Story: “Ranya stürzt ab” von Lisa Jenny Krieg

Lisa Jenny Krieg ist Ethnologin und forscht als Postdoktorandin an den Universitäten Bonn und Jerusalem zum Thema Mensch-Natur-Technologie-Beziehungen im Anthropozän. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter, und Katze Lila in einem kleinen Dorf in der Wüste im Süden Israels.

“Scheiße! Verdammte Scheiße!”
Ranya kickte gegen den Kotflügel. Seit einer halben Stunde versuchte sie nun schon das Ornithomobil zu reparieren. Aber es war einer dieser Tage, an denen nichts klappte. Und inzwischen war dieser Tag zur Nacht geworden.
Sie versuchte, das Mutationstriebwerk neu zu starten, aber ihre improvisierte Verbindung hielt dem Druck nicht stand. Das Kabel riss, und ein Schwall blauer Flüssigkeit explodierte ihr ins Gesicht.
“Verdammter Mist!”
Sie kickte noch einmal nach, bis ihr Ornithomobil empört krächzte, und den Kopf zu ihr umdrehte.
“Schon OK, Zehnzwo,” sagte sie. “Ich hab’s nicht so gemeint.”
Sie streichelte ihm über die schwarzen Federn und den großen, schwarzen Schnabel. Im Licht des Vollmonds glänzte der ganze Vogel blau.
Zehnzwo schnurrte.
“Genau, so ist’s gut, braver Vogel,” murmelte Ranya.
 
Der Absturz war ein würdiges Ende für einen miesen Tag. Sie hatte nichts erreicht, und das trotz sorgfältiger Planung. Die Karte stimmte, sie war sich sicher. Und trotzdem hatte sie auf der Grünspitze nichts gefunden. Außer einer Schar wütender Leguan-Kriegerinnen auf dem Gipfel-Plateau, die beinahe für das Ende ihrer Reise gesorgt hätten. Sie trafen Zehnzwo äußerst ungünstig am Mutationstriebwerk, natürlich genau an dem Kabel, das sie gestern nicht ordentlich geflickt hatte.
Den ganzen Tag hatte sie mit der Suche verbracht, und sicherlich wartete Manna schon zu Hause mit vor Aufregung zitternden Händen.
Sie hatte es natürlich auch nicht lassen können, vor Manna groß herum zu erzählen, dass sie einen todsicheren Hinweis zu einem absolut zuverlässigen Händler hatte, der eine Karte hatte! Eine echte, originale, handgefertigte, Tinten-gemalte Karte mit allen Verstecken, allen! Verstecken! Von Lilienthals letzten Vorräten an Diglaster poreus. Und dass sie als erfolgreiche Späherin, mehrfach ausgezeichnet, sie mit Sicherheit finden würde.
Und jetzt saß sie hier in dieser Wüste, in einem Tal, umrundet von Bergen, die komische Schatten im Mondlicht warfen. Mit Zehnzwo, dessen Federn vor Erschöpfung zitterten, und dessen Mutationstriebwerk. Einfach. Nicht. Funktionierte!
 
Sie warf die Zange auf den Boden und fluchte.
In den Libellennestern in den überhängenden Felsen zehn Meter über ihnen brannte noch flackerndes Licht.
Ranya bildete sich ein, ein Kichern zu hören. Das fehlte ihr gerade noch. Sie hielt still und lauschte. Zehnzwo quietschte, als er von einem Bein aufs andere trat.
Und dann hörte sie schwirrende Flügel und ein Kichern, das näherkam. Ranya schloss die Augen für einen Moment, und atmete tief durch.
Klonk.
Ein Tippeln auf Blech.
Dann ein Krächzen und Quietschen, als Zehnzwo versuchte, die Libelle, die auf ihm gelandet war, los zu werden. Zehnzwo mochte die besserwisserischen Insekten so wenig wie sie.
“Bruchlandung, was? Musste wohl noch mehr üben!” summte die Libelle, und brach in schallendes Gelächter aus.
“Haha, sehr witzig,” brummte Ranya.
“Warum so schlechte Laune? Probleme bei der Reparatur?” Ranya sah die Schadenfreude in ihren vom Mondschein beleuchteten Facettenaugen.
“Nein, nein. Alles bestens,” sagte sie durch zusammengepresste Zähne.
“Mmmh. Lass mal gucken.”
Die Libelle flog los und riss ihr mit flinken Händen den Schraubenzieher aus der Hand, und landete in der Vertikalen an Zehnzwos Seite, genau auf dem Mutationstriebwerk.
“Hey, nein!”
Ranya wedelte mit den Händen durch die Luft um die Libelle zu verscheuchen, und holte gerade zu einem gezielten Schlag aus, als das Triebwerk zu spucken begann, und Funken spritzte.
“Was hast du hier nur getrieben?” surrte die Libelle, und schüttelte den Kopf.
“Gar nichts! Ich habe nur versucht, das Ausgangskabel mit dem Elementarverstärker zu verbinden, damit -”
“Dumme Idee! Sehr dumm!”
Mit flinken Händen schraubte die Libelle im Triebwerk herum, und nahm ihre Mundwerkzeuge zu Hilfe.
Zehnzwo hatte entspannt die Federn aufgestellt, und begann zu glucksen. Ranya nahm das als Zeichen, dass die Libelle irgendetwas richtig machte. Was soll’s. Dann ließ sie sich eben von einer Libelle helfen. Sie atmete geräuschvoll aus. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt.
 
Über ihnen hatten sich die letzten Wolken verzogen, und die Abendsterne leuchteten hell.
Bald würden sich die Nachtblumen öffnen. Ranya seufzte. Wieder einen Zyklus vergeudet. Wieder kein Diglaster poreus für Manna. Und wieder keine Transspeziation für sie, oder für irgendjemand anderen in Klippe.
Die Zeremonie war überfällig. Sie brauchten dringend neue Späherinnen. Und ihre nächste Einweihung stand kurz bevor. Stand genau genommen schon seit zwei Zyklen kurz bevor. Was sie dafür geben würde, endlich ein Herpetomobil zu fliegen! Einer der purpurnen Pterodactyli vielleicht…
Sie seufzte, wischte sich die Haare aus der Stirn, grau mit Staub und schweißverklebt, band sie zu einem Pferdeschwanz, und schnürte ihre Jacke zu. Der Wind war kalt geworden.
 
Die Libelle surrte und arbeitete so schnell an Zehnzwos Mutationstriebwerk, dass Ranya den Überblick verlor darüber, was dort genau vor sich ging. Sie ärgerte sich jetzt schon darüber, dass sie bestimmt später ratlos in der Werkstatt stehen würde, und ihr eigenes Ornithomobil nicht mehr verstehen würde, zum Spott von ganz Klippe. Aber sie hatte keine Energie mehr.
Sie schloss die Augen, und atmete den Geruch von Sand, Nacht, und Wüstenblumen ein, und langsam wieder aus. Ihr Rücken tat weh, und ihre Handgelenke beschwerten sich.
 
Eine leise Melodie bestätigte, was sie schon geahnt hatte. Die Nachtblumen öffneten sich. Mit den immer gleichen fünf Tönen, mal langsam, mal schnell, wuchsen die Blumen aus dem Sand in mehrere Meter Höhe.
“Weg da!” schrie die Libelle ihr gerade noch zu, und mit einem Satz zur Seite rettete sich Ranya gerade noch davor, von einer der durch den Boden stoßenden Blumen in fünf Meter Höhe getragen zu werden.
Sie schüttelte sich. Sie musste schlafen. Und essen. Aber nicht hier. Hier musste sie sich zuallererst zusammenreißen.
Um sie herum hatten sich zehn, zwölf singenden Blumen in die Höhe geschraubt. Schwarze, samtige Blütenblätter falteten sich auf, und jede einzelne Blüte drehte sich langsam dem Mond zu. In ihrer Mitte zeigte sich eine schwarze, glänzende Perle, pulsierend mit reflektiertem Mondlicht.
Die Libelle dreht sich kurz nach den Blumen um, zischte, und wandte sich wieder Zehnzwo zu. “Ungeziefer!” brummte sie.
Wie auf ein lautloses Kommando explodierten die Perlen aller Nachtblumen gleichzeitig. Die Melodie, die von ihnen ausging, wurde kurz lauter, dann verstummte sie. Und Tausende und Abertausende von Samen, leuchtend wie Glühwürmchen, flogen durch den Nachthimmel. Das war’s, hiermit war es offiziell Asten. Ba war vorbei. Vergangenheit. Ein weiterer Zyklus.
“Wunderschön,” entfuhr es Ranya, und sie schlug sich sofort die Hand über den Mund. Sie war wirklich nicht mehr konzentriert. Die Libelle brach in Lachen aus.
“Bist wohl noch nicht viel rumgekommen,” kommentierte sie.
Ranyas Gesicht wurde heiß, aber sie würde sich sicher nicht die Blöße geben, sich jetzt vor der Libelle zu erklären. Sie winkte ab und brummte vage.
“Wo warste überhaupt? Is nich viel, hier.”
“Ach, bisschen den Vogel bewegt,” sagte Ranya ausweichend.
“Quatsch. Bist ne Späherin, was? Sieht doch jeder.”
Ranya zuckte die Schultern.
“Hast wohl was gesucht?”
“Nee.”
“Ihr sucht doch immer was. Sucht und sucht. Man könnte ja was verpassen.” Die Libelle schüttelte den Kopf. “Könntet ja auch einfach mal zu Hause bleiben! Unruhiges Volk.”
Leicht gesagt, wenn man Flügel hat, und keine Transspeziation braucht, um fliegen zu können.
 
Und dann sah Ranya ungläubig, wie blauer Elementarfluid und gelbes Gentranswasser sich im Mutationstriebwerk zu einer violetten Flüssigkeit mischten, blubberten, und leuchteten, während Zehnzwo euphorisch gackerte.
“Wie…?” begann sie zu fragen, aber sie wollte sich nicht erneut vor der Libelle blamieren, und brach ihre Frage vorausschauend ab.
“Ha, hättste nicht gedacht, was?” entgegnete die Libelle.
“Also…” sie zögerte. Zugegeben, Libellen hatten einen schlechten Ruf in Klippe. Im ganzen nördlichen Trockenwald. Vor allem seit dem Vorfall am Grünspitzsee. Mit ihren großen Augen und den Mundzangen sahen sie eben auch nicht sehr vertrauenserweckend aus. Sie konnte Zehnzwos Stimmung weitaus besser lesen, als die jeder Libelle. Und er war ein Ornithomobil!
“Warum…?” Sie war nicht mehr imstande, in ganzen Sätzen zu reden. Aber die Libelle verstand.
“Ihr denkt eben immer nur das schlimmste,” surrte die Libelle, “aber weißte was? Wir können auch ganz freundlich.”
Und damit flog sie los, schwirrte Ranya surrend vors Gesicht. Ranya unterdrücke den Impuls, die Libelle wie störendes Ungeziefer wegzuscheuchen, und da war sie auch schon weg, zurück zu den Felsennestern. Wie unzählige kleine Feuer in der Dunkelheit zierten sie die Felswände.
 
Ranya schüttelte die Müdigkeit von sich. Sie zog ihren Helm auf, griff nach den Zügeln, und stieg auf. Sie presste ihre Füße auf die Transmutationsspiralen. Zehnzwo krächzte, und richtete sich auf. Sein ganzer Körper vibrierte und leuchtete schwarzblau. Er breitete seine gefiederten Schwingen aus, und hob mit einem schwungvollen Satz ab, mitten hinein in den Nachthimmel.
Der Wind blies Ranya ungemütlich ins Gesicht, und sie spürte jeden schmerzenden Muskel. Aber nicht mehr lange. Sie zählte die Sekunden.
Und da kam es. Wie ein Blitz durchfuhr es sie, wie ein elektrischer Schock. Das Transmutationstriebwerk hatte sich warmgelaufen, und die Ekstase setzte ein. Wellen von Wärme durchfuhren ihren Körper. Sie atmete aus, und ließ eine Welle nach der anderen durch ihren Körper fließen. Von ihrer Mitte bis in die Zehen und Fingerspitzen wogten immer schneller, bis sich ihr Körpergefühl ausdehnte und die Grenzen ihres Ichs sich auflösten. Sie war Ranya, sie war Zehnzwo, sie war die Nacht und die Wüste und der Wind und die Weite. Sie war Mensch, Rabe und Maschine. Sie war alle Elemente, und alles was sie verband. Das war es wert, alles, immer wieder und wieder, für diesen Moment.
Ihr Wille war mit Zehnzwo verschmolzen, die Zügel nutzlos geworden. Schnell wie der Wind jagten sie durch die Nacht, Rabenfrau, Robotervogel, gefiederter Cyborgmenschenrabe. Sie wussten beide, wohin es ging.
Nach Hause.

ENDE