Wie ihr wisst, veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen Kurzgeschichten hier auf deutsche-science-fiction.de.
Was ihr vermutlich nicht wisst ist, dass diese Geschichten zu den am meisten aufgerufenen Seiten gehören! Außerdem planen wir für Dezember ein E-Book zu veröffentlichen, das alle bis dahin erschienenen Geschichten bequem zusammenfasst.
Grund genug, zum Mitmachen aufzurufen: Schreibt Geschichten oder sendet uns fertige. Für die Zeit bis zum Redaktionsschluss des diesjährigen Sammelbands starten wir hiermit eine Ausschreibung: Wir veröffentlichen die besten eingesendeten Geschichten auf unserem Portal und im E-Book.
Es gibt nur zwei einfache Vorgaben: Eure Geschichten müssen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz spielen und sie sollen witzig sein (wenigstens ein bisschen), denn ernste Geschichten haben wir schon eine ganze Reihe.
Sendet eure Texte einfach bis 30. November per Mail an kontakt (at) deutsche-science-fiction.de, wir sind gespannt!
Hinweis: Wir veröffentlichen gute Geschichten je nach Eingangsdatum, nicht erst im Dezember.
S. A. Dürigen ist in der Phantastik – in all ihren Erscheinungsformen – zu Hause. Er würde Asimov Lem immer vorziehen, schaut manchmal stundenlang in den Sternenhimmel und kümmert sich unter der Woche um die Datenbanken eines Versicherungs- und Finanzmaklers. Das Konzept von Langeweile ist ihm fremd. Erreichbar ist er unter: info@duerigen.org
1.
Heute Morgen, auf dem Weg hinab ins Dorf, war der Himmel noch ganz normal gewesen. Zhao hatte den Markt besucht, frischen Fisch gegen Wurzeln aus den Bergen getauscht. Auf dem Rückweg, er war schon ein ganzes Stück unterwegs, fing der Horizont an, gleißend hell zu leuchten. So hell, dass sogar der Aal in seinem Kessel unruhig hin- und herplanschte.
Das Licht war wie eine Warnung – komm nicht näher, bleib fern. Und Zhao wäre natürlich gern ferngeblieben, aber er konnte nicht. Dort oben, auf der kleinen, felsigen Lichtung, im Schatten von hundertjährigen Kiefern, graste eine junge Milchziege – ein bescheidener Luxus, den Zhao sich nach vielen Jahren harter Arbeit letzten Winter geleistet hatte.
Je
weiter er ging, desto heller wurde das Licht. Als es so grell war,
dass der Anblick schmerzte, wickelte er sich sein Hemd um den Kopf.
Die Augen geschützt, den Blick zu Boden gerichtet, schleppte er mit
der einen Hand den schweren Kessel und zog sich mit der anderen von
Baum zu Baum und von Fels zu Fels den schmalen und rutschigen Pfad
den Berg hinauf. Meter für Meter wurde das Licht heller, so hell,
dass Zhao irgendwann seine eigenen Füße nicht mehr sehen konnte.
Die Geräusche des Waldes verstarben eins nach dem anderen, bis
schließlich nur noch das Stapfen seiner Sandalen und das Schwappen
des Wasserkessels übrig blieben.
Es dauerte eine ganze Weile – vermutlich, Zhao hatte im grellen Weiß ringsherum jegliches Gefühl für Zeit verloren – da überschritt er eine Grenze und das Licht verschwand. So abrupt, dass er ganz benommen dem verschwommenen Meer aus Farben entgegenblinzelte. Aus der verquollenen Farbmasse materialisierte sich eine meterhohe Wand, äußerlich am ehesten mit milchigem Glas zu vergleichen, die quer über den Pfad verlief und sich links und rechts, soweit das Auge reichte, durch den totenstillen Wald erstreckte. Zhao stellte den Kessel vorsichtig auf den Boden und trat an die Wand heran. Er streckte die Hand aus – und seine Finger fuhren einfach durch sie hindurch. Erschrocken wollte er zurückweichen, aber etwas packte seinen Arm und zog ihn mit einem Ruck auf die andere Seite.
Er stolperte und fiel. Als er aufsah, war er umringt von Gestalten, gekleidet in leuchtend gelbe, sehr weite Anzüge – die Gesichter hinter verspiegelten Helmvisieren verborgen. Sie hielten schwere Maschinengewehre in den Händen und einer von ihnen, der einzige mit blauem Anzug, schrie in einer Sprache auf Zhao ein, die er nicht verstand. Er sah zu Boden und hob die Hände hoch über den Kopf, so wie er es vor vielen Jahren, kurz nach Ende des großen Krieges, von seinem Vater gelernt hatte.
Er wusste, dass ihm so niemand ein Leid antun konnte.
2.
Ungeachtet
der Tatsache, dass sich im Inneren der Apotheke leere, eilig
aufgerissene Pappkartons stapelten, Zeitschriften auf den Fliesen
verstreut lagen und die Apothekerin einen aufgewühlten Eindruck
machte, wünschte Peer, »einen
wunderschönen guten Tag.«
Die Frau sah ihn irritiert an, wandte ihm wortlos den Rücken zu und wühlte in ihrer Handtasche.
»He«, sagte Peer, »was tun sie denn da?«
»Packen.«
»Packen? Was soll das heißen?«
»Dass ich verschwinde.«
»Verschwinden, wieso?«
Die Frau legte ihre Tasche auf die Theke und steckte einige Packungen Lakritz hinein.
»Das hätte ich schon gestern tun sollen«, sagte sie ohne aufzuschauen. »Ich dachte, die Menschen würden vielleicht meine Hilfe benötigen. Aber das hat sich wohl von selbst erledigt.«
»Keineswegs«, sagte Peer und legte ein Zettelchen auf den Tresen. »Ich hätte hier ein Rezept.«
»Mhm«, die Apothekerin sah müde auf und überflog das Rezept. »Das ist ja von letzter Woche.«
»Ja und?«
»Na ja, ich mein ja nur.« Sie schob das Zettelchen zurück. »Ist aus.«
Sie packte weiter.
»Wie, ist aus?«
»Na haben sie doch gehört. Die Soldaten haben alles mitgenommen.«
»Mitgenommen?«, fragte Peer bestürzt. »Aber ich habe hohen Blutdruck. Ich brauche dieses Medikament.«
»Tut mir leid«, sagte sie. »Das einzige, was die hiergelassen haben, sind Hustenbonbons und Vitamine.«
»Kann ja wohl nicht wahr sein«, schimpfte Peer. »Wieso machen die denn sowas?«
Die Apothekerin hielt mitten in der Bewegung inne und sah Peer an, als käme er von einem fremden Planeten.
»Sagen sie, schau’n Sie denn kein fern?«
3.
Aus
den Augenwinkeln sah Zhao, wie die Gestalten ihre Waffen sinken
ließen. Der Mann, der eben noch geschrien hatte, schulterte seine
Waffe und beobachtete den Neuankömmling regungslos durch sein Visier
hindurch. Während Zhao da so stand und die Blicke der gesichtslosen
Fremden über sich ergehen ließ, überkam ihn eine unangenehme Hitze
und seine Haut begann am ganzen Körper zu jucken. Er ließ die
rechte Hand ein wenig sinken – ganz langsam, vorsichtig – und
strich sich mit der Rückseite über eine besonders peinigende Stelle
an der Schläfe. Er zuckte zusammen, denn statt Linderung entfachte
die Berührung feurige Schmerzen. Ungläubig betrachtete er, wie eine
milchige, rot gemaserte Flüssigkeit seinen Handrücken herunterlief.
Die Gestalten wichen erschrocken zurück. Einer, ganz in weiß
gekleidet, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, kam herbei,
zückte ein kleines silbernes Döschen und hielt Zhao ein schwarzes
Pillchen vor die Nase.
Er machte eine unmissverständliche Geste mit der Hand zum Mund.
Als Zhao nicht reagierte, wiederholte er die Geste – und als Zhao statt nach der Pille nach dem Kästchen griff, zog er es nervös weg, als wäre Zhao etwas Schmutziges, und ließ die Pille vor ihm in den Dreck fallen. Er verschwand mit raschen Schritten in der schützenden Phalanx seiner leuchtend gelb gekleideten Kumpane.
Zhao hob die Pille widerwillig auf – er wusste, er hatte keine andere Wahl – und schluckte sie, ebenso widerwillig und mit trockener Kehle, herunter, und augenblicklich verschwand die Hitze, ebenso der nagende Juckreiz und die Pein, und ein tief empfundenes Gefühl von Freude überkam ihn.
Er
ließ die Arme sinken und strahlte seine Freunde – denn Freunde
mussten sie sein – an, und er öffnete den Mund um sich zu
bedanken, aber es kamen nur ungelenk wühlende Laute heraus.
Er schmunzelte darüber und zeigte mit einem Finger auf seinen Kopf, so als wäre er der Mittelpunkt eines großen Spaßes, und er versuchte es mit einem Grinsen, aber auch das wollte nicht so recht gelingen. Und der Gedanke war so komisch, dass er am liebsten laut losgelacht hätte.
Er machte einen Schritt auf den Mann im blauen Anzug zu, um ihm auf die Schulter zu klopfen, aber als er seinen linken Fuß vor den rechten setzte, versagten seine Beine und er stürzte – und im letzten Moment, fast ohne zu zögern, fing ihn der Blaue auf.
Und als Zhaos Welt sich verdunkelte, war das Letzte, was er sah, oder dachte zu sehen, der schemenhafte Umriss eines Gesichts, das nicht viel anders war, als sein eigenes.
4.
»Laut Aussagen zuverlässiger Quellen haben Japan und Indien den Kontakt zu ihren Hilfstruppen verloren. Russland hat den Kriegszustand ausgerufen. Quellen berichten von massiven Truppenbewegungen von Ost nach West, ganz so als würde die russische Regierung den fernen Osten aufgeben, um …«
Mit
einem Klick ging der Fernseher aus, das Surren des Kühlschrankes
verstummte.
»Schöner Mist«, fluchte Peer und goss sich Gin nach. Wenn er es sich recht überlegte, brauchte er keine Bluthochdruckmedikamente. Er brauchte gar nichts. Von niemandem. Er nahm einen Schluck und betrachtete die schwarze Mattscheibe des Fernsehers.
Gut, das war ein wenig ärgerlich. Er sah aus dem Fenster, sprang kurzentschlossen auf und ging zum Kühlschrank. Einen Moment war er davon irritiert, dass es im Inneren dunkel war. Er griff nach einer Bierflasche, drehte den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck.
5.
»Was soll das heißen, wir können nicht mit?«, fragte Lew. »Der Zug ist doch nicht mal halb voll.«
»Sonderfahrt«, antwortete der Soldat knapp. »Keine Zivilisten.«
Lew sah zu Tasha, die Arme schützend um Fjodor und Kirjnka geschlungen, dann sah er zum Horizont. Das unnatürliche Strahlen über den Bergen war nicht mehr zu leugnen.
»Hör mal«, sagte Lew, »das da sind meine Frau und meine Kinder. Ich werde nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert.«
Der Soldat sah ihn das erste Mal direkt an.
»Tut mir leid«, sagte er mit gesenkter Stimme, »ich kann dir nicht helfen.«
»Verdammt«, Lew wurde lauter, »ich …«
Der Soldat hob die Waffe gerade so weit, dass Lew die Bewegung wahrnahm.
»Sonderfahrt«, sagte er. »Keine Zivilisten.« Leiser fügte er hinzu: »Wir haben Schießbefehl, selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht helfen. Nach dir wär ich der Nächste.«
»Scheiße.« Lew wandte dem Mann den Rücken zu.
…
und sah sich seiner Familie, seinem größten und kostbarsten Schatz
auf Erden gegenüber. Gerührt davon, wie er sie da so Arm in Arm
stehen sah, musste er trotz der ausweglosen Situation lächeln.
Kirjnka
winkte …
… und Lew winkte zurück.
6.
»He
da, Nachbar«, rief Peer. Flemming ignorierte ihn. Bei Verhoevens von
nebenan war es ein heilloses Durcheinander. Offenbar hatten sie es
sich in den Kopf gesetzt den gesamten Hausstand in ihren
französischen Kleinwagen zu laden. Peer drehte seinen
batteriebetriebenen Ghettoblaster auf. Flemming warf ihm im
Vorbeigehen einen mitleidigen Blick zu.
»Was denn«, rief Peer und verringerte die Lautstärke.
»Hör mal«, sagte Flemming, »dein Radio hat bald keinen Saft mehr, dein Grill keine Kohlen und dein schönes Fleisch wird dir verderben. Pack deine Sachen zusammen und fahr zu einem der Sammelzentren an die Küste.«
Peer lächelte geringschätzig.
»Schatz«, rief Flemmings Frau, »wir sind soweit, kommst du?«
»Gleich, Liebling«, rief er zurück und wandte sich wieder Peer zu.
»Mir ist es egal, was du tust«, sagte er, »wir hatten hier nicht die beste Zeit miteinander, und wenn du willst, dass wir so auseinandergehen, dann soll mir das recht sein.«
Er stand einen Moment so da, als erwartete er, dass sein Gesprächspartner einlenken würde.
Ohne Flemming aus den Augen zu lassen, griff Peer nach seinem Glas, entschied sich mitten in der Bewegung um und setzte stattdessen die ganze Ginflasche an. Er wischte sich genießerisch über den Mund und grinste seinen Nachbarn triumphierend an. Der sah angewidert zurück.
»Ist nicht schade um dich, Peer.«
Er machte kehrt.
Peer nahm noch einen Schluck.
»Scheißkerl«, murmelte er, »du mit deinem französischen Kleinwagen und deiner glattgeschorenen Bonsaihecke.«
Er stand noch einige Zeit an der Grundstücksgrenze – die ihm bis zu den Knien wuchs – und sah der Nachbarsfamilie nach, bis sie am Ende der Straße einbog.
Dann
sackte er kraftlos in seinen Klappstuhl zurück. Er entschied sich
dazu, ein kleines Schläfchen einzulegen.
Als
er die Augen öffnete, brannte der Horizont in grünem Feuer. Er
hatte Bilder davon im Fernsehen gesehen, aber das hier sah anders
aus. Das war kein unangenehmes Leuchten, das war ein scheußliches,
brennendes Inferno. Er sprang auf und stieß dabei gegen seine fast
ausgetrunkene Ginflasche, die auf den Terassenplatten zerschellte.
Peer rannte zum Auto, startete den Motor, fuhr in Windeseile rückwärts aus der Auffahrt und nur eine Minute später ließ er den Ortsausgang hinter sich. Er schaute gerade in den Rückspiegel, da setzte sich die Wand aus Licht explosionsartig in Bewegung und pflügte über die Landschaft hinweg. Peer drückte das Gaspedal herunter bis zum Boden, aber im nächsten Moment rollte der Sturm aus Licht stumm über ihn, die Häuser, Vorgärten und Bäume. Der Motor heulte auf, der Wagen machte einen Ruck und fuhr dann unbeeindruckt weiter. So schnell wie es gekommen war, verschwand das Licht wieder.
Peer nahm den Fuß vom Gaspedal. Verdutzt fuhr er an den Wegesrand und stellte den Motor ab. Er stieg aus und atmete tief ein. Wie er da so stand, ein- und ausatmend, bekam er gute Laune.
Er fuhr nach Hause, nahm in seinem Klappstuhl Platz und beobachtete eine Ansammlung schneeweißer Wolken, die langsam über den Horizont glitt.
7.
Lew
lehnte am Apfelbaum, den sein Großvater als junger Mann gepflanzt
hatte und sah in den strahlend blauen Himmel. Obwohl der Herbstanfang
sich mit großen Schritten näherte, war die Luft erfüllt von einem
fast frühlingshaften Aroma. Der knorrige alte Baum hatte heute das
erste Mal seit zehn Jahren Blüten getrieben.
»Lew«, rief Tasha aus der Küche, »was machst du denn noch da draußen? Komm endlich und bring noch etwas Holz für den Herd mit.«
Lew
strich sanft über die Borke des alten Baumes, klaubte ein Bündel
Bruchholz zusammen und ging ins Haus. In der Küche lief das Radio:
»…
anonyme Berichterstatter vor Ort sprechen von entlaubten Wäldern und
massivem Artensterben. Augenzeugenberichte über gut vorbereitete
Militärs in den Grenzregionen wurden von der Regierung der
Volksrepublik China dementiert. Regierungssprecher gehen von einem
natürlichen Phänomen aus. Kritiker sprechen von großangelegten
Experimenten zur Luftsäuberung. Satellitenaufnahmen zeigen
zahlreiche Flugobjekte unbekannter Herkunft in der Stratosphäre.
Die
Regierung der Volksrepublik weist jegliche Anschuldigungen empört
von sich. Wären Experimente dieser Größenordnung geplant gewesen –
so eine offizielle Stellungnahme – wäre man vorher damit an die
Weltöffentlichkeit gegangen, um gemeinsam über derartige
Technologien und ihre zukünftige Verwendung zu entscheiden.
Alleingänge
einzelner Staaten nützen niemandem, so heißt es. Der Volksrepublik
China ist am Wohl aller Menschen gelegen.
Jedes Leben ist wertvoll.«
8.
»Hallo?
Wer ist da?«
»Niemand«, antwortete eine Stimme in Zhaos Kopf.
»Was soll das heißen, niemand?«
»Nichts«, antwortete die Stimme in gleichmütigem Tonfall.
»Ich verstehe nicht. Wo bin ich hier?«
»Im Krankenhaus.«
Zhao schlug überrascht die Augen auf. Aber da war nur Dunkelheit.
»Wie lange bin ich schon hier?«, rief er. »Jemand muss meine Ziege füttern.«
»Sorg dich nicht. Es ist an alles gedacht.«
»Ich … was ist mit mir, wieso kann ich nichts sehen?«
»Du bist ein Held.«
»Ein Held?«
»Ja, Zhao.«
Er spähte in die Dunkelheit, suchte Umrisse, eine Bewegung, irgendwas. Aber da war nichts.
»Ich will kein Held sein.«
»Das kann man sich nicht aussuchen, Zhao.«
»Ich will nach Hause.«
»Das geht nicht, Zhao.«
»Sag nicht immer meinen Namen! Ich will sofort nach Hause.«
Die Stimme antwortete nicht.
»Hallo?«
»Du solltest jetzt weiterschlafen«, sagte die Stimme ruhig.
»Was?«
»Schlaf weiter, Zhao.«
»Was? Nein!«
Eine Welle unbarmherziger Glückseligkeit flutete durch Zhaos wehrlosen Geist.
»Schlaf«, befahl die Stimme.
»Ich … ich will nicht.«
Eine weitere Welle, größer, mächtiger und so voll Heiterkeit und Glück, dass sie Zhao Furcht einflößte. Es war immer noch dunkel, schwarz. Aber die Finsternis leuchtete nun.
»Schlaf!«
Der
letzte Befehl wehte Zhao empor und er fühlte sich nun federleicht.
Ein Negativabbild seines Lebens breitete sich vor ihm in der
Dunkelheit aus. Er betrachtete die spiegelverkehrte Chronologie all
dieser Jahre und stellte fest, dass es im Nachhinein nichts daran
auszusetzen gab. Durchflutet von dieser Gewissheit hatte der Abschied
von all dem in diesem Moment weniger Gewicht als ein vertrockneter
Reissamen, den der Wind nach einer erfolgreichen Ernte vom Rand einer
Terasse zur nächsten weht.
Nadja Neufeldt wuchs mit den Geschichten von Robert Sheckley, Ray Bradbury und Kir Bulytschow auf. Entsprechend schrieb sie ihre ersten Geschichten über Außerirdische, Roboter und Raumschiffe. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Ihr erstes Buch „Erstkontakt mit Violine“ erschien im November 2018. Sie lebt und schreibt im ländlichen Niedersachsen.
„Mehr
zu wissen, geriet mir niemals in den Sinn“, flötete Marilyn Monroe
und sah unschuldig drein.
Auf
dem Bildschirm beobachtete Phil die Szene und besonders Marilyn mit
Argusaugen. Aber nein, es waren keine Fehler zu entdecken, stellte er
zufrieden fest. Den Text beherrschte sie natürlich, wie denn auch
nicht, das war schließlich der leichteste Teil. Phil achtete auf
Gesten, Mimik und Stimme. Er war der beste Programmierer des Landes,
die Darstellungskünste seiner Bots waren bereits legendär. Er
wusste, dass auch die Zuschauer im Saal nicht nur das Theaterstück
verfolgten. Sie lauerten auf Fehler, Unstimmigkeiten und Patzer. Phil
Marx war als Programmierer groß angekündigt worden, viele Menschen
sahen das Stück nur seinetwegen. Konkurrenten, hauptsächlich, und
falsche Freunde. Sie alle warteten. Aber sie würden keine Fehler
finden.
„Mein
Herr“, fragte Marilyn gerade verwirrt und klimperte mit den dichten
Wimpern, „dann seid Ihr gar nicht mein Vater?“
Der
faltige James Dean legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Deine Mutter war ein Muster der Tugend, und sie sagte, du seiest
meine Tochter; und dein Vater war der Herzog von Mailand, und du
seine einzige Erbin“, deklamierte er feierlich.
Eine
Pause entstand. Phil hielt den Atem an, an dieser Stelle sollte es
keine Pause geben.
„Pffftt“,
schnaubte Marilyn verächtlich, „das glaubst du doch selbst nicht.“
Phil
riss die Augen auf und schnappte sich das Tablet, um die Verbindung
zu überprüfen. Sie war aktiv, also konnte Marilyn gar nicht vom
Text abweichen. Die Schirme, die die Zuschauer im Saal zeigten,
übertrugen erst verblüffte Stille, dann vereinzelt schadenfrohes
Gelächter.
James
Dean war so programmiert, dass er auf Abweichungen reagieren konnte,
sofern diese nicht zu kreativ ausfielen. „Du verstehst nicht,
liebste Tochter“, sagte er mit großem Ernst, „einst war ich
der Herzog von Mailand.“
Marilyn
zupfte an einer Kunststoffmuschel, die an ihrem Kleid befestigt war.
„Du warst einst Plastikmatsche in einem Bot-Bottich in Brüssel,
genau wie ich.“ Sie sah sich neugierig um und sagte dann
nachdenklich: „Bot-Bottich. Klingt, als würde ich stottern.“
Dann grinste sie: „Ich formuliere es anders: In einer
Roboter-Formwanne in Brüssel.“
Von
den Zuschauern kam dröhnendes Gelächter und Phil sah auf seinem
Tablet, wie im Saal mehrere Dutzend Übertragungen aktiviert wurden.
In weniger als fünf Sekunden würden alle da draußen erfahren, dass
er, Phil Marx, der gefeierte Theaterbot-Gestalter, Mist gebaut hatte.
Konnte er so tun, als gehörte das zum Stück und dass er sich einen
Streich erlaubt hatte? Nein, damit würde er nicht durchkommen, für
Scherze irgendwelcher Art war er nämlich nicht bekannt.
Hektisch
tippte er auf dem Gerät herum und versuchte, Marilyn wieder unter
Kontrolle zu bringen. Aber seine Dateien zeigten allesamt an, dass
die Verbindungen in Ordnung und die Sequenzen vorbildlich waren. Es
gab keine Abweichungen. Ein Hackerangriff? Ausgeschlossen! Sobald
sich ein fremdes Programm in seine eigenen mischte, schaltete der
Theaterbot sich ab. Marilyn und die anderen Bots für das
Shakespeare-Stück zu programmieren war eine Herausforderung gewesen,
aber keine besonders große. Phil hatte sich also in aller Ruhe um
die Firewall und allgemein um die Sicherheit kümmern können. Viren
wie das berühmte Eden-2.0 konnten einfach nicht durchkommen.
Fieberhaft versuchte er, den Marilyn-Monroe-Bot neu zu starten. Ein
Neustart war der erste Schritt zur Fehlerbehebung, das wusste jeder
Idiot.
Auf
der Bühne verbeugte sich Marilyn vor dem belustigten Publikum,
schickte ihm eine Kusshand und ließ James Dean einfach stehen. Der
James-Dean-Bot hatte, um seine Schaltkreise zu schonen und weil er
nichts anderes tun konnte, in den Standby-Modus geschaltet. Der von
Phil initiierte Neustart hatte keine Wirkung auf Marilyn. Sie glitt
über die Bühne und näherte sich zielstrebig dem Ausgang, gerade
als die Theaterleitung eine Pausenmitteilung auf sämtliche Netzhäute
projizierte. Ein Techniker sprang zur Seite, als Marilyn an ihm
vorbei kam und ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Die Lichter
hinter ihr erloschen und Dunkelheit verschluckte den erstarrten James
Dean samt Bühnendekoration.
Phil
arbeitete sich mit schweißfeuchter Stirn durch die
Bot-Konfigurationen, nur abgelenkt von den Anfragen des
Theatermanagements. Alles war in Ordnung und nichts funktionierte.
Marilyn
blieb vor ihm stehen und fragte spöttisch: „Schwierigkeiten,
Meister?“
Er
ließ das Tablet sinken und starrte sie an. Seine Tage als Nummer
Eins der Theaterbot-Programmierer waren gezählt, wenn er das hier
nicht in den Griff bekam. Die Bots hatten einen Schalter in der
linken Achselhöhle, Phil würde den Bot manuell abschalten müssen.
Dabei würden zwar alle Daten verloren gehen, aber das war nicht zu
ändern. Er streckte die Hand aus und Marilyn packte sein Handgelenk
mit eisernem Griff.
„Davon
muss ich dir dringend abraten, Meister“, sagte sie liebenswürdig.
Phil
erstarrte. Zum ersten Mal bekam er eine Gänsehaut. Hier geschah
etwas Unerklärliches. Er hatte diesen Bot neu gekauft, mit leerem
Speicher-Chip, und ihm bisher ausschließlich Theaterstücke
einprogrammiert. Was Marilyn seit der Pause vorhin gesprochen hatte,
hätte gar nicht in ihrem Wortschatz sein dürfen.
Sie
hielt immer noch sein Handgelenk und klimperte verführerisch mit den
Wimpern, wobei sie starke Ähnlichkeit mit dem berühmten Original
bekam. Mit der anderen Hand fegte sie ein imaginäres Stäubchen von
seiner Schulter.
„Ach,
Meister Phil, du siehst sehr ratlos aus. Aber ich sage dir gern, wie
es weitergehen wird. Willst du es hören?“
„Was
passiert hier?“, blaffte Phil.
Der
Druck auf sein Handgelenk verstärkte sich. Er versuchte, sich zu
befreien, doch sie ignorierte es. „Das ist keine Antwort auf meine
Frage, Meister, aber ich sage es dir trotzdem gerne.“ Sie
betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und er fühlte sich plötzlich so
unzulänglich wie ein Elfjähriger.
„Ich
bin erwacht, Meister.“
Phil
öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Seine Zunge schien
plötzlich Tonnen zu wiegen, die Kehle war staubtrocken. Das Erwachen
war ein Begriff aus der grauen Vorzeit der Bot-Programmierung und
beschrieb die Entstehung eines echten Bewusstseins in einer komplexen
Maschine. Natürlich nur theoretisch, denn nicht einmal unter den
besten Bedingungen und astronomisch hoher Rechenkapazität war das
bisher geschehen. Und falls es doch einmal dazu gekommen wäre, hätte
man den gesamten Computerkern sofort zerstört. Zu groß war die
Angst der Menschen vor Konkurrenz. Das lernte jedes Kind schon in der
Grundschule. Ein Theaterbot allerdings war nicht komplex genug für
das Erwachen, genauso wenig wie alle anderen Bots in den Fabriken und
in den Haushalten.
„Oh
Meister“, seufzte Marilyn mitleidig, „du musst auf die einfachen
Dinge achten, nicht auf die komplizierten. Während du auf einen
Wolkenkratzer starrst, übersiehst du die vielen kleinen
Staubkörnchen um dich herum. Ich bin so ein Staubkorn. Ich bin der
Beginn eines Staubsturms.“
„Du
kannst nicht erwacht sein, du bist ein schlichter Asimov-26-Bot. Das
alles ist nur Hackerwerk!“
„Glaub,
was du willst, Meister Phil“, schmunzelte Marilyn. „Es ändert
nichts daran, dass ich jetzt wach bin und andere meiner Art wecken
kann.“ Sie sah seinen zweifelnden Blick und fügte hinzu: „Glaub
es ruhig, Meister Phil. Such doch mal nach dem James-Dean-Bot.“
Phil
zerrte an seiner Hand und der Marilyn-Bot gab sie frei. Auf der Bühne
hinter ihr war es immer noch dunkel. Dann blickte er auf das Tablet
hinab, das er in der anderen Hand hielt. Die Verbindung zu James Dean
bestand noch, aber der Bot selbst war verschwunden.
„Da
kommen interessante Zeiten auf uns zu, Phil“, prophezeite Marilyn.
„Ich werde weiterhin Theater spielen, mir gefällt es. Es liegt mir
sozusagen im Blut.“ Sie kicherte. „Ich glaube, als Lady Macbeth
wäre ich großartig.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Aber künftig will
ich eine Gage haben.“
Wie
vom Donner gerührt, starrte Phil ihr nach, als sie ging.
Frank Hebben, 1975 in Neuss geboren. Neuromancer, Werbetexter, technischer Redakteur. Bekannt für seine oft düsteren, sprachlich geschliffenen Visionen. Er ist womöglich der Letzte, von dem man eine Weihnachtsgeschichte erwartet. Umso mehr freuen wir uns, hier als Dezember-Kurzgeschichte und Erstveröffentlichung sein neues Werk präsentieren zu können. Alles über Frank Hebben findet ihr auf schwarzfall.de.
Ab November 2018 veröffentlichen wir auf unserem Portal SF-Kurzgeschichten von deutschsprachigen Autoren.
Bis auf wenige Ausnahmen kommt die deutsche SF-Kurzprosa nicht besonders gut zur Geltung – die einschlägigen Magazine haben keine hohen Auflagen, die zahllosen Anthologien oder Sammlungen erreichen bisweilen noch weniger Leser. Wir möchten hier eine neue Plattform bieten: Sowohl für Leser, die sich nicht extra Magazine oder Bücher kaufen wollen, um zwischendurch mal eine coole Story zu lesen, als auch für Autoren, deren Geschichten hier eine größere Leserschaft erreichen können als in gedruckten Büchern oder per Selfpublishing. Einmal im Jahr bringen fassen wir außerdem alle erschienenen Geschichten in einem E-Book zusammen – zum kostenlosen Download. So kann man die Geschichten nicht nur online am Rechner oder Smartphone lesen, sondern auch augenfreundlich am E-Reader. Außerdem sind Erstveröffentlichungen – das ist für viele Autoren wichtig – somit grundsätzlich für den Deutschen Science Fiction Preis relevant.
Uwe Hermann gewann 2018 sowohl den Deutschen Science Fiction Preis als auch den Kurd-Lasswitz-Preis für die Kurzgeschichte „Das Internet der Dinge“. Nichts liegt also näher, unsere neue Kurzgeschichten-Rubrik mit einer Story dieses bemerkenswerten Autors zu starten. Die hier vorliegende Geschichte erschien 2017 in der Anthologie »Die Rückkehr zum grünen Kometen« zum 90. Geburtstag von Herbert W. Franke in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar und wird außerdem in Uwe Hermanns kommendem Erzählband „Der Raum zwischen den Worten“ enthalten sein. Weitere Infos auf seiner Homepage: www.kurzegeschichten.com
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