Was ist bloß mit meinen Geranien los?”

Pamela starrte ungläubig auf die zwei Pflanzkästen, die am Balkongeländer hingen. Ihr Inhalt bot ein trauriges Bild. Viele Blätter wiesen statt eines satten Grüns ein kränkliches Braungrün auf. Bei einigen waren die Ränder gelb eingefärbt; manche waren sogar eingerollt. Auf dem Balkonboden lagen abgeworfene Blütenblätter, die von ausgedünnten Blütenständen herabgefallen waren.

Pamela, eine attraktive Blondine in ihren frühen Dreißigern, trat näher und nahm die Pflanzen in Augenschein. Ein Blick auf die Blattunterseiten bestätigte das, was sie schon vermutet hatte. Ihr hübsches Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Widerwillens.

“Ich habe es ja geahnt”, rief sie aus. “Ungeziefer!”

Als sie sich umdrehte, hätte sie fast ihrem Sohn, Samuel, auf die Füße getreten, der, von ihr unbemerkt, durch die offene Balkontür gekommen war und nun unschuldig grinsend hinter ihr stand. Er war blond wie seine Mutter und seine blauen Augen blitzten verschmitzt.

Samuel war acht Jahre alt und brennend an allem interessiert, was um ihn herum vor sich ging.

“Darf ich das Ungeziefer auch mal sehen?” fragte er neugierig.

“Na gut, komm her, Junior!” lud sie ihn ein, während sie sich wieder zum Blumenkasten wandte, eines der Blätter ergriff und die Unterseite mit spitzen Fingern nach oben drehte.

Samuel trippelte näher und betrachtete aufmerksam, was vor seinen Augen lag. Auf der Blattunterseite verstreut befand sich eine Anzahl von schwärzlich-grünen Tierchen; an den Blumenstängeln hingen sie schon in dichten Trauben.

“Was ist das?” fragte Samuel.

“Blattläuse!” stellte Pamela mit deutlichem Abscheu in der Stimme fest.

“Und was machen die?”

“Sie fressen meine schönen Geranien auf!” war die erzürnte Antwort.

“Haben die denn Zähne?” wollte Samuel wissen.

“Nicht direkt”, meinte Pamela zu ihrem Sohn. “Sie haben einen Rüssel am Kopf, den bohren sie in die Pflanze und saugen sie aus. Die Pflanze wird dann welk, die Blätter werden braun und die Blüten fallen ab und am Ende geht die Pflanze jämmerlich ein. Schau dich bloß einmal um, wie es hier aussieht! Alles braun und verwelkt! Meine schönen Geranien!”

“Uaaah”, meinte der Junge und schauderte zusammen. “Genau wie bei den Vampiren, die einem das Blut aussaugen! Was machen wir da bloß? Kruzifixe in die Blumenkästen stecken, damit die Vampire abhauen?”

Pamela verzog gegen ihren Willen belustigt das Gesicht, doch wich dessen Ausdruck gleich wieder grimmiger Entschlossenheit.

“Das wird wohl kaum etwas helfen”, belehrte sie ihren Sohn. “Insektenspray dürfte da eher angebracht sein! Wenn mich nicht alles täuscht, so haben wir im Keller . . .”

Sie wurde von einer lauten männlichen Stimme unterbrochen, die aus dem Wohnzimmer erscholl. Das war Samson, ihr Mann, auch als der “große” Sam bekannt. Samuel war der “kleine” Sam, wurde aber von den beiden Eltern meistens nur mit “Junior” angesprochen.

“He, Junior!” rief die Stimme aus dem Wohnzimmer. “Komm schnell! Sie zeigen gerade wieder das fremde Raumschiff!”

Blitzschnell verschwand Samuel im Wohnzimmer und nahm neben seinem Vater auf dem Sofa Platz. Dieses Möbelstück stand so, dass man frontal auf den riesigen Fernseher schaute, der an der gegenüber liegenden Wand befestigt war.

Samson, der Vater, war muskulös und untersetzt, man sah ihm aber bereits an, dass er ganz gerne des Öfteren dem Getränk zusprach, das sich in der Flasche in seiner Hand befand: einem leckeren Bierchen. Er nahm einen Schluck, legte seinen kräftigen Arm um die Schultern seines Sohnes, und beide widmeten sich gespannt dem Nachrichtenbeitrag, der gerade lief.

Der Bildschirm an der Wand zeigte das ihnen bereits bekannte Bild eines wegen der großen Entfernung zur Kamera hin- und herschwankenden, unregelmäßig geformten Objekts, das aussah wie ein länglicher Gesteinsbrocken mit Verdickungen an beiden Enden.

Die Stimme des Fernsehsprechers kommentierte dazu: “Nachdem der kosmische Wanderer vor zwei Tagen seine Geschwindigkeit stark verringert hat und in eine stabile Umlaufbahn um die Erde eingeschwenkt ist, kann es keinen Zweifel mehr geben, dass es sich bei der ‘Hantel’, wie sie von den Astronomen aufgrund ihrer Form getauft wurde, um das Werk eines intelligenten Urhebers handelt. Mit größter Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass sich an Bord des – wie man nun sagen muss – interstellaren Raumschiffes intelligente Lebewesen befinden.”

“Diese Viecher fressen meine Geranien auf!” rief Pamela erzürnt dazwischen, die mittlerweile ebenfalls im Wohnzimmer stand, aber nur einen kurzen Blick auf den Fernsehschirm geworfen hatte. “Da muss etwas geschehen! Ich gehe mal eben in den Keller!”

Samson und Samuel legten den Kopf zur Seite, als Pamela auf ihrem Weg zur Wohnzimmertür das Fernsehbild verdeckte.

“Alle Versuche, mit der ‘Hantel’ Kontakt aufzunehmen, sind bisher leider gescheitert”, fuhr der Sprecher fort. “Keiner kann daher genau sagen, welche Art von Lebewesen sich an Bord befinden mögen oder wie sie aussehen.”

“Riesenblattläuse!” entfuhr es Junior unwillkürlich.

“Durchaus möglich”, entgegnete sein Vater schmunzelnd. “Aber dass es Blattläuse sind, wollen wir doch nicht hoffen! Die würden sich vermutlich auf unsere eh schon arg gebeutelten Wälder stürzen und sie auffressen. Was wäre das für eine Katastrophe!”

“Nicht auffressen”, sagte Junior, der gerade etwas gelernt hatte. “Sie würden sie aussaugen mit ihren Riesenrüsseln! Uiuiuiui!”

“Na, mach dir mal keine Sorgen”, beruhigte ihn sein Vater. “Komm, schauen wir weiter.”

Fernsehbild und Thema hatten sich aber mittlerweile geändert. Der Schirm zeigte eine dicke Limousine, die vor einem Gebäude mit einer breiten Eingangstreppe vorfuhr, wo mehrere offiziell aussehende Männer in Anzügen bereits warteten. Auf der Seite neben dem Fahrer stieg ein kräftig gebauter Mann aus, ging zwei Schritte nach hinten und öffnete die zweite Tür auf der Beifahrerseite. Ein korpulenter Mann mit spärlicher Frisur, die im gerade herrschenden Wind leicht flatterte, stieg aus und wurde mit einer Verbeugung begrüßt. Dann erklomm er mit seinem Gefolge, das auf ihn gewartet hatte, die Teppenstufen.

Eine Frauenstimme kommentierte dazu: “Die Vertreter der wichtigsten Industrienationen trafen sich heute erneut in Rio de Janeiro mit den Regierungschefs des süd-amerikanischen Kontinents, um über mögliche Maßnahmen zur Rettung des Amazonischen Regenwaldes zu beraten. Massive Flächenbrände drohen die sogenannte ‘Grüne Lunge’ der Erde endgültig und unumkehrbar in eine Steppe zu verwandeln.”

Bilder von halb verkohlten Baumstümpfen mit züngelnden Flammen im Hintergrund unterstrichen die Aussage.

Der Kommentar ging weiter: “Bisher konnte noch keine Einigung erzielt werden. Die Länder Südamerikas bestehen darauf, dass Brandrodungen unverzichtbar seien, um ihre wachsende Bevölkerung zu ernähren. Auf die unverhohlene Drohung der USA mit einem militärischen Eingreifen verließen sämtliche Delegationen Südamerikas unter Protest das Sitzungsgebäude. Ein Zeitpunkt zur Fortsetzung der Gespräche kann momentan . . .”

Plötzlich zeigte das Fernsehbild wieder das Raumschiff und die aufgeregte Stimme des männlichen Sprechers von vorhin war zu hören.

“Beim kosmischen Wanderer tut sich etwas! Es hat den Anschein als käme es bald zu einer ersten Kontaktaufnahme. Eine Art ‘Fliegende Untertasse’ ist soeben ausgetreten. Sie sehen jetzt Bilder, die vor wenigen Minuten aufgenommen wurden, während das Raumschiff sich von Osten kommend dem Luftraum Deutschlands näherte.”

Auf der verwitterten Außenhaut der ‘Hantel’ bildete sich ein dunkler runder Fleck, aus dem gleich darauf ein metallisch reflektierendes, einer Scheibe ähnelndes Objekt hervortrat. Es schien langsam nach unten zu fallen, ebenfalls im gleichen Takt wie das Fernsehbild schwankend, so dass außer einem silbernen Blitzen keine weiteren Einzelheiten zu erkennen waren.

Die Stimme des Kommentators fuhr fort. “Bald werden vermutlich einige der drängenden Fragen, die uns in den letzten Tagen beschäftigt haben, eine Antwort finden. Lassen Sie sich im Übrigen nicht durch die geringen Abmessungen des Objekts auf Ihren Fernsehschirmen täuschen. Aufgrund von Messungen weiß man bereits, dass die ‘Hantel’ etwa fünfzig Kilometer lang ist. Das heißt, die winzige Scheibe auf Ihren Schirmen kann durchaus einen Durchmesser von mehreren hundert Metern haben. Auch ihre Geschwindigkeit dürfte recht beachtlich sein.”

Das Fernsehbild sprang erneut und die Stimme des Sprechers überschlug sich beinahe, als er feststellte: “Ein zweites Flugobjekt tritt soeben aus und nimmt Kurs auf die Erde. Sie sehen jetzt wieder aktuelle Live-Bilder vom Geschehen. Nach Tagen des Wartens kommt nun Bewegung in die Sache. Wo werden diese zwei – nein, jetzt sind es bereits drei! – Flugobjekte landen? — Wie wir gerade hören, ist anhand der geschätzten Sinkgeschwindigkeit und der bekannten Umlaufbahn damit zu rechnen, dass die Flugobjekte irgendwo im Großraum Frankfurt, vielleicht sogar in der Metropole selbst niedergehen werden.”

In der Abschlusstür ging ein Schlüssel und gleich darauf betrat Pamela wieder das Wohnzimmer, in der einen Hand triumphierend eine Spraydose schwenkend. In der anderen Hand baumelten ein Paar Latex-Handschuhe, eine Schutzbrille und ein Mundschutz. Zielstrebig ging sie zum Balkon.

Samuel und Samson beugten wieder den Kopf zur Seite, als sie vor dem Fernseher vorbeiging; eine vierte Silberscheibe verließ gerade das Mutterschiff.

Samuel sprang aber sofort auf und folgte seiner Mutter zum Balkon.

“Mama, Mama!” rief er aufgeregt und erzählte seiner Mutter, was sich gerade auf dem Fernsehschirm zutrug. “Und sie landen in Frankfurt, haben sie gesagt. Da wohnen doch wir! Vielleicht kriegen wir sie sogar zu sehen!”

Pamela ließ sich nicht beunruhigen. “Warten wir mal ab”, meinte sie. “Ich habe gerade Wichtigeres zu tun.”

Sie streifte den Mundschutz über. Dann zog sie die Schutzbrille auf und legte die Handschuhe an.

“Kriegen die ekligen Blattläuse jetzt ihr Fett weg?” fragte Junior.

“Worauf du dich verlassen kannst!” sagte seine Mutter mit etwas dumpf klingender Stimme, aber mit Nachdruck.

Pamela packte ihren Sohn bei der Schulter.

“Und du gehst jetzt bitte zur Balkontür und traust dich keinen Schritt weiter! Das ist Gift, was ich hier gleich versprühe. Oder willst du jämmerlich verenden wie dieses Ungeziefer?”

Samuel tat zwar, wie ihm geheißen, maulte aber: “Und wenn ich jetzt verpasse, wie die Fliegende Untertasse landet?”

“Keine Widerrede!” Pamela drehte sich noch einmal um und drohte mit dem Zeigefinger. “Du bleibst da stehen, bis ich fertig bin!”

Sie beugte sich über die Blumenkästen und begann damit, die Pflanzen darin mit einer Abfolge von Sprühwolken aus ihrer Spraydose einzunebeln. Schließlich richtete sie sich zufrieden auf und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten.

Ein bedrohlicher Schatten fiel auf ihren Rücken. Samuel schaute nach oben und seine Kinnlade fiel nach unten.

Über den Dachrand des Wohnblocks, in dem die Familie lebte, schob sich gemächlich in einigen Metern Entfernung die dunkle metallische Unterseite eines riesigen Flugkörpers, so riesig, dass sich seine Vorderkante in einer fast gerade aussehenden Linie nach links und rechts über die wie Bauklötzchen angeordneten Häuser der Wohnsiedlung erstreckte.

Schier endlose Reihen von pechschwarz aussehenden Löchern wurden nach und nach sichtbar. Sie waren das Einzige, was an Struktur zu erkennen war; sonst war das Metall vollkommen glatt.

Alles vollzog sich mit fast völliger Lautlosigkeit, nur ein leises Zischen war zu vernehmen. Ein feiner Nebel und ein süßlicher Geruch lagen in der Luft.

“Das Raumschiff!” wollte Samuel ausrufen, aber er brachte keinen Ton heraus.

Im Wohnzimmer überfiel den immer noch vor dem Bildschirm sitzenden und den Ausstoß einer Unzahl von Silberscheiben beobachtenden Vater plötzlich eine unerklärliche Angst, die ihm die Kehle zuzuschnüren schien.

Er brauchte Luft!

Er stellte die Bierflasche beiseite, erhob sich und schwankte zur Balkontür.

Dort erwartete ihn ein Bild des Schrecken. Seine Frau hing wie eine Schlenkerpuppe mit dem Oberkörper über den Blumenkübeln und rührte sich nicht. Sein Sohn saß, an den Balkonrand gelehnt, bewegungslos auf dem Boden und starrte mit toten Augen ins Leere. Über allem hing der monströse Schatten des außerirdischen Fluggerätes.

Tot! Sie sind tot!dachte Samson. Sie töten uns einfach. Warum machen sie das? Was haben wir ihnen getan?

Seine Hände fuhren verzweifelt an seine Kehle. Doch es nützte nichts. Seine Lungen gehorchten ihm nicht mehr; sie waren gelähmt. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Langsam sank er wie ein Sack zu Boden. Über ihm zog das fliegende Metallungetüm weiter in Richtung Westen.

Etwas wie Bitterkeit überfiel ihn, während ihm allmählich die Sinne schwanden.

Was hatte sein Sohn gesagt? Vor seinem geistigen Auge erschien das groteske Bild einer Riesenblattlaus, welche die Kontrollhebel eines Kommandostandes bediente.

Verdammtes Ungeziefer! war sein letzter Gedanke.