Rezension: “Salzgras & Lavendel” von Gabriele Behrend

Douglas Hewitt ist in der Verwaltung von Acodis Inc. als “Datenarchäologe” tätig. Kaynee Simmons arbeitet im “Zenith”, einem Traumazentrum außerhalb der Stadt. Douglas ist im Ghetto unter “Wilden” geboren, die sich kein Implantat und “Persönlichkeitsset” leisten können. Nachdem er zur Waise wurde, erhielt er im Heim zumindest ein “Basisset”, das ihm ein sozialverträgliches Verhalten ermöglichen sollte. Kaynee dagegen hat ihr “Socket” gleich nach der Geburt implantiert bekommen und switcht nach Bedarf und Situation zwischen den vielen “Abspaltungen” ihrer künstlich erzeugten multiplen Persönlichkeit hin und her.

Die beiden leben im Zeitalter der “Effizienzdiversität”. Die in der Regel postnatal eingesetzten Implantate haben eine Gesellschaft hervorgebracht, die auf Effizienz getrimmt ist. Die Technik, die aus der Gamer-Szene hervorging, führte nicht nur zu einer Leistungssteigerung jedes Einzelnen, sondern ermöglicht es der großen Mehrheit auch, auf alle nur denkbaren Situation angemessen zu reagieren. So “kommen alle viel besser miteinander aus”, findet Kaynee.

Doch der äußere Schein trügt. Douglas zum Beispiel führt ein einsames und eintöniges Leben. Er wird von Ängsten und Zweifeln geplagt, die ihn bis in seine Träume verfolgen. Und dann begeht er – scheinbar aus heiterem Himmel – einen Mord. Um der Haft zu entgehen, bleibt ihm nur der Ausweg, sich ebenfalls eine multiple Persönlichkeit implantieren zu lassen. Im “Zenith” trifft er auf Kaynee, die seine “Patin” wird – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ihre Hardware Fehler aufweist und sie die Kontrolle über sich verliert.

“Salzgras & Lavendel” spielt an einem unbestimmten Ort in der Zukunft, an dem “alles seinen ruhigen Gang” geht, während die Welt ringsum “an allen Ecken und Enden brennt”. Die Autorin streut nur wenige Hinweise auf klimatische Veränderungen und auf den technischen Fortschritt ein. Sie konzentriert sich auf die Frage, wie eine Gesellschaft aussähe, in der technische “Aufspaltungen” der Persönlichkeit – “neuronale Cluster” genannt – die Regel sind. Indem man Katy, Keira, Kandy, Kassy und Kaynees andere “Splits” in Aktion erlebt, hat man bereits nach wenigen Seiten einen lebhaften Eindruck davon, wie die Menschen im Alltag damit umgehen.

Am Beispiel von Douglas zeigt Gabriele Behrend, dass diese Technik für Menschen mit schweren Traumata ein Segen sein kann. Auf der anderen Seite stellt das Buch kritische Fragen: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn eine solche Technik zur Norm wird, sie sich aber nicht jeder leisten kann? Wenn der öffentliche Frieden gefördert wird, aber niemand mehr eingreift, um Verbrechen zu verhindern? Was passiert, wenn die Technik versagt oder Fehler in ihrer Anwendung passieren? Wie würde der Staat reagieren, wenn ein Dogma ins Wanken gerät? Was die multiplen Persönlichkeiten betrifft, läuft der Roman auf die Frage hinaus, ob eine Separation – wie Kaynees “geordnetes Haus” – oder die Fusion der einzelnen Ich-Aspekte die richtige Antwort ist, um ein glückliches Leben zu führen.

Das alles packt die Autorin in eine Geschichte, die weder trocken noch langweilig ist. Dafür sorgen unter anderem die Nebenfiguren: der Techniker Sanders Mayerhoff, der neben seiner Arbeit im “Zenith” geheime Experimente durchführt und eifersüchtig auf Douglas ist; und Claire Paulson, die Leiterin des Traumazentrums, die als Spezialistin für “adulte Diversität” gilt – und die am bittersüßen Ende des Romans auf ganz unerwartete Weise zu Douglas’ Retterin wird.

Hier und da ist der Autorin beim Schreiben die Fantasie durchgegangen. Ein Meeting aller Ich-Aspekte im eigenen Kopf? Und im Kopf einer anderen Person? Das sind großartige Szenen, die noch dazu perfekt in die Dramaturgie passen. Sie erscheinen jedoch übertrieben.

In Stil und Sprache ragt das Buch deutlich aus der Masse der Science-Fiction-Literatur heraus. Die Verwendung des Präsens schafft eine große Nähe zu den Protagonisten. Mit einfachen Mitteln gelingt es der Autorin jederzeit, den Leser durch die vielen Ich-Aspekte der Figuren zu lotsen, so dass man immer genau weiß, mit welchem man es gerade zu tun hat.

Für die zentrale Frage des Buchs – Separation oder Fusion? – findet Gabriele Behrend starke Bilder. Eine eindeutige Antwort sucht man vergebens. Wahrscheinlich, weil es keine gibt.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum: