Rezension: “Eines Menschen Flügel” von Andreas Eschbach

Owen aus dem Nest der Ris gelingt es Kraft seiner eigenen Flugkünste und mit Hilfe einer selbst gebauten Rakete, den Himmel zu durchstoßen und die Sterne zu sehen. Als er Jahre später endlich davon erzählt, kommen Menschen aus allen Teilen der bekannten Welt geflogen, um die Geschichte zu hören. Das macht eine im Geheimen wirkende Bruderschaft auf ihn aufmerksam, und sie nährt Zweifel an seinen Worten. Owen sieht sich gezwungen, den Flug zu wiederholen, und stirbt bei dem Versuch. Sein Sohn Oris schwört, den Namen seines Vaters reinzuwaschen. Zusammen mit einigen Freunden macht er sich auf die Suche nach den Verantwortlichen. Die jungen Leute decken nicht nur die geheime Agenda der Bruderschaft Pihrs auf, sondern finden auch das Raumschiff, mit dem ihre Vorfahren einst auf dem Planeten gelandet sind. Eine Verkettung unglücklicher Umstände macht die Prospektoren des galaktischen Imperators auf sie aufmerksam – mit fürchterlichen Folgen.

Andreas Eschbachs Entwurf der fremden Welt und der Gesellschaftsordnung der sie bevölkernden Stämme ist überaus detailreich und überzeugend. Diese Welt – paradiesisch und doch voller Gefahren – besteht im Wesentlichen aus einem großen Kontinent und ein paar Inseln. Sie ist von 33 Stämmen besiedelt, die größtenteils in sogenannten “Nestern”, kleinen Hüttendörfern in riesenhaften Bäumen, leben, denn im Erdreich lauert der “Margor”. Was die geflügelten Menschen nicht im Wald und im Meer an Nahrung finden, bauen sie an. Außerdem gibt es Vieh, die “Hiibus”, die mit Pfeil und Bogen gejagt werden. Es ist eine nachhaltig lebende, vorindustrielle Gesellschaft, in der man zwar Metall abbaut, aber nur einfache Öfen und kaum Werkzeuge besitzt. Überhaupt umfasst das persönliche Eigentum wenige Dinge. Vielmehr tragen alle – je nach Begabung und Neigung – ihren Teil zum Wohl des eigenen Nests und der Allgemeinheit bei. Wichtige Entscheidungen werden von der oder dem Ältesten und von regionalen Räten getroffen.

Im Verlauf der Handlung erfährt der Leser, dass die gesellschaftliche Ordnung von den “Ahnen”, den ersten Siedlern, festgelegt wurde. Vor über 1000 Jahren hatten diese eine Diktatur heraufziehen sehen und weit außerhalb der bewohnten Gebiete unserer Galaxis eine neue Heimat gesucht. In den Büchern, die sie ihren genetisch veränderten Nachkommen hinterließen, stellten sie detaillierte Regeln auf, die diese seitdem von klein auf studieren und befolgen. Es gibt Bücher über das Zusammenleben, die Natur, den Handel und die Heilkunst, außerdem solche mit Liedern, Theaterstücken und viele mehr. Die Anhänger der Lehren Pihrs sorgen heimlich dafür, dass die Gesellschaft bleibt, wie sie ist, indem sie den technischen Fortschritt ausbremsen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen ahnden.

So überzeugend, wie Eschbachs “Worldbuilding” auch ist, stellen sich beim Lesen schnell Irritationen ein. Das liegt zum einen am Schauplatz selbst: In dieser einfachen Gesellschaft, in der selten Aufsehenerregendes passiert, drehen sich die Gespräche um das immer Gleiche: die Arbeit, das Wetter, das Essen, Liebschaften, Partner und Kinder. Und obwohl der Erzähler sich zumeist auf das Besondere an den Figuren konzentriert, etwa auf ihre Handwerkskunst, wird das wiederholte Wer-liebt-Wen – glücklich oder nicht – nach dem ersten Dutzend an Lebensgeschichten ermüdend. Dazu kommt, dass einige der Figuren, die die Haupthandlung vorantreiben, recht holzschnittartig geraten sind: Oris stets zielgerichtet und furchtlos, Bassaris stark und treu; und so wie Luchwen immer Hunger hat, bleibt Hargon über weite Strecken des Buchs ein verantwortungsscheuer Hedonist.

Eschbach ist ein großartiger Erzähler. Er pflegt einen sehr lebendigen, geradezu poetischen Erzählstil. Das macht seine Bücher zu einem großen Lesevergnügen, das bei “Eines Menschen Flügel” durch die allzu große Detailverliebtheit des Autors nur leicht getrübt wird. Gelungen sind auch die vielen Sprichwörter und Redewendungen, die sich um die anatomische Besonderheit der Figuren drehen. Dagegen stellt man sich unweigerlich die Frage, wie es kommt, dass alle Bewohner dieser Welt in den ihnen gewidmeten Kapiteln die gleiche “schöne” Sprache sprechen wie der Erzähler selbst. Von der im Buch behaupteten Vielfalt kaum eine Spur – im Gegenteil: Die gehobene Sprache reicht bis in die wörtliche Rede. “Ist gar niemand da?”, fragt eine Frau bei einem privaten Besuch unter Freunden. Man mag es nicht so recht glauben, dass diese Ausdrucksweise auf das Studium der Bücher der Ahnen zurückzuführen ist.

Die von Eschbach erdachte Gesellschaft zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass alle – wie der Pilot Dschonn anmerkt – ungewöhnlich “freundlich” sind. Sie ist auch sehr demokratisch organisiert. Jeder und Jede ist etwas Besonderes, und alle tragen etwas zum großen Ganzen bei, sei es ein Segelboot, eine neue Farbe für die Signalraketen oder auch nur ein neues Gewürz. Dieses demokratische Prinzip zieht sich durch unzählige Handlungsdetails. Mehr noch: Andreas Eschbach macht es zum Grundprinzip seiner komplexen Romanstruktur.

“Eines Menschen Flügel” hat nicht zwei oder fünf Protagonisten, sondern überrascht den Leser mit knapp 30 Figuren. Jeder von ihnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Das können zehn oder auch 50, 60 Seiten sein. Am Ende des Kapitels wechselt die Perspektive, und eine andere, stets neue Figur übernimmt die Erzählung. Das funktioniert zunächst ganz gut, vor allem dort, wo es sich um Oris´ Gruppe und die Agenten der Bruderschaft handelt. Denn diese “Geschichten in der Geschichte” tragen nicht nur eine andere Perspektive bei, sondern auch Neues zum Fortlauf der Haupthandlung. Eschbach hat das Ganze überaus geschickt konstruiert. Selbst die bis dahin unbekannten Figuren sind irgendwie mit den bereits bekannten verwandt oder anderswie verbunden – wenn nicht mit den oben Genannten, dann zumindest mit einer Nebenfigur. Manchmal stehen sie auch stellvertretend für eine ganze Gruppe, die sich später als wichtig erweisen wird, etwa der “Verkünder” Efas (zunächst) für die Apokalyptiker oder Maheit für die Skeptiker.

Eschbach baut diese Geschichten gleichwertig in die Haupthandlung ein. Dabei nimmt er in Kauf, dass sie diese im Verlauf des Romans immer wieder ausbremsen. Meistens erfährt man darin (erneut) viele Details aus dem Leben einer Figur und lernt ihr Umfeld – ein neues Nest und eine neue Gegend – kennen. Am Ende so manchen Kapitels ist man aber unweigerlich enttäuscht, weil es nur Bekanntes variiert, mit wenig neuen Erkenntnissen aufgewartet oder kaum zur Haupthandlung beigetragen hat.

Insofern hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Es ist ohne Zweifel ein stilistisch herausragender Roman mit einem stimmigen, in seinem Detailreichtum geradezu grandiosen Weltentwurf. Wer die langen “Geschichten in der Geschichte” aber nicht mag, der wird ihn wohl als grandios gescheitert ansehen.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität: