Story: „Scoolduell“ von Tobias Lagemann

Tobias Lagemann, 1966 in Dortmund geboren, lebt seit 1989 in Aachen und Umgebung, nach abgebrochenem Germanistik-/Komparatistik-Studium über den Umweg als Junge für Alles (in einem Verlag) endlich bei der Post gelandet. Wird seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht und schreibt sich dabei neugierig durch alle Genres (bis auf Nackenbeißer und Blutsverwandte). Er dankt an dieser Stelle ganz ausdrücklich seiner aufmerksamen Testleserin (mit der er zugleich sehr gerne verheiratet ist).

Hätte ich geahnt, welche Folgen unser Duell in der #Scool haben würde, ich hätte zehn Jahre zuvor nicht mit dem Programmieren begonnen. Das hätte zwar meinen Eltern nicht gefallen, die wünschten sich ja doch wie alle Eltern, dass aus dem Kind mal was Vernünftiges wird, aber wenn es zwischen zufriedenen Eltern und dem Ende der Welt abzuwägen gilt, senkt sich die Waagschale recht schnell in Richtung des eigenen Überlebens.

Aber der Reihe nach und damit zu Bernd und seinem ersten Tag in meiner Klasse. Der musste ein ganz besonders schlauer Junge sein, denn mit seinen gerade mal sieben Jahren würde er mit uns zusammen das Abitur machen. Okay, so besonders ist das nicht, in Bayern beginnen gar nicht mal so wenige Mädchen mit sechs Jahren zu studieren, aber doch etwas besonders Ärgerliches für mich, denn ich war zwölf und musste neben Bernd sitzen. Also jetzt nicht in #Rea, meine Eltern haben mich ja in die #Scool geschickt und da ist alles #Virtu. Das erlaubte mir, dass ich mir die Situation ein gutes Stück erträglicher gestalten konnte. Ein paar kleine Hacks in der ersten Pause und Bernd war mit einem mal ein von Pickeln arg geplagter Nerd von achtzehn Jahren. Den ich meinen Eltern in einer #SilWork-Sequence als Beispiel dafür verkaufte, dass es gar nicht schlimm um mich stand.

»Und du hast da auch nicht etwas Verbotenes gemacht?«, wollte mein Vater wissen.

»Verbotenwas?«

»…tenes.«

»Nee.«

»Es handelt sich also nicht wieder …«

»Das war ich nicht«, schrieb ich. Meine Eltern waren ziemlich nachtragend, sie hielten mir die Sache mit dem arg pornografischen Material vor, das ein #Scool-Mod peinlicherweise als Unterrichtseinheit in Geschichte – Thema: Katharina die Große, Zarin deutschen Geblüts – präsentiert hatte. Zwar gab es keinerlei Beweise dafür, dass meine schnell übers Board flippenden Finger mit im Spiel gewesen waren, aber nicht nur meine Eltern verdächtigten mich zumindest der Teilhabe an der Aktion. Entsprechend vorsichtig war ich in Sachen Hacks geworden.

»Lade deinen neuen Freund doch mal zu uns ein«, schrieb meine Mutter. Ja, sie versuchte es immer mit Ablenkungen, wenn sich ein Krach zwischen mir und meinem Vater anbahnte. Dafür mochte ich sie.

»Klar. Mach ich. Hab dich lieb. Kuss. Und, Papa?«

»Ja, mein Liebling?«

»Du denkst ans Spiel? An die Karten?«

»Bekommst du, wenn du die Bio-Einheit bestehst.«

»Klar. Supi. Danke.«

»Du weißt schon, wie ich das meine.«

»Klar doch, ich lasse die Finger vom Board und lerne brav.«

»Prima, mein Liebling.« Prima war fast nix an der Schreiberei mit meinen Eltern, wie immer gab es nur Druck. Dem ich nicht würde ausweichen können, Bio war meine größte Schwäche. An Genen rummachen war nicht mein Ding, auch wenn es sich dabei nur um den richtigen Umgang mit Codes handelte. Ich sah mich als #B-Coder, nicht als #G-Coder, hatte mit dem #B-Programmieren schon vor Eintritt in den Kindergarten begonnen. Sehr zur Freude meiner Eltern, die meine Begeisterung für Bits und Bytes für ein zukunftsweisendes Hobby hielten. Entsprechend großzügig fiel die materielle Unterstützung für mein Hobby aus, denn, so mein Vater, vielleicht macht sich ja – Originalzitat! – »mein kleiner Liebling« noch vor Abschluss der Grundschule als Programmierer selbständig.

Habe ich nicht gemacht, natürlich nicht. Es gab einfach zu viele clevere Kids, die gut mit #B-Code umgehen konnten, vor allem aber echt voll auf der Erfolgsschiene waren, also Kohle ohne Ende machen wollten, während ich es eher locker angehen ließ, beim #B-Coden meinen Spaß haben wollte, also nur witzige Sachen machen wollte.

Und damit bin ich wieder beim »Prima war fast nix«. Denn prima an der Schreiberei mit meinen Eltern war, dass die letzten Buchstaben meines Vaters gerade im atomaren Feuer eines durch mein Zimmer flutenden Weltuntergangs vergingen, als Bernd meinen Hack konterte. Er hatte sich in ein blond bezopftes, dirndltragendes Mädel mit gerade jottwede gegangenen Milchzähnen verwandelt.

»Hallo Bernadette«, schrieb ich und tat so, als hätte er mich nicht überrascht.

»Du bist echt nett, Zonen-Gabi, möchtest du meine Freundin sein?«

Freundin? Moment …

Und, äh, ich habe zwar echt flotte Finger am Board, aber ich brauchte dann noch so ein, zwei, drei weitere Momente, um zu verstehen, was er aus mir gemacht hatte. Ich wusste nämlich nicht, was eine Zonen-Gabi ist. Zonen kannte ich nur im Zusammenhang mit Coden, dabei handelte es sich um unterschiedlich intensiv geschützte Zonen des #sww. So dass ich zuerst nach dem #Tag einer Hackerin namens Zonen-Gabi suchte. Die war mir zwar noch nicht übers Board gelaufen, aber was heißt das schon, das #sww ist ja eine echt große Angelegenheit, umfasst ja augenblicklich das gesamte Sonnensystem.

Nee, also das geht zu weit, dachte ich, als ich sah, was Bernd aus mir gemacht hatte. Sie kennen den #VidFeed ja, kurz vor dem großen Rumms habe ich den ins #sww eingespeist, ich als dauergewellte Blondine Banane essend, dazu freudig mit strahlend blauen Augen in die Cam blickend und dann sächselnd: »Isch gönnde misch sinnlous midd Schbageddi behengn.«

Das war gewiss ein Fehler, denn ich war nicht wütend, wirklich nicht, ganz im Gegenteil, ich war amüsiert. Denn da war mit Bernd jemand, der gut war, mit dem es Spaß machen würde, sich die Codes um die Ohren zu tippen, bis einem von uns keiner mehr einfiel, der den Hack zuvor noch toppen konnte. Gerade auch wegen der Schbageddi, in die sich meine blonde Dauerwelle gegen Ende des #VidFeed verwandelten. Hey, dachte ich, der Bernd ist sieben Jahre alt, den schaffe ich. Und so schaffte ich ihn noch vor Ende der #SilWork-Sequence als Margot in eine ZK-Sitzung. Ich fand das passend, die Dame mit der blauen Dauerwelle war ja – ich gestehe, ich musste es recherchieren – seinerzeit für Volksbildung zuständig. Und wo waren wir? Genau, in einer Bildungseinrichtung.

»Nickie!« Oha, der #Mod.

»Anwesend« schrieb ich flott und ließ dabei Margot nicht von meinem Bildschirm verschwinden.

»Wir haben zwar Deutsch, aber nicht Deutsch-Deutsche Geschichte.«

»Ich war das nicht …«

»Nickie?«

»Anwes«

Weiter kam ich mit dem Schreiben nicht, denn ich hatte Bernds Konter entdeckt. »Nun?«

»Anwesend. Das war ich nicht. Wirklich nicht.«

»Profile kann man nicht hacken, Nickie.«

Ha, dachte ich, das denkst auch nur du und der Rest der Lehrerschaft und gewiss auch die, die #Scool als prima Methode für den Heimunterricht wohlhabender Kinder anbieten. Selbstverständlich kann man Profile hacken und damit Schabernack treiben, das weiß doch jeder Coder, der sich seinen Code nicht mit dem #Script-Kit schreibt, sondern wirklich coden kann. Womit ich wieder bei Bernd bin, der eben diese Kunst auch meisterhaft beherrschte. Mich hatte er in einen Autofahrer verwandelt, der mit einem abschreckend altmodisch gestylten Auto wiederholt gegen eine Mauer fuhr, auf der Stand Die Mauer muss weck.

Immerhin hatte Bernd bei seinem Hack einen Fehler gemacht, das ließ hoffen, dass er weitere machte. Ich beschloss, ihn zu provozieren, griff seinen Schreibfehler auf und machte aus ihm einen Wecker, dessen Zeiger Fünf vor Zwölf anzeigten.

Kennen Sie Tom und Jerry? Ich kannte die nicht bis zu dem Augenblick, als mir eine frech grinsende Maus eine brennende Dynamitstange in mein Katzenmäulchen stopfte und geschwind mit einem großen Pflaster zuklebte.

Rrrrrums.

Okay, Bernd du willst …

»Nickie?«

»Anwesend.«

»… Krieg? Du kannst ihn haben.«

»Wie viele Handlungsorte finden sich im Götz von Goethe?«

Ich sendete dem Mod ein paar gelangweilt dreinschauende Bilder von kaiserlichen Soldaten, dann Bernd ein Bild eines Arschs, der von ihm geleckt wurde.

»Nickie?«

»Anwesend.«

»Die Mauer muss weg. Weg mit g.«

Ich eroberte mir mein Profil zurück, indem ich die Burg sturmreif schoss, die Bernd aus Code errichtet hatte. Mit wehenden Fahnen zog ich durch das zerschossene Tor in mein Profil ein und hisste eine Flagge, auf der ich als Zonen-Gabi zu sehen war.

»Danke, Nickie. Und nun, bitte, die Antwort auf meine Frage.«

»Anwesend.«

»Scheint mir nicht so.«

Ja, ich war abgelenkt, nein, ich gab es nicht zu. Dafür war ich viel zu beschäftigt, denn Bernd blockte so vier, fünf meiner Hacks ab, bevor ich ihn mit dem sechsten in eine Frau verwandelte, die »Ausgerechnet Bananen« sang. Geschafft.

»50.«

Die Zahl nahm ich zum Anlass, die singende Frau zu entblößen und die Blöße beinah zugleich wieder mit einem Kleidchen aus fünfzig Bananen zu bedecken.

»Nickie und Bernd?«

»Anwesend.«

»Dito.«

»Ihr stört.«

Hatte ich mich verhackt? Konnte nicht sein.

»Ich war es nicht«, schrieb Bernd.

Ich lachte.

Das Lachen war in der Klasse zu hören. Bernd hatte mein Mikro gekapert. Ja, bis dahin war alles nur eine alberne Kabbelei unter zwei coolen ScoolKids, die echt was auf dem Kasten hatten. Was die beiden zu dem Zeitpunkt nicht wussten: In der #Ware meines Rechners war ein kitzekleiner Programmierfehler, just in dem Teil des Codes, der für die Steuerung des Mikros zuständig war. Im normalen Betrieb kam der Fehler nicht zum tragen, griff jedoch jemand von außen mit bösen Absichten auf mein Mikro zu, verselbständigte sich der Fehler. Bei meinem blitzneuen Quantencomputer erwies sich das als katastrophal. Die Katze war da, dann weg, dann zu viert, war da, miaute, leckte sich die Bäuche – ja, Bäuche, in der Welt der Quanten kann eine Katze sehr, sehr viele Bäuche haben -, war weg, kam nicht zurück, blieb weiter abwesend, hey, wo bleibt denn die Katze, die kann doch nicht einfach fortbleiben, die …

Damit war der Geist aus der Flasche oder anders formuliert: Kater Tom schlich sich quantenspringlebendig in den Zentralrechner des Weltverteidigungskommandos – Sitz, ja, in Berlin – ein. Das hatte man einst für eine tolle Idee gehalten, das mit Berlin, habe doch das Ende des Kalten Krieges mit der Wiedervereinigung Deutschlands ein erstes Highlight gefunden, aus dem letztlich die Einigung der Welt erwachsen sei. Das habe zwar gedauert, aber egal. Berlin, Berlin, wir vereinigen uns in Berlin.

Aber diese Welt, also die Erde, war zum Zeitpunkt der Einigung nur eine von vielen bewohnten Schwerkraftdellen im solaren System. Auf der Venus tummelten sich Menschen, auf dem Mars sowieso, Ceres war unter Touris echt angesagt, im Gürtel schnallten die Prospektoren angesichts unvorstellbarer Vorräte an Erzen die Gürtel nicht enger, sondern weiter, ein Billionär ließ im Schatten der Saturnringe ein Generationenraumschiff bauen et cetera perge perge. Oder kurz und knapp gesagt: Die Menschen waren überall. Und wie das so ist mit den Menschen, sie können sich zwar einigen, aber das ist nur von Dauer, wenn sie sich darauf einigen können, dass andere nicht dazu gehören. Zwar lebte die Menschheit die mit diesem Denken verbundene Konfliktfreudigkeit nicht mehr mit der Üppigkeit früherer Jahrhunderte aus, aber man wappnete sich für den Fall der Fälle, also: Sicher ist sicher. Und: Ein paar Waffen sind ganz besonders sicher. Vor allem: Viele Waffen garantieren Frieden und Freiheit blablabla.

Kater Tom, und damit hatten weder Bernd noch ich auch nur das Geringste zu tun, legte der Maus, in die der sich munter rumquantende Softwarefehler den Zentralrechner des Weltverteidigungskommandos der Erde verwandelt hatte, eine brennende Dynamitstange auf den Schwanz, pappte ihn mit einem Schleifchen fest und dann, Trickfilmexperten wissen es, explodierte die Maus mit einem Rrums.

Okay, dieser Rrums war dann doch etwas mehr, denn während Jerry nur das Fell zerzaust wurde, kippte das über dem Zentralrechner liegende Brandenburger Tor um. Da das bei der nach einem Rohrbruch erfolgten Verflüssigung des märkischen Sandes schon mal fast geschehen war, nahm den Umfaller niemand wirklich ernst. Als sich dann jedoch Raketen aus dem Boden schoben, überraschend kleine, spitze Dinger, die mit Donnergetöse abhoben, hieß es #BreakingNews.

Als die Raketen die Schwerkraft der Erde überwanden, machte sich Nervosität breit, denn der Rückrufbefehl für die Raketen funktionierte nicht.

»Sorry, wir waren das nicht. Wir wollen das nicht. Wir kommen für alle Schäden auf«, schrieb die Erdregierung immer und immer wieder ins Sonnensystem hinein.

Die kurze Antwort: #Thismeanswar

Dann #TheMartianEmpireStrikesBack

… #maytheforcebewithyou

»Nein. Stop. Halt. Alles auf Anfang.«

»Say it in English, please.«

Der letzte Satz stammte von mir, ja, ich hatte das »Say it in English, please« getippt. Ich hielt all die Action, die sich auf meinem Screen zeigte, für eine Spielerei Bernds. Und, ja, ich versuchte zu kontern, nun ja, ich konterte beziehungsweise hatte bereits gekontert, gleich zu Beginn nämlich, als sich die Raketen aus der Mitte Berlins erhoben hatten. Ähm, ja, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, ich hatte den Rückrufbefehl der Raketen außer Kraft gesetzt. Wie gesagt, ich hielt all das, was mir mein Screen optisch und akustisch bot, für eine Spielerei Bernds. Und er, das weiß ich jetzt, hielt all das, was sich auf seinem Screen sehen und hören ließ, für meinen Hack. Den er natürlich auch konterte, eigentlich wollte er mit dem betreffenden Hack die Raketen bloß mit einem großen Netz fangen, aber der Softwarefehler meiner Mikro-Ware quantete so munter herum, das Netz legte solarsystemweit alle Verteidigungsmaßnahmen lahm.

Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrums.

Ein großes Krachen und Bersten und Sterben begann, aus dem die auf der Erde lebenden Menschen als glückliche Überlebende heraus gekommen wären, ja, wären, denn es war ja ein Krachen und Bersten. Das sehr, sehr viele große und kleine Trümmerteile durch das Sonnensystem sausen ließ. Da das Netz die Asteroidenabwehr als Verteidigungsmaßnahme eingeschätzt und ergo ausgeschaltet hat, war die Erde dem sich nähernden kosmischen Bombardement letztlich schutzlos ausgeliefert. Für die, die konnten, hieß es: Ab unter die Erde. Ganz, ganz tief. Dort war natürlich nicht viel Platz, so dass wirklich nur die, die konnten, weil sie viel, viel Geld hatten oder sehr, sehr gute Beziehungen, in die Tiefbunker hinabsteigen durften. Und zu meiner großen Erleichterung mussten auch ein paar Menschen zwangsweise nach unten, weil sie Riesenmist gebaut hatten. Damit meine ich mich und Bernd. Zur Strafe – ja, echt jetzt – sollten wir überleben, denn wir sollten ein Leben lang nicht vergessen, dass wir die Menschheit ausgelöscht hatten.

Und so sitzen wir jetzt in #Rea nebeneinander und können gar nicht fassen, was für einen Mist wir gebaut haben. Bernd ist nämlich keine sieben Jahre alt, er ist zwölf, er hatte sein Scool-Profil bloß etwas aufgehübscht, um in seiner neuen Klasse nicht gleich als Looser einzusteigen. Und er mag Mädchen aus Bayern, so wie ich eines bin, auch wenn ich jetzt nicht mehr in Bayern bin, sondern in einem Bunker tief unter Hamburg. Hätten wir das alles bloß mal vorher gewusst, wir hätten beide niemals mit Programmieren angefangen. Das hätte zwar meinen Eltern nicht gefallen, denn … Aber das habe ich, glaube ich, schon gesagt.