Rezension: “Von Zeit zu Zeit” von Hans Jürgen Kugler

Daniel Damberg, ein freischaffender Lektor und Konzertkritiker, wacht im Juli 2022 in seiner Wohnung in Freiburg auf und stellt fest, dass sich die Zeit um ihn herum extrem verlangsamt hat. Nur er selbst ist von diesem Phänomen nicht betroffen. Nach ein paar Stunden, in denen er seine Umgebung erkundet, kommt es zu einer Art Zeitraffer, und der Spuk, der die ganze Stadt erfasst hatte, ist vorbei. Das Erlebnis hat Daniel so verstört, dass es ihn noch lange beschäftigt. Der Arzt, den er konsultiert, kann ihm nicht helfen – ebenso wenig wie Tobias Heubach, Daniels früherer Mitbewohner und bester Freund, dem er sich anvertraut. In den folgenden Monaten kommt es zu weiteren ungewöhnlichen Phänomenen. Heiße Windstöße und Lichtblitze am nächtlichen Himmel führen Daniel und Tobias zunächst auf einen Joint zurück, den sie rauchen – bis Tobias verkohlte Fledermäuse auf dem Balkon und im Garten findet. Während einer Fahrradtour mit Iris Lutz, Daniels früherer Flamme, beobachtet das Paar in der Dunkelheit eigentümliche Leuchterscheinungen, die es für einen Meteoritenschauer hält. Auf einem Kurzurlaub bei Überlingen stranden die beiden dann in einem “Zeitverzögerungsfeld”, wie es Daniel im Vorjahr erlebt hat. Ihr Versuch, sich daraus zu befreien, wird zu einem dramatischen Überlebenskampf.

Mit seinem jüngsten Buch hat der Autor, Journalist und Herausgeber Hans Jürgen Kugler einen kleinen, feinen Roman geschrieben. Klein, weil er nur 180 Seiten umfasst, aus einem einzigen Blickwinkel – dem der Hauptfigur – geschrieben ist und sich regional auf wenige Schauplätze konzentriert. Fein, weil er in Sachen Story, Sprache und Stil zu begeistern weiß.

Die Handlung wird lange ausschließlich aus Daniels Sicht wiedergegeben – und sie erschöpft sich nicht in dem oben beschriebenen Plot. “Von Zeit zu Zeit” erzählt nämlich auch die Geschichte eines Mannes, der anspruchslos und selbstzufrieden ist und dem Neugier und Abenteuerlust abhandengekommen sind; der lange alleine gelebt hat und dem es deshalb schwerfällt, unbefangen auf andere zuzugehen. Als er seine Jugendliebe wieder trifft und sie ihm Avancen macht, werden ihm seine Defizite bewusst. Die gemeinsame Fahrradtour im französischen Jura weckt in ihm den Wunsch, sein Leben zu ändern. Doch das fällt ihm schwer. Es ist streckenweise geradezu quälend zu lesen, wie Daniel sich beim Versuch, Iris näherzukommen, immer wieder selbst im Weg steht.

Das albtraumhafte Erlebnis der Zeitanomalie einerseits und Daniels Hoffnung auf Veränderung andererseits bieten zahlreiche Anlässe für Gedanken und Gespräche über die Zeit, über die Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf das Heute, über verpasste Gelegenheiten und neue Chancen. Die Reflexionen, die den Roman durchziehen, umfassen nicht nur Daniels und Iris´ Leben, sondern auch das ihrer ganzen früheren Clique aus Villingen.

Erst im letzten Drittel weitet das Buch den Blickwinkel: auf die Flugverkehrsleitung in Zürich, wo “Normalzeit” herrscht, und auf eine Passagiermaschine im Luftraum über dem Protagonisten, die in der Zeitanomalie festhängt – und der dasselbe Schicksal droht wie den Fledermäusen. Dadurch werden die Gefahren, die ein großes “Zeitverzögerungsfeld” darstellt, auf dramatische Weise deutlich gemacht.

Die schüchterne Liebesbeziehung, die sich langsam entfaltet, ist einfühlsam entwickelt – wenn auch nur aus Daniels Sicht dargestellt. Die Dialoge sind lebensnah und wirken nie verkünstelt. Zu den faszinierendsten Passagen gehören die, in denen Kugler die Zeitverzögerungsphänomene beschreibt: die Kälte in geschlossenen Räumen, die Beschaffenheit von Wasser in seinen vielen Erscheinungsformen, die Gefahren, die von Blättern, Grashalmen und Insekten ausgehen, und die Probleme damit, Nahrung zu sich zu nehmen.

Die Schauplätze des Romans sind Freiburg im Breisgau und die Gegend rund um Überlingen. Kugler versteht es, die Eigenart und Atmosphäre der Schwarzwaldmetropole und der Bodenseeregion in vielen Details einzufangen.

Eine weitere Stärke dieses durchweg lesenswerten Buchs ist sein Ende: Der Autor verzichtet auf eine detaillierte physikalische Erklärung des Zeitphänomens und belässt es bei einer Andeutung, die er Tobias´ Frau, einer Teilchenphysikerin, in den Mund legt. Was den Protagonisten selbst betrifft, überraschen die letzten Seiten, denn bei aller der Gefahrensituation angemessenen Tragik gibt es zumindest für Daniel und Iris eine versöhnliche Lösung.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität: