Tobias Lagemann, 1966 in Dortmund geboren, lebt seit 1989 in Aachen und Umgebung, nach abgebrochenem Germanistik-/Komparatistik-Studium über den Umweg als Junge für Alles (in einem Verlag) endlich bei der Post gelandet. Wird seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht und schreibt sich dabei neugierig durch alle Genres (bis auf Nackenbeißer und Blutsverwandte). Er dankt an dieser Stelle ganz ausdrücklich seiner aufmerksamen Testleserin (mit der er zugleich sehr gerne verheiratet ist).
Wir lasen vom Krieg in der Zeitung, er würde auch zu uns kommen. Ein Termin stünde zwar noch nicht fest, aber im Herbst wäre er da. So recht wussten die Kinder mit der Ankündigung nichts anzufangen, als jedoch im Laufe des Sommers auf allen Kanälen ausführlich über den nahenden Krieg berichtet wurde, begannen sie sich zu freuen. Ihnen gefielen die Bilder der Panzer, die sich durch Schlamm wühlten, auch die donnernden Geschütze beeindruckten sie sehr. Und beim Anblick der Soldaten in ihren schmutzigen Uniformen, die Augen entschlossen nach vorn gerichtet, wollte unser Sohn sogleich das Soldatenhandwerk erlernen. Dass er erst mit Sechzehn zum Militär durfte, das fand er blöde. Und um zu betonen, wie blöde er das fand, wiederholte er das Wort drei Mal. Was wir ihm durchgehen ließen, er war sichtlich enttäuscht, erst in sieben Jahren in den Krieg ziehen zu können. Wir trösteten ihn damit, dass der Krieg ja vielleicht bis dahin ein weiteres Mal in unsere Gegend käme. Und da wäre er dann ja auch schon größer, da würden wir ihn ganz nah an die Front lassen, und vielleicht wäre es auch möglich, dass er in einer Feuerpause mit Soldaten sprach. Unsere Tochter verlangte das sogleich auch für sich, und um uns zu beweisen, was für ein guter Soldat sie war, paradierte sie im Wohnzimmer mit dem Holzgewehr ihres Bruders auf und ab. Ihr Schritt knallte nur so auf das Parkett, wir luden ein Video von ihr sogleich bei wartube™ hoch. Dennoch versuchten wir, ihr den Berufswunsch auszureden, denn welchen Sinn machte es, Kinder von Etwas träumen zu lassen, das an den Realitäten scheitern musste. Zur kämpfenden Truppe dürfe sie nicht, erklärten wir ihr, aber Ärztin könne sie werden, als Militärärztin wäre sie ja fast auch ein Soldat. An der Front kämpfen würde sie zwar nicht, aber sie wäre dicht dahinter, zudem dürfe sie eine Waffe tragen. Wir malten ihr die Abenteuer aus, die sie in einem Feldlazarett erleben konnte. Gerade zur rechten Zeit sah sie eine Dokumentation im Fernsehen, die über das blutige Handwerk von Militärärzten aufklärte. Das gefiel unserer Kleinen und sie wollte in Blut und Schmutz stehend Soldaten zusammenflicken, ach, aber nicht nur, sie würde auch amputieren, jawoll, denn das machten Militärärzte ganz oft. Würdest du mich einem anderen verletzten Soldaten vorziehen, wollte unser Sohn wissen. Unser Tochter überlegte kurz, dann schüttelte sie ihr Köpfchen, sagte – und das beeindruckte uns wirklich sehr, sie war ja erst sieben Jahre alt -, dass an der Front nur der Soldat zählt, nicht das Verwandschaftverhältnis. Nicht nur die Kinder freuten sich auf den nahenden Krieg, auch wir taten es. Aufgewachsen in einer Zeit, in der Kriege etwas Fernes waren, etwas, das in anderen Ländern geschah und uns nur via Fernsehen und Internet erreichte, spürten wir, dass uns etwas fehlte. Ja, wir kannten Bilder von Massakern und verwüsteten Städten, aber all das aus nächster Nähe zu sehen, ach was, es aus nächster Nähe mitzuerleben, war doch etwas gänzlich Anderes. Am Rand der Stadt würde gekämpft werden, also fast vor unserer Haustür, es würde Zuschauertribünen geben und Großbildleinwände, um besonders dramatische Kämpfe in Zeitlupe wiederholen zu können, so lasen wir auf Plakaten. Wie eine Glocke würde sich der Gefechtslärm über die Stadt legen, eine Woche lang würden Geschützdonner und das Tackern automatischer Waffen unsere ständige Begleiter sein. Und des Nachts, wenn ein Feuerüberfall den Gegner zu schwächen versuchte, würden wir erschrocken aufwachen und uns aneinander klammern. Wir würden gewissermaßen im Krieg leben und mit dem Krieg, wir würden erfahren, wie Krieg wirklich war. Selbstverständlich kannten wir die sogenannten Argumente der Pazifisten, wir wussten also, dass sie den nahenden Krieg als Showveranstaltung verlachten. Denn als solche habe der uns versprochene Krieg nichts mit den brutalen Wahrheiten eines echten Krieges gemein. Ja, unser Krieg war eine Show, aber in ihr wurden echte Soldaten wirklich verletzt, verstümmelt und sie starben, zumeist qualvoll. Denn die Kugeln waren aus echtem Blei, die Granaten angefüllt mit echtem hochexplosivem Sprengstoff, und wenn ein Jagdbomber Napalm abwarf, dann brannte das Land. Auch wenn er eine Show war, der Krieg war echt. Erfreulicherweise gab es in unserem Bekanntenkreis kaum Pazifisten, und wenn doch, dann waren sie vernünftig genug, uns nicht mit ihren sinnfreien Bedenken zu belästigen. Wir bereiteten uns auf den Krieg selbstverständlich gewissenhaft vor, was besonders unseren Kindern große Freude bereitete. Wir horteten im Keller Konservendosen, Nudeln, Getränke, Trockennahrung, Getränke, wir spalteten Holz für den Fall, dass die Stromversorgung ausfiel, lagerten Batterien ein und auch einhundert Liter Benzin für unser Auto, denn man wusste ja nie, ob sich der Krieg nicht vielleicht ausweitete, wir zwischen die Fronten gerieten. Natürlich würde das nicht geschehen, aber unsere Kinder hatten einen Mordsspaß beim Schmieden all der Notpläne. Große Freude bereitete ihnen auch das Einkaufen. Denn natürlich kam in der Stadt beinah jeder auf die Idee, sich das kleine Extra von Hamsterkäufen zu gönnen. Der Krieg kam zum ersten Mal zu uns, da an der falschen Stelle zu sparen, würde den Spaß mindern. Wer belud seinen Einkaufswagen am schnellsten, wem gelang es, andere Hamsterer aus den Schlangen vor den Kassen zu drängen? Das Hauen und Stechen um die letzten Konserven sahen wir jedoch nur noch aus der Ferne, ich hatte einen Bekannten bei der Stadtverwaltung bestochen, daher den Termin des Kriegsausbruchs frühzeitig erfahren. Im Ernstfall kam es nicht auf Stunden an, da ging es um Minuten, entsprechend gerne zahlte ich dem Bekannten eine nicht unbedeutende Summe. Der Erfolg gab uns Recht, erst als wir mit voll beladenem Wagen den Parkplatz des Einkaufszentrums verließen, kamen die nächsten verzweifelten Panikkäufer. Wir gingen natürlich auch die Tage danach Einkaufen, aber mehr aus Voyeurismus als aus Notwendigkeit. Die Verzweiflung in den Gesichtern derer, die nur noch unnütze Reste vorfanden, war einfach zu köstlich. Die Behörden machten uns während der Wartezeit auf den Krieg das Leben schwer. Aber so war das, in Kriegen drohte die Ordnung oftmals zusammenzubrechen. Es bedurfte einer starken Hand, um den Fall in die völlige Anarchie zu verhindern. Entsprechend war auch Benzin rationiert, gleiches galt für Heizöl, Verbandsmaterial war keines mehr erhältlich, man hatte es für das Militär reserviert. Was in unserer Apotheke Anlass zu Gelächter gab, denn die Kinder beharrten darauf, dass sie beim Militär wären. Was er denn sei, fragte die Apothekerin unseren Sohn. Er präsentierte voller Stolz sein Holzgewehr, legte auf die Kunden hinter uns an und machte Peng Peng. Soldat sei er und er würde keine Verräter im Rücken der Front dulden. Dass sich unsere Tochter als Militärärztin nicht um die niedergeschossenen Verräter kümmerte, rechneten wir ihr hoch an. Wir spendierten ihr ein großes Eis in den Geschmackssorten Olivgrün, Feldgrau und Bandagenweiß, natürlich bekam der Filius auch ein Eis, für beide gab es obenauf einen großen Luftschlag Sahne. In den zwei Wochen vor Ankunft des Krieges schalteten wir den Fernseher direkt nach den Sondersendungen aus. Wir stürzten uns als Familie in das Studium von Landkarten, denn mir war es gelungen, einen kompletten Satz Wanderkarten unserer Region zu erwerben. Wir baldowerten Fluchtrouten aus, auch wenn diese natürlich auf Spekulationen darüber basierten, wo genau die Kämpfe stattfinden würden. Die Veranstalter des Krieges hielten sich diesbezüglich bedeckt, der Ort der Kampfhandlungen sollte eine Überraschung sein. Da half es uns auch nicht, dass ich dem Bekannten in der Stadtverwaltung ein weiteres Mal eine große Summe zahlte. Am letzten Wochenende vor den Kämpfen machten wir einen Familienausflug mit den Rädern. Wir erkundeten Wald- und Feldwege auf Ihre Befahrbarkeit, dachten über Möglichkeiten nach, den Fluss westlich der Stadt überqueren zu können, die Brücken würde man ja sprengen. Unser Sohn wollte sogleich ein Floß bauen, aber wir erklärten ihm, dass das ein Fehler wäre. Er müsse zuerst an sich denken und natürlich an uns als Familie, niemals dürfe er sich daher anderen Flüchtlingen gegenüber eine Blöße geben, die würden so etwas nur ausnutzen. Würde sein Floß entdeckt, und es würde entdeckt werden, es gab keine sicheren Verstecke, nicht im Krieg, man würde es ihm stehlen. Es sei, so sagten wir ihm, daher cleverer, Ausschau nach einem verborgenem Floß zu halten, das würde Zeit und Mühen sparen. Wir ernteten leuchtende Kinderaugen, als unser Nachwuchs schon nach kurzer Suche eine nachlässig in einen Kaninchenbau geschobene Luftmatratze samt Blasebalg fand. Wir ließen sie an Ort und Stelle, stachen jedoch Löcher hinein, Dummheit muss bestraft werden. Dann war endlich der Krieg da. Morgens um halb fünf hörten wir die schweren Motoren von Panzern und das Rasseln von Ketten, Hubschrauber knatterten im Tiefflug über unseren Stadtteil, aus der Ferne erklang das Donnern von Geschütze, dicht gefolgt von Einschlägen, die die Gläser in unserer Vitrine erzittern ließen. Dass die Sirenen erst mit einer Viertelstunde Verspätung heulten, entschuldigte der Bürgermeister später im Radio damit, dass es am Abend zuvor einen Sektempfang für die Generäle gegeben habe, und die Herrn Offiziere, Heidewitzka, die hätten die harten Sachen nur so in sich hinein geschüttet, da hätte er kapitulieren müssen. Wir saßen da bereits auf der Nordtribüne, einem eilig aufgestellten Gerüst mit Bänken aus rohem Holz. Das Glück war offenbar auf unserer Seite gewesen, unsere Nachbarn hatte es bei der Ticketlotterie in den Süden der Schlacht verschlagen. Viel mehr als leichtes Geplänkel gab es dort nicht, erfuhren wir später, Scharfschützen duellierten sich auf komplizierte Weise, Kompanien gruben sich ein, Artillerie war dort keine im Spiel. Bei uns hingegen tobten heftigste Kämpfe. Panzer wühlten sich durch das Land, Geschütze feuerten aus nächster Nähe aufeinander, ein Wäldchen wurde zerfetzt, Äcker und Wiesen wieder und wieder brutal umgepflügt. Unser Sohn schrie vor Begeisterung, dass er beide Seiten anfeuerte, sah er zunächst nicht als Fehler. Erst als ihm unsere Kleine in die Seite knuffte und etwas zuflüsterte, entschied er sich für eine Seite. Ab da war er ganz der Papa, er begeisterte sich natürlich für die Angreifer. Denn die riskierten was, die trauten sich was, die sprangen aus ihren Stellungen, stürmten voran. Auch als Maschinengewehrgarben ihre Reihen lichteten, mit heiser klingendem Hurrageschrei ging es weiter auf den Gegner zu. Ein Minenfeld ließ den Angriff kurzzeitig stocken, aber ihr Mut trieb die Angreifer weiter, dass ihren Kameraden die Gliedmaßen zerfetzt wurden, schien ihnen gleich. Sie wollten den Sieg um jeden Preis. Dass ein Gegenangriff über die Flanke die Attacke letztlich doch stoppte, empfanden wir als gelungenen dramaturgischen Kunstgriff. Der Krieg sollte eine Woche dauern, da durften die Verteidiger nicht gleich am ersten Tag niedergemacht werden. Gegen Abend, die kämpfenden Parteien hatten sich für einen Stellungskrieg eingegraben, nur vereinzeltes Gewehrfeuer war noch zu hören, lichteten sich die Zuschauerreihen. Ein paar Sektkorken knallten, man feierte einen spannenden ersten Kampftag. Wir feierten nicht mit, wir schlichen uns unter die Tribüne, rollten dort unsere Schlafsäcke aus. Nicht nur unseren Kindern wollten wir eine Nacht in den Wirren des Krieges gönnen. Als Abendbrot gab es Kommissbrot mit Corned Beef, dazu kalten Ersatzkaffee, sogar an der selbstgedrehten Zigarette durften unsere Kinder ziehen. Später in der Nacht ging meine Frau mit unserer Tochter dann doch nach Hause, die Kleine hatte Angst. All die fremden Geräusche, die wiederholt aufflackernden Schießereien und der Gestank verbrannten Fleisches, das war dann wohl doch etwas zu viel für sie. Nun ja, mit ihren sieben Jahren durfte sie noch empfindlich sein. Als sie ging, tröstete unser Sohn sie, er sei sich sicher, dass sie eine sehr gute Militärärztin werden würde, denn sie habe etwas, das im Lazarett mehr zähle als sauberes Operationsbesteck, sie habe Herz. In dem Moment war ich sehr stolz auf unseren Jungen, er bewies Führungsstärke, er wusste zu motivieren. Ich war mir sicher, er würde ein guter Soldat werden, zumal er schon während der Schlacht nicht einmal seinen Blick abgewandt hatte, ganz gleich wie grausig die Bilder auf der Großbildleinwand waren, er hatte hingeschaut. Und natürlich waren seine Jungs von ihm angefeuert worden, so nannte er die angreifenden Truppen, seine Jungs. Macht sie fertig, schlachtet sie ab, killt sie, er war mit ganzem Herzen bei der Sache. Als ich ihn um vier Uhr weckte, schwer lag der Pulverrauch in der Luft, war er sogleich hellwach. Ich bedeutete ihm im Schein eines Streichholzes, mir zu folgen. Gemeinsam robbten wir an das Schlachtfeld heran, ich wollte, dass er das Flehen und Betteln der Sterbenden hörte und diese eigentümliche Mischung aus Blut und Exkrementen roch. Ob es früher in den Kriegen auch so gewesen sei, wollte unser Sohn wissen, so realistisch und wunderbar brutal? Was konnte ich anderes tun, als zu lügen, ich sagte Dieses Mal ist der Krieg viel schöner. Und obwohl es dunkel war, die Nacht nur von irrlichternden Leuchtspurgeschossen zerrissen, sah ich, dass unser Sohn weinte. Krieg, dachte ich, war doch etwas Wunderbares, er brachte die Menschen einander näher. Ich empfand es als Gnade, dass wir als Familie den Krieg aus nächster Nähe erleben konnten. Ein Krieg im Fernsehen, das war keine Katastrophe, das waren nur Bilder. Und Bilder dieser Art gab es zu viele, Bilder von Kriegen wechselten sich ab mit Bildern von Flugzeugabstürzen oder Hochhausbränden. Aber hier im Krieg, da wurde live gestorben, man spürte, was Krieg wirklich war. Anmerkung des Herausgebers: Die Ideenskizze wurde offenbar nicht umgesetzt, die Insolvenzen der Kriegsparteien verhinderte die Durchführung des zu bewerbenden Krieges. (Aus: Skizzen zum Kriegsjahr 2062 - Disasters, War & More, Entwürfe für eine Werbekampagne Print & Spot/Online, Watney Press, Schiaparelli City, Mars 2117) (Übersetzung aus dem marsianischen Englisch, Major der Raumwaffe S. Jähn, Strausberg Station, Jupiter Orbit, 2231) Bitte beachten Sie: Dieser Textauszug ist nur für den internen Gebrauch der Hochschulen für angewandte Militärpropaganda bestimmt. Jegliche Weitergabe an außeruniversitäre Personen und/oder KI ist strafbar nach §§ 19.J.1976, gez. Oberst Klein, HofaMp Ceres, 22. März 2233