Kategorie: Rezensionen

Rezension: „Eines Menschen Flügel“ von Andreas Eschbach

Owen aus dem Nest der Ris gelingt es Kraft seiner eigenen Flugkünste und mit Hilfe einer selbst gebauten Rakete, den Himmel zu durchstoßen und die Sterne zu sehen. Als er Jahre später endlich davon erzählt, kommen Menschen aus allen Teilen der bekannten Welt geflogen, um die Geschichte zu hören. Das macht eine im Geheimen wirkende Bruderschaft auf ihn aufmerksam, und sie nährt Zweifel an seinen Worten. Owen sieht sich gezwungen, den Flug zu wiederholen, und stirbt bei dem Versuch. Sein Sohn Oris schwört, den Namen seines Vaters reinzuwaschen. Zusammen mit einigen Freunden macht er sich auf die Suche nach den Verantwortlichen. Die jungen Leute decken nicht nur die geheime Agenda der Bruderschaft Pihrs auf, sondern finden auch das Raumschiff, mit dem ihre Vorfahren einst auf dem Planeten gelandet sind. Eine Verkettung unglücklicher Umstände macht die Prospektoren des galaktischen Imperators auf sie aufmerksam – mit fürchterlichen Folgen.

Andreas Eschbachs Entwurf der fremden Welt und der Gesellschaftsordnung der sie bevölkernden Stämme ist überaus detailreich und überzeugend. Diese Welt – paradiesisch und doch voller Gefahren – besteht im Wesentlichen aus einem großen Kontinent und ein paar Inseln. Sie ist von 33 Stämmen besiedelt, die größtenteils in sogenannten “Nestern”, kleinen Hüttendörfern in riesenhaften Bäumen, leben, denn im Erdreich lauert der “Margor”. Was die geflügelten Menschen nicht im Wald und im Meer an Nahrung finden, bauen sie an. Außerdem gibt es Vieh, die “Hiibus”, die mit Pfeil und Bogen gejagt werden. Es ist eine nachhaltig lebende, vorindustrielle Gesellschaft, in der man zwar Metall abbaut, aber nur einfache Öfen und kaum Werkzeuge besitzt. Überhaupt umfasst das persönliche Eigentum wenige Dinge. Vielmehr tragen alle – je nach Begabung und Neigung – ihren Teil zum Wohl des eigenen Nests und der Allgemeinheit bei. Wichtige Entscheidungen werden von der oder dem Ältesten und von regionalen Räten getroffen.

Im Verlauf der Handlung erfährt der Leser, dass die gesellschaftliche Ordnung von den “Ahnen”, den ersten Siedlern, festgelegt wurde. Vor über 1000 Jahren hatten diese eine Diktatur heraufziehen sehen und weit außerhalb der bewohnten Gebiete unserer Galaxis eine neue Heimat gesucht. In den Büchern, die sie ihren genetisch veränderten Nachkommen hinterließen, stellten sie detaillierte Regeln auf, die diese seitdem von klein auf studieren und befolgen. Es gibt Bücher über das Zusammenleben, die Natur, den Handel und die Heilkunst, außerdem solche mit Liedern, Theaterstücken und viele mehr. Die Anhänger der Lehren Pihrs sorgen heimlich dafür, dass die Gesellschaft bleibt, wie sie ist, indem sie den technischen Fortschritt ausbremsen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen ahnden.

So überzeugend, wie Eschbachs “Worldbuilding” auch ist, stellen sich beim Lesen schnell Irritationen ein. Das liegt zum einen am Schauplatz selbst: In dieser einfachen Gesellschaft, in der selten Aufsehenerregendes passiert, drehen sich die Gespräche um das immer Gleiche: die Arbeit, das Wetter, das Essen, Liebschaften, Partner und Kinder. Und obwohl der Erzähler sich zumeist auf das Besondere an den Figuren konzentriert, etwa auf ihre Handwerkskunst, wird das wiederholte Wer-liebt-Wen – glücklich oder nicht – nach dem ersten Dutzend an Lebensgeschichten ermüdend. Dazu kommt, dass einige der Figuren, die die Haupthandlung vorantreiben, recht holzschnittartig geraten sind: Oris stets zielgerichtet und furchtlos, Bassaris stark und treu; und so wie Luchwen immer Hunger hat, bleibt Hargon über weite Strecken des Buchs ein verantwortungsscheuer Hedonist.

Eschbach ist ein großartiger Erzähler. Er pflegt einen sehr lebendigen, geradezu poetischen Erzählstil. Das macht seine Bücher zu einem großen Lesevergnügen, das bei “Eines Menschen Flügel” durch die allzu große Detailverliebtheit des Autors nur leicht getrübt wird. Gelungen sind auch die vielen Sprichwörter und Redewendungen, die sich um die anatomische Besonderheit der Figuren drehen. Dagegen stellt man sich unweigerlich die Frage, wie es kommt, dass alle Bewohner dieser Welt in den ihnen gewidmeten Kapiteln die gleiche “schöne” Sprache sprechen wie der Erzähler selbst. Von der im Buch behaupteten Vielfalt kaum eine Spur – im Gegenteil: Die gehobene Sprache reicht bis in die wörtliche Rede. “Ist gar niemand da?”, fragt eine Frau bei einem privaten Besuch unter Freunden. Man mag es nicht so recht glauben, dass diese Ausdrucksweise auf das Studium der Bücher der Ahnen zurückzuführen ist.

Die von Eschbach erdachte Gesellschaft zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass alle – wie der Pilot Dschonn anmerkt – ungewöhnlich “freundlich” sind. Sie ist auch sehr demokratisch organisiert. Jeder und Jede ist etwas Besonderes, und alle tragen etwas zum großen Ganzen bei, sei es ein Segelboot, eine neue Farbe für die Signalraketen oder auch nur ein neues Gewürz. Dieses demokratische Prinzip zieht sich durch unzählige Handlungsdetails. Mehr noch: Andreas Eschbach macht es zum Grundprinzip seiner komplexen Romanstruktur.

“Eines Menschen Flügel” hat nicht zwei oder fünf Protagonisten, sondern überrascht den Leser mit knapp 30 Figuren. Jeder von ihnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Das können zehn oder auch 50, 60 Seiten sein. Am Ende des Kapitels wechselt die Perspektive, und eine andere, stets neue Figur übernimmt die Erzählung. Das funktioniert zunächst ganz gut, vor allem dort, wo es sich um Oris´ Gruppe und die Agenten der Bruderschaft handelt. Denn diese “Geschichten in der Geschichte” tragen nicht nur eine andere Perspektive bei, sondern auch Neues zum Fortlauf der Haupthandlung. Eschbach hat das Ganze überaus geschickt konstruiert. Selbst die bis dahin unbekannten Figuren sind irgendwie mit den bereits bekannten verwandt oder anderswie verbunden – wenn nicht mit den oben Genannten, dann zumindest mit einer Nebenfigur. Manchmal stehen sie auch stellvertretend für eine ganze Gruppe, die sich später als wichtig erweisen wird, etwa der “Verkünder” Efas (zunächst) für die Apokalyptiker oder Maheit für die Skeptiker.

Eschbach baut diese Geschichten gleichwertig in die Haupthandlung ein. Dabei nimmt er in Kauf, dass sie diese im Verlauf des Romans immer wieder ausbremsen. Meistens erfährt man darin (erneut) viele Details aus dem Leben einer Figur und lernt ihr Umfeld – ein neues Nest und eine neue Gegend – kennen. Am Ende so manchen Kapitels ist man aber unweigerlich enttäuscht, weil es nur Bekanntes variiert, mit wenig neuen Erkenntnissen aufgewartet oder kaum zur Haupthandlung beigetragen hat.

Insofern hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Es ist ohne Zweifel ein stilistisch herausragender Roman mit einem stimmigen, in seinem Detailreichtum geradezu grandiosen Weltentwurf. Wer die langen “Geschichten in der Geschichte” aber nicht mag, der wird ihn wohl als grandios gescheitert ansehen.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität:

Rezension: „Kleiner Drache“ von Norbert Stöbe

Wei Xialong leitet den Pekinger Premium-Store “Himmlische Geschöpfe”, der lebensechte Roboter verkauft. Als Tochter der Firmenleiterin wurde sie von Kindheit an für die Spitzenfunktion im Unternehmen trainiert. Ihre Karriere erscheint ihr vorgezeichnet. Bis zu dem Tag, an dem ihr digitaler Assistent eine Reihe an Fehlfunktionen hat. Zu Hause entgeht die junge Frau nur knapp einem Anschlag. Und als ein Klon Xialongs Platz im Geschäft einnimmt, wird nach ihr gefahndet (Nebenbei bemerkt: eine originelle Variante des Themas Identitätsdiebstahl). Zusammen mit dem weiblichen Sexroboter Litse, den sie im Laden stehlen kann, flieht sie in eine Kleinstadt in der Grenzregion zu Myanmar. Mithilfe eines Schleusers gelingt es den beiden, die streng überwachte Grenze zu überwinden.

Die Männer, die Xialong aufgreifen, verkaufen sie als Arbeitssklavin nach Bangladesch, an eine Werft, in der alte Schiffe abgewrackt werden. Monate später kann sie sich freikaufen und übernimmt im nahen Space-Center einen Laden. Im Space-Market wird modernste Technik der Mondkolonie gehandelt. Dort führt sie den Aufstand der Händler gegen das Syndikat an, das den Markt kontrolliert. Nach dem Sieg wird er der Startpunkt für Xialongs Rückkehr nach Peking. Sie hat nun Macht und Kapital, kontrolliert den lokalen Netzknoten und hat sich zudem eine junge Hackergruppe verpflichtet. So gerüstet wagt sie es – vier Jahre nach ihrer Flucht –, den Kampf gegen ihre Klonschwester aufzunehmen.

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Rezension: „Qualityland 2.0“ von Marc-Uwe Kling

Nachdem der erste SF-Roman von Marc-Uwe Kling („Qualityland“, Rezension hier) den Deutschen SF-Preis gewinnen konnte, stellt sich die spannende Frage, ob die Fortsetzung an diese Qualität anknüpfen kann.

Womit eines schon gesagt ist: Ja, es handelt sich um eine waschechte Fortsetzung. Um Staffel 2 der (geplanten) Streaming-Serie gewissermaßen, denn die Handlung schließt direkt ans Ende von Band 1 an, es treten die gleichen Figuren auf. Die Geschichte aus Band 1 sollte man beim Lesen optimalerweise noch im Kopf haben. Zwar ist dem Roman ein (dreieinhalbseitiges) Figurenregister vorangestellt, aber keine Zusammenfassung des bisherigen Geschehens. Wer Band 1 nicht gelesen (oder größtenteils vergessen) hat, wird vieles in Band 2 nicht verstehen.

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Rezension: „Salzgras & Lavendel“ von Gabriele Behrend

Douglas Hewitt ist in der Verwaltung von Acodis Inc. als “Datenarchäologe” tätig. Kaynee Simmons arbeitet im “Zenith”, einem Traumazentrum außerhalb der Stadt. Douglas ist im Ghetto unter “Wilden” geboren, die sich kein Implantat und “Persönlichkeitsset” leisten können. Nachdem er zur Waise wurde, erhielt er im Heim zumindest ein “Basisset”, das ihm ein sozialverträgliches Verhalten ermöglichen sollte. Kaynee dagegen hat ihr “Socket” gleich nach der Geburt implantiert bekommen und switcht nach Bedarf und Situation zwischen den vielen “Abspaltungen” ihrer künstlich erzeugten multiplen Persönlichkeit hin und her.

Die beiden leben im Zeitalter der “Effizienzdiversität”. Die in der Regel postnatal eingesetzten Implantate haben eine Gesellschaft hervorgebracht, die auf Effizienz getrimmt ist. Die Technik, die aus der Gamer-Szene hervorging, führte nicht nur zu einer Leistungssteigerung jedes Einzelnen, sondern ermöglicht es der großen Mehrheit auch, auf alle nur denkbaren Situation angemessen zu reagieren. So “kommen alle viel besser miteinander aus”, findet Kaynee.

Doch der äußere Schein trügt. Douglas zum Beispiel führt ein einsames und eintöniges Leben. Er wird von Ängsten und Zweifeln geplagt, die ihn bis in seine Träume verfolgen. Und dann begeht er – scheinbar aus heiterem Himmel – einen Mord. Um der Haft zu entgehen, bleibt ihm nur der Ausweg, sich ebenfalls eine multiple Persönlichkeit implantieren zu lassen. Im “Zenith” trifft er auf Kaynee, die seine “Patin” wird – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ihre Hardware Fehler aufweist und sie die Kontrolle über sich verliert.

“Salzgras & Lavendel” spielt an einem unbestimmten Ort in der Zukunft, an dem “alles seinen ruhigen Gang” geht, während die Welt ringsum “an allen Ecken und Enden brennt”. Die Autorin streut nur wenige Hinweise auf klimatische Veränderungen und auf den technischen Fortschritt ein. Sie konzentriert sich auf die Frage, wie eine Gesellschaft aussähe, in der technische “Aufspaltungen” der Persönlichkeit – “neuronale Cluster” genannt – die Regel sind. Indem man Katy, Keira, Kandy, Kassy und Kaynees andere “Splits” in Aktion erlebt, hat man bereits nach wenigen Seiten einen lebhaften Eindruck davon, wie die Menschen im Alltag damit umgehen.

Am Beispiel von Douglas zeigt Gabriele Behrend, dass diese Technik für Menschen mit schweren Traumata ein Segen sein kann. Auf der anderen Seite stellt das Buch kritische Fragen: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn eine solche Technik zur Norm wird, sie sich aber nicht jeder leisten kann? Wenn der öffentliche Frieden gefördert wird, aber niemand mehr eingreift, um Verbrechen zu verhindern? Was passiert, wenn die Technik versagt oder Fehler in ihrer Anwendung passieren? Wie würde der Staat reagieren, wenn ein Dogma ins Wanken gerät? Was die multiplen Persönlichkeiten betrifft, läuft der Roman auf die Frage hinaus, ob eine Separation – wie Kaynees “geordnetes Haus” – oder die Fusion der einzelnen Ich-Aspekte die richtige Antwort ist, um ein glückliches Leben zu führen.

Das alles packt die Autorin in eine Geschichte, die weder trocken noch langweilig ist. Dafür sorgen unter anderem die Nebenfiguren: der Techniker Sanders Mayerhoff, der neben seiner Arbeit im “Zenith” geheime Experimente durchführt und eifersüchtig auf Douglas ist; und Claire Paulson, die Leiterin des Traumazentrums, die als Spezialistin für “adulte Diversität” gilt – und die am bittersüßen Ende des Romans auf ganz unerwartete Weise zu Douglas’ Retterin wird.

Hier und da ist der Autorin beim Schreiben die Fantasie durchgegangen. Ein Meeting aller Ich-Aspekte im eigenen Kopf? Und im Kopf einer anderen Person? Das sind großartige Szenen, die noch dazu perfekt in die Dramaturgie passen. Sie erscheinen jedoch übertrieben.

In Stil und Sprache ragt das Buch deutlich aus der Masse der Science-Fiction-Literatur heraus. Die Verwendung des Präsens schafft eine große Nähe zu den Protagonisten. Mit einfachen Mitteln gelingt es der Autorin jederzeit, den Leser durch die vielen Ich-Aspekte der Figuren zu lotsen, so dass man immer genau weiß, mit welchem man es gerade zu tun hat.

Für die zentrale Frage des Buchs – Separation oder Fusion? – findet Gabriele Behrend starke Bilder. Eine eindeutige Antwort sucht man vergebens. Wahrscheinlich, weil es keine gibt.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum:

Rezension: „Unter den Sternen von Tha“ von Heribert Kurth

Knapp 500.000 Jahre in der Zukunft: Unser Heimatuniversum ist erforscht und besiedelt, außer uns gibt es darin kein intelligentes Leben. Eine rätselhafte fremde Rasse, die aus einem Nachbaruniversum stammen muss, beauftragt den Navigator Ttrebi H*tr damit, die Geschichte der Menschheit zu protokollieren. Um den Auftrag abzuschließen, erhält er das Privileg, ein Jahr auf dem streng geschützten Planeten Tha zu verbringen. Dort gelangt er – unter dem Einfluss der Blüten einer heimischen Pflanze – zu ganz neuen Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen den Entdeckungen und Erfindungen der menschlichen Rasse und ihren (möglichen) religiösen Voraussetzungen.

Das Debüt von Heribert Kurth lässt sich in keine bekannte Schublade packen. Wer Action oder gar Space Opera erwartet, wird mit Sicherheit maßlos enttäuscht. Das Buch ist ein Protokoll, noch dazu ein Fragment, das nicht weniger als knapp 500 Jahrtausende umfasst. Der Protagonist Ttrebi H*tr nimmt den „geneigten Leser“ fest an die Hand und führt ihn durch eine weitgehend chronologische Auflistung der wichtigsten Ereignisse. Das Spektrum reicht von kurzen Einträgen bis zu mehrseitigen Abhandlungen: vom Fund seltener Erden auf dem Mars über die Entdeckung der „Parallelkörper“ in der „Terunalzone“ bis zum Bau „dunkler Energiekollektoren“ und „Sekundärlichtrezeptoren“ – wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Entwicklungen, die nicht nur überlichtschnelles Reisen ermöglichen, sondern der Menschheit sogar Blicke in die Vergangenheit erlauben.

Ein „Protokoll“ ist die denkbar unattraktivste Form, eine spannende Geschichte zu präsentieren. Es ist der blühenden Phantasie des Autors zu verdanken, dass diese „Zukunftsgeschichte der Menschheit“ stets unterhaltsam bleibt. Aufgelockert wird sie zudem von Ttrebi H*trs persönlichen, oft philosophischen Reflexionen. Er weiß den Leser auf die Folter zu spannen, indem er wichtige Ereignisse und Erkenntnisse erst später, an passender Stelle berichtet. So wird zum Beispiel nach und nach immer mehr über seine Auftraggeber bekannt. Und es wird eine rote Linie deutlich, nämlich dass alle intelligenten Rassen von der Neugier getrieben immer neue Grenzen überschreiten, um Antworten auf die grundlegenden Fragen zu erhalten: nach dem Ursprung ihrer Schöpfung und dem Sinn ihrer Existenz. (Die Antworten, die das Buch selbst gibt, kann man mögen oder auch nicht.)

Der Stil und die Sprache dieser „Niederschrift“ sind so außergewöhnlich wie ihr Thema. Der Leser ist mit opulenten Satzgebilden, einer sehr gewählten Ausdrucksweise und vielen Übertreibungen und Superlativen konfrontiert. Diesen Stil, der ein wenig an längst vergangene Zeiten erinnert, mag nicht jeder als „passend“ empfinden. Aber wer weiß schon, wie sich unsere Nachkommen im Jahr 500000 ausdrücken werden.

Unterhaltung:
Anspruch:

Ideenreichtum:

Rezension: „Im nächsten Leben wird alles besser“ von Hans Rath

Ein Mann erwacht. Jedoch nicht am folgenden Tag, sondern 25 Jahre später, als alter Mann. Weder kann er sich an seinen Assistenten Gustav erinnern, noch daran, was mit seiner Ehe passiert ist, noch an seine eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken.

Mühsam beginnt er damit, diese ihm fremde Zukunftswelt zu erkunden und seine Erinnerungen wiederzufinden.

Hans Rath schafft hier eine grundsätzlich interessante Ausgangslage, indem er die zukünftige Welt durch die Augen eines Mannes erklärt, für den alles neu und unbekannt ist. Als zweite Ebene arbeitet der Roman mit Rückblenden. Man erfährt viel über das alte Leben des Ich-Erzählers: Seine Freunde, wie er seine Frau kennenlernte und natürlich über ihn, den pessimistischen Schwarzseher.

Die gefällige, schnörkellose Sprache und die geschickte Konstruktion beider Ebenen machen den Roman zu einem gut lesbaren Werk für alle, die wenig oder keine Erfahrung mit SF haben.

Routinierten SF-Fans werden dagegen die meisten Ideen vertraut sein, für sie gibt es wenig Neues zu entdecken. Wer zuvor Hillenbrand oder Suarez gelesen und die Matrix-Filme gesehen hat, langweilt sich schnell, viele Stellen sind dann vorhersehbar, die philosophischen Überlegungen bekannt und der Schluss unbefriedigend.

Dass der Schluss durchaus offen lässt, ob alles so ist, wie es scheint, funktioniert mäßig gut. Vor allem aber ärgert man sich darüber, dass man sich vorher über einige Dinge geärgert hat, die natürlich vom Schluss her betrachtet logisch sind, den Lesegenuss zwischendurch aber sehr schmälern.

Da der Autor selbst Philosoph ist, muss man darüber hinwegsehen, dass Szenen teilweise dafür benutzt werden, Überlegungen zur Zukunft und dem menschlichen Sein zu transportieren. Das wirkt an mehr als einer Stelle eher wie ein Essay denn wie eine Diskussion unter echten Menschen – die Wortgefechte passen etwas zu flüssig ineinander. So wirkt dann auch die Wandlung von Arnold vom dauermeckernden Besserwisser zum tiefenphilosophisch-geläuterten Weltversteher konstruiert, vor allem wichtig, um Botschaften des Autors zu transportieren.

Dafür entschädigen die gut gezeichneten Figuren und deren realistische Biografien. Der Roman ließt sich zügig genug, um ihn nicht abzubrechen.

Wer gerne philosophische Romane liest und wenig Erfahrung mit SF hat, wird gut unterhalten.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum:

Rezension: „Land unter“ von Dieter Rieken

Erst Klimawandel samt Hitze und Leugnung durch die amtierende Regierung, ansteigender Meeresspiegel – und dann auch noch ein Sprengstoffanschlag auf die norddeutschen Deiche mit verheerenden Folgen: Die Figuren in Dieter Riekens Debutroman leben keinesfalls in einer paradiesischen Zukunft. Sondern in Hausbooten oder oberen Geschossen von Hochhäusern, die auf Norderney (bzw. darüber) so gerade noch aus dem Wasser ragen. Was wie eine Dystopie klingt, wirkt beim Lesen überraschend heimelig. Dabei liegt der Anschlag von 2055 während der Handlung erst fünf Jahre zurück. Man hat sich anscheinend mit der Situation arrangiert.

Rieken nimmt sich viel Zeit, um zahlreiche Figuren einzuführen – alle mit Eigenheiten, Ecken und Kanten. Sechs Hauptfiguren gibt es – die alle ausführlich zu charakterisieren, nimmt einen großen Teil der knapp 250 Buchseiten ein. Nah an den Figuren zu sein, macht diese lebendig, aber dafür mangelt es an Fortgang der Geschichte, an Konflikten, Drama, Spannung.

Ehrlich gesagt: Es ist ein Einerseits-Andererseits-Buch.

Denn einerseits wirken die Figuren durch die ausführliche Einführung authentisch, andererseits kommt dadurch die Handlung nicht so recht in Schwung. Da die Hintergründe des Anschlags frühzeitig erzählt werden, kommt keine »Whodunnit«-Spannung auf.

Einerseits werden viele Themen angesprochen, so auch Fremdenfeindlichkeit, andererseits bleibt es dann oft bei einer Erwähnung in einer Art Episode. Weder sind die Figuren in unmittelbarer Gefahr noch begeben sie sich aktiv in ein Abenteuer – sie schlittern im Grunde zufällig in die Sache rein, und das auch noch durch einen übernatürlichen Effekt im „passenden“ Moment.

Die Verwicklungen und das Beziehungsgeflecht, das schließlich in der zweiten Hälfte des Buchs nach und nach enthüllt wird, ist einerseits wirklich erstaunlich, schlau konstruiert und vermag zu überraschen – andererseits bewegt sich die Geschichte dabei oft am Rande der Glaubwürdigkeit oder, je nach individueller Leseerfahrung, jenseits davon.

Insgesamt ist der Roman dank seiner Kürze und Nähe zu Land und Figuren durchaus lesenswert, aber die Geschichte an sich wird sicher nicht jeden Leser gleichermaßen überzeugen oder fesseln.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum:

Rezension: „Influence“ von Christian Linker

Eines schönen Tages in nicht allzu ferner Zukunft bringt ein Hackerangriff das ganze Internet zum Zusammenbruch – und mittelbar fast weltweit die gesamte davon abhängige Infrastruktur. Das kann kein Zufall sein, sagt sich der Protagonist des Romans „Influence“ von Christian Linker, denn er hat gerade in der Hosentasche einen USB-Stick mit Geheiminformationen, den er in Köln an einen anonymen, anarchischen Blogger übergeben soll …

Heutzutage muss die Science Fiction gar nicht weit in die Zukunft schauen, um nach dramatischen Geschichten zu suchen. Viele Was-wäre-wenn-Fragen, die sich heute stellen, sind in der SF unbestellte Äcker. Zumindest für den genannten Fall hat Christian Linker spannende Ideen ausgesät – und, um im Bild zu bleiben, einen lesenswerten Thriller geerntet.

Linker bleibt immer nah an seinen Figuren, nur selten lässt das Tempo nach. Freilich wird nicht jeder Leser alle Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf den Internet-Ausfall für wahrscheinlich halten, aber gegen ein bisschen Spekulation und Fiktion gibt es ja nichts einzuwenden. Unter dem Strich wirkt die Handlung jedenfalls schlüssiger als typische Popcorn-Movies made in Hollywood.

Eingebettet in eine spannende Geschichte bietet Linker viel Stoff zum Nachdenken über die Gegenwart, speziell über Influencer und andere Internet-Phänomene. Er gönnt sich auch den einen oder anderen genüsslichen, satirischen Seitenhieb. Der Roman bietet einen ordentlichen Unterhaltungswert – und, das darf ich ohne groß zu spoilern verraten, eine der sonderbarsten Sexszenen, die mir seit geraumer Zeit untergekommen sind.

Einzig vorwerfen möchte man dem Roman das Ende: Das ist nicht nur offen, es ist einfach gar keines – im Grunde hört die Geschichte in der Mitte einfach auf. Womöglich ist die Fortsetzung aber bereits im Entstehen begriffen. Wir halten die Augen danach auf.

Unterhaltung: Anspruch: Originalität:

Rezension: „K.I. – Wer das Schicksal programmiert“ von Christian J. Meier

Ein ziemlich erfolgreicher Roman des recht neuen Imprints POLARISE kreuzte neulich unseren Weg. Das ist nicht zuletzt deswegen eine genaue Betrachtung wert, weil laut unbestätigter Gerüchte die bisher noch nicht allzu erfolgreiche Reihe „Heise Welten“ demnächst vom Hinstorff-Verlag zu POLARISE wechselt. Schauen wir also mal, woran sich die folgenden Heise-Welten-Romane werden messen lassen müssen.

In „K.I. – Wer das Schicksal programmiert“, das in der nahen Zukunft spielt, geht es im Grunde um eine digitale Assistentin namens Rhea, deren überwältigende Fähigkeiten dem Tech-Konzern Gaia dazu verholfen haben, alle Googles und Facebooks dieser Welt auszubooten. Klar, dass das wirklich grandiose technische Fähigkeiten erfordert – so grandios, dass sie heute wohl jeder KI-Experte mit dem Attribut „fiktiv“ versehen würde. Aber „fiktiv“ bzw. „fiction“ ist ja Teil des Namens unseres Lieblingsgenres, also sollte uns das nicht weiter stören.

Zur Handlung: Im Zentrum der Geschichte steht eine deutsche Ärztin, die überraschenden Todesfällen auf ihrer Krebsstation auf der Spur ist. Dazu muss man wissen, dass Diagnose und Medikation vollständig in den Händen von Gaia liegen, die über die notwendigen medizinischen Daten verfügt, um – so die Hoffnung – mittels ihrer Algorithmen stets jedem Patienten den lebensrettenden Medikamentecocktail zu verabreichen. Dass dabei Leute sterben, die eigentlich gute Überlebenschancen gehabt hätten, weist die Ärztin mittels einer KI namens Laplace nach, deren Schöpfer – ein fähiger Programmierer – ungefähr zur gleichen Zeit unter Mordverdacht gerät.

Das sind die Startkoordinaten für einen Thriller, in dem die Protagonisten ins Visier von Gaia geraten und keinen anderen Weg sehen, als ihrerseits zum Angriff überzugehen. Es entwickelt sich eine rasante Geschichte mit allen typischen Zutaten eines IT-Thrillers. Nebenbei können wir noch die Entwicklungen in China verfolgen, wo das Sozialpunktesystem des „Wegs“ das gesamte Leben bestimmt.

Erfreulicherweise ist die Erzählgeschwindigkeit von Anfang an hoch, Langeweile kommt zu keinem Zeitpunkt auf. Sprache und Stil sind in Ordnung. Ein paar Plotholes gibt es, aber die ist heutzutage jeder Konsument von Kinofilmen oder Serien gewohnt. Etwas schwerer dürfte zumindest für anspruchsvolle Leser ins Gewicht fallen, dass keine Figuren mehr Eigenschaften besitzt als für die Handlung unbedingt notwendig.

Auch wenn das Nahzukunfts-Setting es nahelegt: Allzu realistisch sind einige den auftretenden KIs angedichtete Fähigkeiten nicht. Bis man sich beispielsweise mit einer Stimme aus der Cloud so unterhalten kann wie mit einem Menschen, werden noch viel, viel mehr Jahre vergehen. Ganz zu schweigen von kreativen künstlichen Intelligenzen, die eigenständige Ideen entwickeln. Einige Aspekte von Deep Learning und der zugehörigen Datensammelwut von Konzernen aber sollten uns als Leser zu Denken geben: Letztlich überlassen wir die Macht ja immer vertrauensvoll Menschen, die hinter einer Technik stehen, nicht der Technik selbst; und die Menschen sind die, die Technik zum Guten oder Schlechten einsetzen können, was auch immer sie oder wir darunter verstehen.

Mit seinem Debütroman legt Christian J. Meier einen temporeichen KI-Thriller vor, der sich vor angloamerikanischen Vorbildern nicht zu verstecken braucht.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität:

Rezension: „Hell Fever“ von Peter Schattschneider

In der Reihe „Heise Online Welten“ ist beim Hinstorff-Verlag der Roman „Hell Fever – Höllische Spiele“ von Peter Schattschneider erschienen.

Der Held der Geschichte, im wirklichen Leben ein Gymnasiallehrer, wird in der nahen Zukunft in einen Kriminalfall verwickelt, dem ein Freund von ihm zum Opfer fiel. Dabei fällt ihm ein Helm in die Hände, der den Zugang zu einem verdammt realistisch wirkenden Online-Spiel ermöglicht.

An dem Spiel und dem Helm sind Personen interessiert, die wenig Skrupel kennen. Unser Held muss also gleichzeitig versuchen, den Mord aufzuklären, darf sich nicht von den schlimmen Jungs erwischen lassen und verfällt zudem den Reizen des Computerspiels – und einer Mathe-Nachhilfeschülerin.

Auffällig am Roman sind die zahlreichen wissenschaftlichen Exkurse, auf die der universell gebildete Autor den Leser mitnimmt. Mal geht es um Dantes „Göttliche Komödie“, mal um Philosophie, mal um Quantenphysik. Im Nachwort erfahren wir, dass das größtenteils auf realen Erkenntnissen basiert und nur hier und da etwas dazugesponnen wurde.

Weder das Gaming-Thema noch die Thriller-Elemente (oder die Pointe am Schluss) sind im Genre neu. Auch die vorangestellte „Trigger-Warnung“ bezieht sich nicht darauf – sondern auf die für Romane eher seltene Wahl eines pädophilen (oder zumindest juvenophilen) Protagonisten. Wohlgemerkt gibt es keine Pornografie im Buch. Aber als Leser nehmen wir unmittelbar an den Versuchen des Protagonisten teil, seine Neigung zu kontrollieren – und erleben auch, wie das misslingt. Ziemlich schnell kommt die Frage auf, ob denn in einem virtuellen Spiel erlaubt ist, was in der Wirklichkeit aus verdammt guten Gründen strikt verboten ist. Wer sich auf solche Themen nicht einlassen möchte, ist bei diesem Buch definitiv falsch.

Eine Beurteilung ist dementsprechend schwierig. Einerseits ist der Roman flüssig geschrieben, die Handlung ist wendungsreich und spannend, die Figuren stimmig und mit Tiefe versehen. Den philosophischen Abschweifungen kann man mit entsprechender Vorbildung folgen, sie sind aber auch so kurz, dass man sie querlesen kann. Das Virtual-Gaming-Thema ist weder neu noch restlos überzeugend dargeboten. Der Schluss (der hier nicht verraten wird) vermag sicher nicht jeden Leser zu befriedigen. Die Neigung des Protagonisten ist mindestens gewöhnungsbedürftig, seine Handlungsweise dementsprechend oft schwer nachzuvollziehen. Ergo ist der Roman ganz sicher in erster Linie dies: Geschmackssache.

Unterhaltung:

Anspruch:

Originalität:

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