Rezension: “Kleiner Drache” von Norbert Stöbe

Wei Xialong leitet den Pekinger Premium-Store “Himmlische Geschöpfe”, der lebensechte Roboter verkauft. Als Tochter der Firmenleiterin wurde sie von Kindheit an für die Spitzenfunktion im Unternehmen trainiert. Ihre Karriere erscheint ihr vorgezeichnet. Bis zu dem Tag, an dem ihr digitaler Assistent eine Reihe an Fehlfunktionen hat. Zu Hause entgeht die junge Frau nur knapp einem Anschlag. Und als ein Klon Xialongs Platz im Geschäft einnimmt, wird nach ihr gefahndet (Nebenbei bemerkt: eine originelle Variante des Themas Identitätsdiebstahl). Zusammen mit dem weiblichen Sexroboter Litse, den sie im Laden stehlen kann, flieht sie in eine Kleinstadt in der Grenzregion zu Myanmar. Mithilfe eines Schleusers gelingt es den beiden, die streng überwachte Grenze zu überwinden.

Die Männer, die Xialong aufgreifen, verkaufen sie als Arbeitssklavin nach Bangladesch, an eine Werft, in der alte Schiffe abgewrackt werden. Monate später kann sie sich freikaufen und übernimmt im nahen Space-Center einen Laden. Im Space-Market wird modernste Technik der Mondkolonie gehandelt. Dort führt sie den Aufstand der Händler gegen das Syndikat an, das den Markt kontrolliert. Nach dem Sieg wird er der Startpunkt für Xialongs Rückkehr nach Peking. Sie hat nun Macht und Kapital, kontrolliert den lokalen Netzknoten und hat sich zudem eine junge Hackergruppe verpflichtet. So gerüstet wagt sie es – vier Jahre nach ihrer Flucht –, den Kampf gegen ihre Klonschwester aufzunehmen.

Die Protagonistin in Nobert Stöbes jüngstem Roman lebt in einem Überwachungsstaat, der auf Konformität und Wohlverhalten getrimmt ist und jede “Abweichung” streng sanktioniert. In der von Stöbe dargestellten Zukunft hat China sich vor 16 Jahren von der Außenwelt isoliert. Die neue “Große Mauer” richtet sich vermeintlich gegen Hitze-, Armuts- und Dürreflüchtlinge aus dem Ausland. Doch wie sich herausstellt steht mehr dahinter. Denn von Hightech-Inseln wie Peking abgesehen, sind weite Teile des Landes von Armut, Verbrechen und Drogen gezeichnet. Viele Menschen wollen China verlassen. Eine stetig wachsende Zahl hat sich den “Drei Wahrheiten” zugewandt, einer verbotenen spirituellen Instanz im Netz, die – man ahnt es früh – dem Staat als Plattform dient, die Unzufriedenen in Schach zu halten. Als Gegenstück dazu hat Stöbe ein Ereignis in Tibet wie einen fortlaufenden Kommentar in das Romangeflecht gewirkt: den friedlichen Protest des “Kleinen Mönchs”, der den Kern einer echten Widerstandsbewegung darstellt.

Von den Geschäften, Wohnblocks, Parks und Straßen der chinesischen Hauptstadt ausgehend nimmt der Roman den Leser mit auf eine ereignisreiche Reise, bei der die Spannung bis zum Schluss nicht abreißt. Sie führt Xialong und Litse zu einem ausgebrannten Flüchtlingshaus in einer Kleinstadt in Sichuan über die Werft und das Space-Center in Chittagong, zu einer Luxushotelanlage in Tianjin und wieder zurück nach Peking (Man beachte: eine Art Kreisbewegung).

Die atmosphärisch dichten Aufnahmen dieser Schauplätze hat der Autor mit einem großen Aufgebot an interessanten Nebenfiguren bevölkert, darunter der hilfsbereite Rentner Wu, der heimlich verbotene Sender guckt, und der linientreue, missgünstige Hausmeister Tschoulao, der ihn verrät; der junge Kraan, Handlanger einer Schlepperbande, der hinter dem Rücken des Anführers seine eigene kriminelle Agenda verfolgt; Raptor, Xialongs Kollege auf der Werft, der erst ihr Beschützer und dann ihr Gehilfe wird; oder Daguo, der stellvertretende Polizeipräsident von Peking, der sich als vertrauensseliger Dummkopf erweist.

Zu Stöbes kompromisslos realistischer Darstellung gehören viele harte, ja brutale Gestalten, die nur ihren persönlichen Vorteil sehen und diesen mit allen verfügbaren Mitteln verfolgen. Xialong ist keine Ausnahme. So sehr es den Leser auch beeindruckt, wie hartnäckig sie sich aus den aussichtslosesten Situationen kämpft, so deutlich wird im Verlauf des Romans, dass die auf Karriere und Erfolg abgerichtete junge Frau eine psychisch deformierte Person ist. Um die Dinge für sich wieder in Ordnung zu bringen, handelt sie absolut skrupellos. Sie scheut weder davor zurück, sich Männer, die sie anwidern, mit Sex gewogen zu machen, noch ihren Körper mit experimentellen technischen Gadgets “aufzurüsten”. Nicht zuletzt geht sie für ihre Ziele über Leichen – auch im wörtlichen Sinne.

Im Gegensatz dazu wirkt ihre Begleiterin Litse, die auf Autonomie umprogrammiert wurde, im ersten Teil des Romans nicht wie der Roboter, der sie ist, sondern überaus menschlich. Sie kümmert sich um Xialong und andere, tröstet und ernährt sie auf der Flucht und opfert sich sogar für sie. So stellt sich die Frage, ob Litse nicht sogar ein höheres Maß an Autonomie erreicht als ihre menschliche Begleiterin, die kaum aus der “Programmierung” der Mutter auszubrechen vermag. Dass der Leser sich von dieser Litse viel zu früh verabschieden muss und dass einem die Protagonistin nicht sympathisch wird, sind die einzigen Schwächen des durchweg fesselnden Buchs.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität: