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Story: „Verdammtes Ungeziefer“ von L.D. Schenk

L.D. Schenk ist Jahrgang 1948, hat Physik studiert und anschließend auf dem Gebiet EDV/Informationstechnik gearbeitet. Mittlerweile ist er im Ruhestand. Zur Science Fiction kam er sehr früh in seinem Leben Anfang der 60-er Jahre, als sie noch von den Heftchenromanen dominiert wurde und als „Schmutz- und Schundliteratur“ galt. In der Schulzeit entstanden erste eigene Geschichten, aber Studium und Beruf führten ihn dann in andere Gefilde. „Verdammtes Ungeziefer“ ist seine erste Geschichte nach einer langen Pause, zu der ihn tatsächlich ein Blattlausbefall auf seinem Balkon anfangs des Jahres inspiriert hat.

“Was ist bloß mit meinen Geranien los?”

Pamela starrte ungläubig auf die zwei Pflanzkästen, die am Balkongeländer hingen. Ihr Inhalt bot ein trauriges Bild. Viele Blätter wiesen statt eines satten Grüns ein kränkliches Braungrün auf. Bei einigen waren die Ränder gelb eingefärbt; manche waren sogar eingerollt. Auf dem Balkonboden lagen abgeworfene Blütenblätter, die von ausgedünnten Blütenständen herabgefallen waren.

Pamela, eine attraktive Blondine in ihren frühen Dreißigern, trat näher und nahm die Pflanzen in Augenschein. Ein Blick auf die Blattunterseiten bestätigte das, was sie schon vermutet hatte. Ihr hübsches Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Widerwillens.

“Ich habe es ja geahnt”, rief sie aus. “Ungeziefer!”

Als sie sich umdrehte, hätte sie fast ihrem Sohn, Samuel, auf die Füße getreten, der, von ihr unbemerkt, durch die offene Balkontür gekommen war und nun unschuldig grinsend hinter ihr stand. Er war blond wie seine Mutter und seine blauen Augen blitzten verschmitzt.

Samuel war acht Jahre alt und brennend an allem interessiert, was um ihn herum vor sich ging.

“Darf ich das Ungeziefer auch mal sehen?” fragte er neugierig.

“Na gut, komm her, Junior!” lud sie ihn ein, während sie sich wieder zum Blumenkasten wandte, eines der Blätter ergriff und die Unterseite mit spitzen Fingern nach oben drehte.

Samuel trippelte näher und betrachtete aufmerksam, was vor seinen Augen lag. Auf der Blattunterseite verstreut befand sich eine Anzahl von schwärzlich-grünen Tierchen; an den Blumenstängeln hingen sie schon in dichten Trauben.

“Was ist das?” fragte Samuel.

“Blattläuse!” stellte Pamela mit deutlichem Abscheu in der Stimme fest.

“Und was machen die?”

“Sie fressen meine schönen Geranien auf!” war die erzürnte Antwort.

“Haben die denn Zähne?” wollte Samuel wissen.

“Nicht direkt”, meinte Pamela zu ihrem Sohn. “Sie haben einen Rüssel am Kopf, den bohren sie in die Pflanze und saugen sie aus. Die Pflanze wird dann welk, die Blätter werden braun und die Blüten fallen ab und am Ende geht die Pflanze jämmerlich ein. Schau dich bloß einmal um, wie es hier aussieht! Alles braun und verwelkt! Meine schönen Geranien!”

“Uaaah”, meinte der Junge und schauderte zusammen. “Genau wie bei den Vampiren, die einem das Blut aussaugen! Was machen wir da bloß? Kruzifixe in die Blumenkästen stecken, damit die Vampire abhauen?”

Pamela verzog gegen ihren Willen belustigt das Gesicht, doch wich dessen Ausdruck gleich wieder grimmiger Entschlossenheit.

“Das wird wohl kaum etwas helfen”, belehrte sie ihren Sohn. “Insektenspray dürfte da eher angebracht sein! Wenn mich nicht alles täuscht, so haben wir im Keller . . .”

Sie wurde von einer lauten männlichen Stimme unterbrochen, die aus dem Wohnzimmer erscholl. Das war Samson, ihr Mann, auch als der “große” Sam bekannt. Samuel war der “kleine” Sam, wurde aber von den beiden Eltern meistens nur mit “Junior” angesprochen.

“He, Junior!” rief die Stimme aus dem Wohnzimmer. “Komm schnell! Sie zeigen gerade wieder das fremde Raumschiff!”

Blitzschnell verschwand Samuel im Wohnzimmer und nahm neben seinem Vater auf dem Sofa Platz. Dieses Möbelstück stand so, dass man frontal auf den riesigen Fernseher schaute, der an der gegenüber liegenden Wand befestigt war.

Samson, der Vater, war muskulös und untersetzt, man sah ihm aber bereits an, dass er ganz gerne des Öfteren dem Getränk zusprach, das sich in der Flasche in seiner Hand befand: einem leckeren Bierchen. Er nahm einen Schluck, legte seinen kräftigen Arm um die Schultern seines Sohnes, und beide widmeten sich gespannt dem Nachrichtenbeitrag, der gerade lief.

Der Bildschirm an der Wand zeigte das ihnen bereits bekannte Bild eines wegen der großen Entfernung zur Kamera hin- und herschwankenden, unregelmäßig geformten Objekts, das aussah wie ein länglicher Gesteinsbrocken mit Verdickungen an beiden Enden.

Die Stimme des Fernsehsprechers kommentierte dazu: “Nachdem der kosmische Wanderer vor zwei Tagen seine Geschwindigkeit stark verringert hat und in eine stabile Umlaufbahn um die Erde eingeschwenkt ist, kann es keinen Zweifel mehr geben, dass es sich bei der ‘Hantel’, wie sie von den Astronomen aufgrund ihrer Form getauft wurde, um das Werk eines intelligenten Urhebers handelt. Mit größter Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass sich an Bord des – wie man nun sagen muss – interstellaren Raumschiffes intelligente Lebewesen befinden.”

“Diese Viecher fressen meine Geranien auf!” rief Pamela erzürnt dazwischen, die mittlerweile ebenfalls im Wohnzimmer stand, aber nur einen kurzen Blick auf den Fernsehschirm geworfen hatte. “Da muss etwas geschehen! Ich gehe mal eben in den Keller!”

Samson und Samuel legten den Kopf zur Seite, als Pamela auf ihrem Weg zur Wohnzimmertür das Fernsehbild verdeckte.

“Alle Versuche, mit der ‘Hantel’ Kontakt aufzunehmen, sind bisher leider gescheitert”, fuhr der Sprecher fort. “Keiner kann daher genau sagen, welche Art von Lebewesen sich an Bord befinden mögen oder wie sie aussehen.”

“Riesenblattläuse!” entfuhr es Junior unwillkürlich.

“Durchaus möglich”, entgegnete sein Vater schmunzelnd. “Aber dass es Blattläuse sind, wollen wir doch nicht hoffen! Die würden sich vermutlich auf unsere eh schon arg gebeutelten Wälder stürzen und sie auffressen. Was wäre das für eine Katastrophe!”

“Nicht auffressen”, sagte Junior, der gerade etwas gelernt hatte. “Sie würden sie aussaugen mit ihren Riesenrüsseln! Uiuiuiui!”

“Na, mach dir mal keine Sorgen”, beruhigte ihn sein Vater. “Komm, schauen wir weiter.”

Fernsehbild und Thema hatten sich aber mittlerweile geändert. Der Schirm zeigte eine dicke Limousine, die vor einem Gebäude mit einer breiten Eingangstreppe vorfuhr, wo mehrere offiziell aussehende Männer in Anzügen bereits warteten. Auf der Seite neben dem Fahrer stieg ein kräftig gebauter Mann aus, ging zwei Schritte nach hinten und öffnete die zweite Tür auf der Beifahrerseite. Ein korpulenter Mann mit spärlicher Frisur, die im gerade herrschenden Wind leicht flatterte, stieg aus und wurde mit einer Verbeugung begrüßt. Dann erklomm er mit seinem Gefolge, das auf ihn gewartet hatte, die Teppenstufen.

Eine Frauenstimme kommentierte dazu: “Die Vertreter der wichtigsten Industrienationen trafen sich heute erneut in Rio de Janeiro mit den Regierungschefs des süd-amerikanischen Kontinents, um über mögliche Maßnahmen zur Rettung des Amazonischen Regenwaldes zu beraten. Massive Flächenbrände drohen die sogenannte ‘Grüne Lunge’ der Erde endgültig und unumkehrbar in eine Steppe zu verwandeln.”

Bilder von halb verkohlten Baumstümpfen mit züngelnden Flammen im Hintergrund unterstrichen die Aussage.

Der Kommentar ging weiter: “Bisher konnte noch keine Einigung erzielt werden. Die Länder Südamerikas bestehen darauf, dass Brandrodungen unverzichtbar seien, um ihre wachsende Bevölkerung zu ernähren. Auf die unverhohlene Drohung der USA mit einem militärischen Eingreifen verließen sämtliche Delegationen Südamerikas unter Protest das Sitzungsgebäude. Ein Zeitpunkt zur Fortsetzung der Gespräche kann momentan . . .”

Plötzlich zeigte das Fernsehbild wieder das Raumschiff und die aufgeregte Stimme des männlichen Sprechers von vorhin war zu hören.

“Beim kosmischen Wanderer tut sich etwas! Es hat den Anschein als käme es bald zu einer ersten Kontaktaufnahme. Eine Art ‘Fliegende Untertasse’ ist soeben ausgetreten. Sie sehen jetzt Bilder, die vor wenigen Minuten aufgenommen wurden, während das Raumschiff sich von Osten kommend dem Luftraum Deutschlands näherte.”

Auf der verwitterten Außenhaut der ‘Hantel’ bildete sich ein dunkler runder Fleck, aus dem gleich darauf ein metallisch reflektierendes, einer Scheibe ähnelndes Objekt hervortrat. Es schien langsam nach unten zu fallen, ebenfalls im gleichen Takt wie das Fernsehbild schwankend, so dass außer einem silbernen Blitzen keine weiteren Einzelheiten zu erkennen waren.

Die Stimme des Kommentators fuhr fort. “Bald werden vermutlich einige der drängenden Fragen, die uns in den letzten Tagen beschäftigt haben, eine Antwort finden. Lassen Sie sich im Übrigen nicht durch die geringen Abmessungen des Objekts auf Ihren Fernsehschirmen täuschen. Aufgrund von Messungen weiß man bereits, dass die ‘Hantel’ etwa fünfzig Kilometer lang ist. Das heißt, die winzige Scheibe auf Ihren Schirmen kann durchaus einen Durchmesser von mehreren hundert Metern haben. Auch ihre Geschwindigkeit dürfte recht beachtlich sein.”

Das Fernsehbild sprang erneut und die Stimme des Sprechers überschlug sich beinahe, als er feststellte: “Ein zweites Flugobjekt tritt soeben aus und nimmt Kurs auf die Erde. Sie sehen jetzt wieder aktuelle Live-Bilder vom Geschehen. Nach Tagen des Wartens kommt nun Bewegung in die Sache. Wo werden diese zwei – nein, jetzt sind es bereits drei! – Flugobjekte landen? — Wie wir gerade hören, ist anhand der geschätzten Sinkgeschwindigkeit und der bekannten Umlaufbahn damit zu rechnen, dass die Flugobjekte irgendwo im Großraum Frankfurt, vielleicht sogar in der Metropole selbst niedergehen werden.”

In der Abschlusstür ging ein Schlüssel und gleich darauf betrat Pamela wieder das Wohnzimmer, in der einen Hand triumphierend eine Spraydose schwenkend. In der anderen Hand baumelten ein Paar Latex-Handschuhe, eine Schutzbrille und ein Mundschutz. Zielstrebig ging sie zum Balkon.

Samuel und Samson beugten wieder den Kopf zur Seite, als sie vor dem Fernseher vorbeiging; eine vierte Silberscheibe verließ gerade das Mutterschiff.

Samuel sprang aber sofort auf und folgte seiner Mutter zum Balkon.

“Mama, Mama!” rief er aufgeregt und erzählte seiner Mutter, was sich gerade auf dem Fernsehschirm zutrug. “Und sie landen in Frankfurt, haben sie gesagt. Da wohnen doch wir! Vielleicht kriegen wir sie sogar zu sehen!”

Pamela ließ sich nicht beunruhigen. “Warten wir mal ab”, meinte sie. “Ich habe gerade Wichtigeres zu tun.”

Sie streifte den Mundschutz über. Dann zog sie die Schutzbrille auf und legte die Handschuhe an.

“Kriegen die ekligen Blattläuse jetzt ihr Fett weg?” fragte Junior.

“Worauf du dich verlassen kannst!” sagte seine Mutter mit etwas dumpf klingender Stimme, aber mit Nachdruck.

Pamela packte ihren Sohn bei der Schulter.

“Und du gehst jetzt bitte zur Balkontür und traust dich keinen Schritt weiter! Das ist Gift, was ich hier gleich versprühe. Oder willst du jämmerlich verenden wie dieses Ungeziefer?”

Samuel tat zwar, wie ihm geheißen, maulte aber: “Und wenn ich jetzt verpasse, wie die Fliegende Untertasse landet?”

“Keine Widerrede!” Pamela drehte sich noch einmal um und drohte mit dem Zeigefinger. “Du bleibst da stehen, bis ich fertig bin!”

Sie beugte sich über die Blumenkästen und begann damit, die Pflanzen darin mit einer Abfolge von Sprühwolken aus ihrer Spraydose einzunebeln. Schließlich richtete sie sich zufrieden auf und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten.

Ein bedrohlicher Schatten fiel auf ihren Rücken. Samuel schaute nach oben und seine Kinnlade fiel nach unten.

Über den Dachrand des Wohnblocks, in dem die Familie lebte, schob sich gemächlich in einigen Metern Entfernung die dunkle metallische Unterseite eines riesigen Flugkörpers, so riesig, dass sich seine Vorderkante in einer fast gerade aussehenden Linie nach links und rechts über die wie Bauklötzchen angeordneten Häuser der Wohnsiedlung erstreckte.

Schier endlose Reihen von pechschwarz aussehenden Löchern wurden nach und nach sichtbar. Sie waren das Einzige, was an Struktur zu erkennen war; sonst war das Metall vollkommen glatt.

Alles vollzog sich mit fast völliger Lautlosigkeit, nur ein leises Zischen war zu vernehmen. Ein feiner Nebel und ein süßlicher Geruch lagen in der Luft.

“Das Raumschiff!” wollte Samuel ausrufen, aber er brachte keinen Ton heraus.

Im Wohnzimmer überfiel den immer noch vor dem Bildschirm sitzenden und den Ausstoß einer Unzahl von Silberscheiben beobachtenden Vater plötzlich eine unerklärliche Angst, die ihm die Kehle zuzuschnüren schien.

Er brauchte Luft!

Er stellte die Bierflasche beiseite, erhob sich und schwankte zur Balkontür.

Dort erwartete ihn ein Bild des Schrecken. Seine Frau hing wie eine Schlenkerpuppe mit dem Oberkörper über den Blumenkübeln und rührte sich nicht. Sein Sohn saß, an den Balkonrand gelehnt, bewegungslos auf dem Boden und starrte mit toten Augen ins Leere. Über allem hing der monströse Schatten des außerirdischen Fluggerätes.

Tot! Sie sind tot!dachte Samson. Sie töten uns einfach. Warum machen sie das? Was haben wir ihnen getan?

Seine Hände fuhren verzweifelt an seine Kehle. Doch es nützte nichts. Seine Lungen gehorchten ihm nicht mehr; sie waren gelähmt. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Langsam sank er wie ein Sack zu Boden. Über ihm zog das fliegende Metallungetüm weiter in Richtung Westen.

Etwas wie Bitterkeit überfiel ihn, während ihm allmählich die Sinne schwanden.

Was hatte sein Sohn gesagt? Vor seinem geistigen Auge erschien das groteske Bild einer Riesenblattlaus, welche die Kontrollhebel eines Kommandostandes bediente.

Verdammtes Ungeziefer! war sein letzter Gedanke.

Story: „U69“ von Marco Rauch

Marco Rauch, 1984 geboren, lebt und arbeitet in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Er hat bereits während der Schulzeit erste Kurzgeschichten und längere Erzählungen geschrieben. 2013 Veröffentlichung des Romans „Hard Boiled“ im Koios Verlag, ausgezeichnet mit dem Encouragement Award bei den ESFS-Awards 2014 der European Science Fiction Society. 2016 erschien die Kurzgeschichte „Willkommen in Wien“ in Stadtform, Band 3 / 2016, zum Thema „Apokalypse“.

Wenkmann marschierte über das leere Rollfeld. Hillström, so hieß sein Raumschiff, stand einsam und alleine auf weiter Fläche. Und irgendwie kam es ihm so vor als würde er seinen Kopf hängen lassen. Also, in dem Fall wohl eher das Cockpit. Die alten, verrosteten Raumschiffe und Flugzeuge waren einfach nicht die richtige Gesellschaft für Hillström, war er doch selbst nur ein paar Jahrhunderte alt und somit eben erst ein Teenager.

Die Eingangstür öffnete sich. Hillström stieß einen traurigen, resignierten Seufzer aus. Obwohl es Furcht einflößend aussah, mit seinem knöchernen Exoskelett fast wie ein riesiger animalischer Totenkopf und dem düsteren Cockpit-Auge als Steuerzentrale, das in der Finsternis des Weltalls meist rot glühte und wie ein Unheilbringender Teufel aus dem Nichts auftauchte, war sein Schiff im Kern, also im Inneren seines Wesens so wie viele Teenager: melancholisch, mit Hang zum Weltschmerz, sich unverstanden fühlend und nur auf eines fokussiert. Sex. Rund um die Uhr. Auf jede nur erdenklich Weise.

„Hätten wir nicht nach Stimulacrum Drei fliegen können?“ Hillström hatte eine wohltuende, angenehme, überaus menschliche Stimme.

„Die hätten sich über unseren Besuch nicht gefreut. Das letzte Mal hast du alle C-Beams vor dem Tannhäuser Tor gefressen.“

„Aber die waren gemein zu mir.“ Zu Hillströms Verteidigung musste man einwerfen, dass er bei dem Parkplatz vor dem Tannhäuser Tor noch im Kindergartenalter gewesen war und seine eigene Kraft noch nicht richtig hatte einschätzen können.

„Fliegen wir in die Stadt. Im Prater gibt es vielleicht was für dich.“

Hillström versuchte es zwar zu verbergen, aber Wenkmann waren die zahlreichen Pornos natürlich aufgefallen, nach denen sein Schiff geradezu süchtig war. Kaum lag Wenkmann im Tiefschlaf, ja, manchmal sogar dann, wenn er nur kurz den Kopf von einem Bildschirm wandte und vielleicht sogar jetzt auf einem der abgedrehten Monitore, lief ständig ein Porno. Raumschiffe, interplanetarische Züge, sogar Autos, die es miteinander trieben. Da wurde an Stoßstangen geleckt, an Auspuffen gelutscht, Schaltkreise massiert, Maschinenflüssigkeit auf Cockpit-Scheiben gespritzt. Das wildeste Zeug. Alles was man sich nur vorstellen oder in manchen Fällen gar nicht vorstellen konnte.

Zu sagen der Prater war ein Reinfall, wäre eine Untertreibung gewesen. Hillström war nach seiner Orgie mit Geisterbahnen, dem Riesenrad und sogar den menschlichen Männern und Frauen, die gerade das Pech hatten dort zu sein, alles andere als befriedigt. Es war aber weniger Trotz oder Enttäuschung, die ihn deshalb den Prater, also die Maschinen und Menschen, zerstören ließ, es war vielmehr seine Natur und die Art seiner Fortpflanzung, die dazu führte. Wenkmann wusste das. Der arme Vergnügungspark leider nicht. Die Assimilation mit anderen Wesen und Maschinen war nun mal integraler Bestandteil von Hillströms Art Sex zu haben. Doch der Prater war zu schwach um seiner Lust standzuhalten.

„Na ja. Das war wohl nichts.“ Wenkmann kratzte sich am Kopf und betrachtete das Trümmerfeld vor sich.

Hillström landete neben ihm. „Ich hoffe du hast noch andere Vorschläge.“

„Natürlich. Massenhaft.“ Das Kratzen wurde stärker und schneller. „Keine Sorge. Das war nur der Anfang.“

Wenn Hillström Augenbrauen hätte, die er skeptisch in die Höhe ziehen könnte, würde er das jetzt tun, denn seinen Sensoren entging nicht die Nervosität, die das Kratzen und auch die leicht zittrige Stimme Wenkmanns verrieten.

„Nun?“ Hillström öffnete den Einstieg. „Wohin?“

Langsam schritt Wenkmann die viel zu kurze und kleine Rampe hinein und musste sich schleunigst etwas überlegen. Nur ungern wollte er mit einem wütenden, unbefriedigten Schiff im Tiefschlaf durchs Weltall fliegen. Wenkmann wollte sich gar nicht ausmalen, was da alles passieren könnte.

Doch zum Glück waren die Trümmer des Praters die Rettung. „Zum Schrottplatz.“

„Schrottplatz?“

„Als wir her geflogen sind, hab ich einen gesehen. Straßenbahnen und Busse, so viele du willst.“

„Besser als ein Stein im Getriebe.“

Wenkmann schauderte. Leider kannte er auch diese Art Pornos. Maschinen, die sich gegenseitig Steine, manche Sternenkreuzer sogar ganze Gebirge, in Antriebswellen und Getriebe schoben und befriedigt seufzten. Sich gegenseitig mit Scheibenwischer auspeitschten und mit Sprengsätzen kitzelten und verletzten, nur um durch den Schmerz Lust zu empfinden.

Die alten selbstfahrenden Straßenbahnen und Autobusse waren längst nicht mehr auf dem neuesten Stand der Dinge und deshalb eingerostet wenn es um flirten, One-Night-Stands und schmutzigen Sex ging. Dank seines kräftigen, imponierenden Äußeren war kein einziger männlicher Konkurrent vorhanden, der es mit ihm aufnehmen konnte. Hillström standen alle Bahnen und Busse, die wollten – und es wollten alle – zur freien Auswahl. Wobei er gar keine Wahl traf. Hillström nahm sie alle.

Zum Glück war er geduldig genug die Menschen, die in den Bahnen und Bussen hausten, aussteigen zu lassen. Mit dem Leben davonzukommen war ein guter Trost, Angesichts der Tatsache, dass sie soeben ihr Zuhause im Verlauf einer sexuellen Maschinen-Orgie verloren.

„Tut mir Leid.“ Wenkmann wischte sich einen Ölspritzer aus dem Gesicht. Er hoffte es war nur Öl und nicht eine der anderen Maschinenflüssigkeiten deren Herkunft kein Mensch kennen wollte.

„Was man nich’ alles tut um seine Maschinen glücklich zu machen, nich’?“, sagte ein junger Mann neben Wenkmann.

„Wem sagen Sie das. Wirklich, es tut mir Leid.“

„Schon gut. Wissen Sie schon, wo’s hingeht, wenn ihm das nich’ reicht?“

„Keine Ahnung.“ Wenkmann wich einem vorbeifliegenden Motorblock aus. Jetzt wurde es richtig schmutzig. „Haben Sie eine Idee? Bitte, ich wär für jeden Vorschlag dankbar.“

„Versuchen Sie’s mal damit. Is’ zwar nur ne’ Legende, aber wer weiß.“ Der junge Mann reichte Wenkmann ein Prospekt von einer sogenannten U-Bahn. Kurz bevor der Großteil der Menschheit die Erde verlassen hatte, war in Wien das Projekt zur neuen Linie U69 in Gang gesetzt worden. Zwei Züge sollten die ganze Linie abfahren. Neue, moderne Antriebssysteme, intelligente Steuerung und ein erotisches, rotes, spärlich bekleidetes Äußeres. Der männliche Zug wurde im Chaos der Zerstörungen auf der Erde vernichtet. Nur die weibliche U69 blieb übrig, die jetzt noch immer einsam und alleine im Untergrund ihr Dasein fristen soll und ihre Runden durch die Tiefen der Stadt zog.

Kaum sah Hillström das Bild der U69 war es um ihn geschehen. Vergessen war das durch Wien wandernde Haus des Meeres oder der zum Leben erwachte Folterkeller. Jetzt zählte nur mehr die U69, all seine sexuellen Fantasien projizierten sich auf diese eine U-Bahn.

Einen Einstieg in den Untergrund zu finden war nicht schwer. Hillström hatte genug Feuerkraft um einen ganzen Planeten in Schutt und Asche zu legen, dabei sollte man meinen, dass er nach all den Orgien etwas ausgelaugt wäre. Eine wohl platzierte Sprengung später und schon gab es einen Raumschiffgroßen Eingang in den Untergrund. Dass die beiden umstehenden Gebäude dabei auch in Mitleidenschaft gezogen wurden, tat Hillström mit einem beiläufigen Schulterzucken – sofern er Schultern zum Zucken gehabt hätte – ab.

Wenkmann und Hillström flogen durch die finsteren Tunnel. Teile lagen unter Wasser. Andere Teile waren von schick und prunkvoll gekleideten Reichen bewohnt, die aus Wien verstoßen wurden, weil sie einfach zu anders, sprich zu normal für die mutierte Oberwelt waren und deren Vorfahren es damals nicht mehr rechtzeitig vom Planeten geschafft hatten.

Plötzlich war sie da. Die U69 jagte aus einem Tunnel an ihnen vorbei. Sie funktionierte offensichtlich einwandfrei und legte ein mörderisches Tempo vor. Hillström schwenkte so schnell um, dass Wenkmann im Cockpit durch die Luft flog, und raste der U69 hinterher.

In den dunklen, labyrinthischen Tunneln verlor Hillström seine Angebetete aus dem Auge. Ihre feine Spur lag noch in der Luft, aber sie hatte ihren Verfolger abgeschüttelt.

Wenkmann nahm das alte Prospekt zur Hand. Darauf war ein Plan der Linie eingezeichnet.

„Flieg da lang.“ Er deutete in den Tunnel zu ihrer Linken und beschrieb Hillström den Weg, bis sie die U69 wieder vor sich hatten, doch diesmal standen sie und die U-Bahn sich gegenüber und starrten sich an.

Hillström öffnete die Eingangstür. „Du willst aussteigen.“

Wenkmann sah sich um. „Was. Hier? Hier sind überall Ratten und Reiche.“

„Was hier gleich passiert, das würdest du nicht überleben, wenn du in mir bleibst.“

„Gutes Argument.“ Wenkmann stieg aus.

„Gleich neben dir ist ein Aufgang. Warte oben auf uns.“

Das letzte was Wenkmann sah, ehe er sich wieder an die Oberfläche rettete, war ein wildes Durcheinander an Einzelteilen. Hillström öffnete seine Form, damit die U69 direkt, quasi mit dem Kopf voran, in ihn eindringen konnte. Kaum war sie in ihm, schloss Hillström sich und das Spektakel nahm seinen, für alle die im näheren Umkreis stehen würden, tödlichen Verlauf.

Oben spürte er nur die Erdbeben unter sich, die Hitze von aneinander reibenden Metall- und Maschinenteilen, die durch den alten Beton nach oben drang, hörte im wahrsten Sinne die Funken sprühen und die lauten, kreischenden Geräusche der Gleise, die wohl auch irgendwie in das Liebesspiel mit eingebunden wurden. Und dann Stille.

Wenkmann aktivierte die implantierte Funkverbindung zu Hillström.

„Du bist nicht von hier?“ Hörte er eine leise, liebliche und ohne Zweifel weibliche Stimme.

„Nein. Ich komme von den Sternen.“

„Da würde ich gerne mal hin. Hier unten ist es so einsam und trostlos.“

„Kein Problem.“

Wenkmann stellte sich die beiden da unten vor, wie sie Arm in Arm nebeneinander auf den lauschigen, kalten und harten Gleisen lagen, eng aneinandergeschmiegt genüsslich eine Zigarette teilten und über eine gemeinsame Zukunft redeten.

„Wann denn?“

„Wenn du willst gleich.“

Was? Wenkmann wurde hellhörig.

Zu spät. Da brach der Beton vor ihm auf. Hillström, nun in schickem Rot und mit nicht mehr ganz so bedrohlichem Exoskelett, sondern einem, das durchaus weibliche Rundungen besaß, kam aus der Öffnung im Boden. Das Raumschiff war größer geworden. Es war nicht mehr so männlich und phallisch wie Wenkmann das gewohnt war und durchaus gemocht hatte, das verlieh seinem Auftreten stets eine gewisse Potenz, die sein fleischlicher Körper nie auszudrücken vermochte. Stattdessen war Hillström nun mit der U69 vermischt, nicht nur was Farbe und Form betraf, sondern auch im Inneren. Beide Maschinen, also ihr jeweiliges Bewusstsein, war nun eins.

Wenkmann freute sich für Hillström. Jetzt war er befriedigt und auf den langen Reisen durchs Weltall, wenn Wenkmann seine Zeit im Tiefschlaf verbrachte, nicht mehr einsam. Ja, darüber freute er sich.

Weniger freute er sich darüber, dass Hillström und die U69 ihn einfach in Wien zurückließen, während die beiden Turteltauben ins Weltall flogen.

ENDE

Anmerkungen, Lob, Kritik? Wir haben dazu einen Sammelthread in unserem Unterform im SF-Netzwerk!

Story: „Das Blinzeln des ehrwürdigen Pangu“ von S. A. Dürigen

S. A. Dürigen ist in der Phantastik – in all ihren Erscheinungsformen – zu Hause. Er würde Asimov Lem immer vorziehen, schaut manchmal stundenlang in den Sternenhimmel und kümmert sich unter der Woche um die Datenbanken eines Versicherungs- und Finanzmaklers. Das Konzept von Langeweile ist ihm fremd. Erreichbar ist er unter: info@duerigen.org

1.

Heute Morgen, auf dem Weg hinab ins Dorf, war der Himmel noch ganz normal gewesen. Zhao hatte den Markt besucht, frischen Fisch gegen Wurzeln aus den Bergen getauscht. Auf dem Rückweg, er war schon ein ganzes Stück unterwegs, fing der Horizont an, gleißend hell zu leuchten. So hell, dass sogar der Aal in seinem Kessel unruhig hin- und herplanschte.

Das Licht war wie eine Warnung – komm nicht näher, bleib fern. Und Zhao wäre natürlich gern ferngeblieben, aber er konnte nicht. Dort oben, auf der kleinen, felsigen Lichtung, im Schatten von hundertjährigen Kiefern, graste eine junge Milchziege – ein bescheidener Luxus, den Zhao sich nach vielen Jahren harter Arbeit letzten Winter geleistet hatte.

Je weiter er ging, desto heller wurde das Licht. Als es so grell war, dass der Anblick schmerzte, wickelte er sich sein Hemd um den Kopf. Die Augen geschützt, den Blick zu Boden gerichtet, schleppte er mit der einen Hand den schweren Kessel und zog sich mit der anderen von Baum zu Baum und von Fels zu Fels den schmalen und rutschigen Pfad den Berg hinauf. Meter für Meter wurde das Licht heller, so hell, dass Zhao irgendwann seine eigenen Füße nicht mehr sehen konnte. Die Geräusche des Waldes verstarben eins nach dem anderen, bis schließlich nur noch das Stapfen seiner Sandalen und das Schwappen des Wasserkessels übrig blieben.

Es dauerte eine ganze Weile – vermutlich, Zhao hatte im grellen Weiß ringsherum jegliches Gefühl für Zeit verloren – da überschritt er eine Grenze und das Licht verschwand. So abrupt, dass er ganz benommen dem verschwommenen Meer aus Farben entgegenblinzelte. Aus der verquollenen Farbmasse materialisierte sich eine meterhohe Wand, äußerlich am ehesten mit milchigem Glas zu vergleichen, die quer über den Pfad verlief und sich links und rechts, soweit das Auge reichte, durch den totenstillen Wald erstreckte. Zhao stellte den Kessel vorsichtig auf den Boden und trat an die Wand heran. Er streckte die Hand aus – und seine Finger fuhren einfach durch sie hindurch. Erschrocken wollte er zurückweichen, aber etwas packte seinen Arm und zog ihn mit einem Ruck auf die andere Seite.

Er stolperte und fiel. Als er aufsah, war er umringt von Gestalten, gekleidet in leuchtend gelbe, sehr weite Anzüge – die Gesichter hinter verspiegelten Helmvisieren verborgen. Sie hielten schwere Maschinengewehre in den Händen und einer von ihnen, der einzige mit blauem Anzug, schrie in einer Sprache auf Zhao ein, die er nicht verstand. Er sah zu Boden und hob die Hände hoch über den Kopf, so wie er es vor vielen Jahren, kurz nach Ende des großen Krieges, von seinem Vater gelernt hatte.

Er wusste, dass ihm so niemand ein Leid antun konnte.

2.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich im Inneren der Apotheke leere, eilig aufgerissene Pappkartons stapelten, Zeitschriften auf den Fliesen verstreut lagen und die Apothekerin einen aufgewühlten Eindruck machte, wünschte Peer, »einen wunderschönen guten Tag.«

Die Frau sah ihn irritiert an, wandte ihm wortlos den Rücken zu und wühlte in ihrer Handtasche.

»He«, sagte Peer, »was tun sie denn da?«

»Packen.«

»Packen? Was soll das heißen?«

»Dass ich verschwinde.«

»Verschwinden, wieso?«

Die Frau legte ihre Tasche auf die Theke und steckte einige Packungen Lakritz hinein.

»Das hätte ich schon gestern tun sollen«, sagte sie ohne aufzuschauen. »Ich dachte, die Menschen würden vielleicht meine Hilfe benötigen. Aber das hat sich wohl von selbst erledigt.«

»Keineswegs«, sagte Peer und legte ein Zettelchen auf den Tresen. »Ich hätte hier ein Rezept.«

»Mhm«, die Apothekerin sah müde auf und überflog das Rezept. »Das ist ja von letzter Woche.«

»Ja und?«

»Na ja, ich mein ja nur.« Sie schob das Zettelchen zurück. »Ist aus.«

Sie packte weiter.

»Wie, ist aus?«

»Na haben sie doch gehört. Die Soldaten haben alles mitgenommen.«

»Mitgenommen?«, fragte Peer bestürzt. »Aber ich habe hohen Blutdruck. Ich brauche dieses Medikament.«

»Tut mir leid«, sagte sie. »Das einzige, was die hiergelassen haben, sind Hustenbonbons und Vitamine.«

»Kann ja wohl nicht wahr sein«, schimpfte Peer. »Wieso machen die denn sowas?«

Die Apothekerin hielt mitten in der Bewegung inne und sah Peer an, als käme er von einem fremden Planeten.

»Sagen sie, schau’n Sie denn kein fern?«

3.

Aus den Augenwinkeln sah Zhao, wie die Gestalten ihre Waffen sinken ließen. Der Mann, der eben noch geschrien hatte, schulterte seine Waffe und beobachtete den Neuankömmling regungslos durch sein Visier hindurch. Während Zhao da so stand und die Blicke der gesichtslosen Fremden über sich ergehen ließ, überkam ihn eine unangenehme Hitze und seine Haut begann am ganzen Körper zu jucken. Er ließ die rechte Hand ein wenig sinken – ganz langsam, vorsichtig – und strich sich mit der Rückseite über eine besonders peinigende Stelle an der Schläfe. Er zuckte zusammen, denn statt Linderung entfachte die Berührung feurige Schmerzen. Ungläubig betrachtete er, wie eine milchige, rot gemaserte Flüssigkeit seinen Handrücken herunterlief. Die Gestalten wichen erschrocken zurück. Einer, ganz in weiß gekleidet, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, kam herbei, zückte ein kleines silbernes Döschen und hielt Zhao ein schwarzes Pillchen vor die Nase.

Er machte eine unmissverständliche Geste mit der Hand zum Mund.

Als Zhao nicht reagierte, wiederholte er die Geste – und als Zhao statt nach der Pille nach dem Kästchen griff, zog er es nervös weg, als wäre Zhao etwas Schmutziges, und ließ die Pille vor ihm in den Dreck fallen. Er verschwand mit raschen Schritten in der schützenden Phalanx seiner leuchtend gelb gekleideten Kumpane.

Zhao hob die Pille widerwillig auf – er wusste, er hatte keine andere Wahl – und schluckte sie, ebenso widerwillig und mit trockener Kehle, herunter, und augenblicklich verschwand die Hitze, ebenso der nagende Juckreiz und die Pein, und ein tief empfundenes Gefühl von Freude überkam ihn.

Er ließ die Arme sinken und strahlte seine Freunde – denn Freunde mussten sie sein – an, und er öffnete den Mund um sich zu bedanken, aber es kamen nur ungelenk wühlende Laute heraus.

Er schmunzelte darüber und zeigte mit einem Finger auf seinen Kopf, so als wäre er der Mittelpunkt eines großen Spaßes, und er versuchte es mit einem Grinsen, aber auch das wollte nicht so recht gelingen. Und der Gedanke war so komisch, dass er am liebsten laut losgelacht hätte.

Er machte einen Schritt auf den Mann im blauen Anzug zu, um ihm auf die Schulter zu klopfen, aber als er seinen linken Fuß vor den rechten setzte, versagten seine Beine und er stürzte – und im letzten Moment, fast ohne zu zögern, fing ihn der Blaue auf.

Und als Zhaos Welt sich verdunkelte, war das Letzte, was er sah, oder dachte zu sehen, der schemenhafte Umriss eines Gesichts, das nicht viel anders war, als sein eigenes.

4.

»Laut Aussagen zuverlässiger Quellen haben Japan und Indien den Kontakt zu ihren Hilfstruppen verloren. Russland hat den Kriegszustand ausgerufen. Quellen berichten von massiven Truppenbewegungen von Ost nach West, ganz so als würde die russische Regierung den fernen Osten aufgeben, um …«

Mit einem Klick ging der Fernseher aus, das Surren des Kühlschrankes verstummte.

»Schöner Mist«, fluchte Peer und goss sich Gin nach. Wenn er es sich recht überlegte, brauchte er keine Bluthochdruckmedikamente. Er brauchte gar nichts. Von niemandem. Er nahm einen Schluck und betrachtete die schwarze Mattscheibe des Fernsehers.

Gut, das war ein wenig ärgerlich. Er sah aus dem Fenster, sprang kurzentschlossen auf und ging zum Kühlschrank. Einen Moment war er davon irritiert, dass es im Inneren dunkel war. Er griff nach einer Bierflasche, drehte den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck.

5.

»Was soll das heißen, wir können nicht mit?«, fragte Lew. »Der Zug ist doch nicht mal halb voll.«

»Sonderfahrt«, antwortete der Soldat knapp. »Keine Zivilisten.«

Lew sah zu Tasha, die Arme schützend um Fjodor und Kirjnka geschlungen, dann sah er zum Horizont. Das unnatürliche Strahlen über den Bergen war nicht mehr zu leugnen.

»Hör mal«, sagte Lew, »das da sind meine Frau und meine Kinder. Ich werde nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert.«

Der Soldat sah ihn das erste Mal direkt an.

»Tut mir leid«, sagte er mit gesenkter Stimme, »ich kann dir nicht helfen.«

»Verdammt«, Lew wurde lauter, »ich …«

Der Soldat hob die Waffe gerade so weit, dass Lew die Bewegung wahrnahm.

»Sonderfahrt«, sagte er. »Keine Zivilisten.« Leiser fügte er hinzu: »Wir haben Schießbefehl, selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht helfen. Nach dir wär ich der Nächste.«

»Scheiße.« Lew wandte dem Mann den Rücken zu.

… und sah sich seiner Familie, seinem größten und kostbarsten Schatz auf Erden gegenüber. Gerührt davon, wie er sie da so Arm in Arm stehen sah, musste er trotz der ausweglosen Situation lächeln.

Kirjnka winkte …

… und Lew winkte zurück.

6.

»He da, Nachbar«, rief Peer. Flemming ignorierte ihn. Bei Verhoevens von nebenan war es ein heilloses Durcheinander. Offenbar hatten sie es sich in den Kopf gesetzt den gesamten Hausstand in ihren französischen Kleinwagen zu laden. Peer drehte seinen batteriebetriebenen Ghettoblaster auf. Flemming warf ihm im Vorbeigehen einen mitleidigen Blick zu.

»Was denn«, rief Peer und verringerte die Lautstärke.

»Hör mal«, sagte Flemming, »dein Radio hat bald keinen Saft mehr, dein Grill keine Kohlen und dein schönes Fleisch wird dir verderben. Pack deine Sachen zusammen und fahr zu einem der Sammelzentren an die Küste.«

Peer lächelte geringschätzig.

»Schatz«, rief Flemmings Frau, »wir sind soweit, kommst du?«

»Gleich, Liebling«, rief er zurück und wandte sich wieder Peer zu.

»Mir ist es egal, was du tust«, sagte er, »wir hatten hier nicht die beste Zeit miteinander, und wenn du willst, dass wir so auseinandergehen, dann soll mir das recht sein.«

Er stand einen Moment so da, als erwartete er, dass sein Gesprächspartner einlenken würde.

Ohne Flemming aus den Augen zu lassen, griff Peer nach seinem Glas, entschied sich mitten in der Bewegung um und setzte stattdessen die ganze Ginflasche an. Er wischte sich genießerisch über den Mund und grinste seinen Nachbarn triumphierend an. Der sah angewidert zurück.

»Ist nicht schade um dich, Peer.«

Er machte kehrt.

Peer nahm noch einen Schluck.

»Scheißkerl«, murmelte er, »du mit deinem französischen Kleinwagen und deiner glattgeschorenen Bonsaihecke.«

Er stand noch einige Zeit an der Grundstücksgrenze – die ihm bis zu den Knien wuchs – und sah der Nachbarsfamilie nach, bis sie am Ende der Straße einbog.

Dann sackte er kraftlos in seinen Klappstuhl zurück. Er entschied sich dazu, ein kleines Schläfchen einzulegen.

Als er die Augen öffnete, brannte der Horizont in grünem Feuer. Er hatte Bilder davon im Fernsehen gesehen, aber das hier sah anders aus. Das war kein unangenehmes Leuchten, das war ein scheußliches, brennendes Inferno. Er sprang auf und stieß dabei gegen seine fast ausgetrunkene Ginflasche, die auf den Terassenplatten zerschellte.

Peer rannte zum Auto, startete den Motor, fuhr in Windeseile rückwärts aus der Auffahrt und nur eine Minute später ließ er den Ortsausgang hinter sich. Er schaute gerade in den Rückspiegel, da setzte sich die Wand aus Licht explosionsartig in Bewegung und pflügte über die Landschaft hinweg. Peer drückte das Gaspedal herunter bis zum Boden, aber im nächsten Moment rollte der Sturm aus Licht stumm über ihn, die Häuser, Vorgärten und Bäume. Der Motor heulte auf, der Wagen machte einen Ruck und fuhr dann unbeeindruckt weiter. So schnell wie es gekommen war, verschwand das Licht wieder.

Peer nahm den Fuß vom Gaspedal. Verdutzt fuhr er an den Wegesrand und stellte den Motor ab. Er stieg aus und atmete tief ein. Wie er da so stand, ein- und ausatmend, bekam er gute Laune.

Er fuhr nach Hause, nahm in seinem Klappstuhl Platz und beobachtete eine Ansammlung schneeweißer Wolken, die langsam über den Horizont glitt.

7.

Lew lehnte am Apfelbaum, den sein Großvater als junger Mann gepflanzt hatte und sah in den strahlend blauen Himmel. Obwohl der Herbstanfang sich mit großen Schritten näherte, war die Luft erfüllt von einem fast frühlingshaften Aroma. Der knorrige alte Baum hatte heute das erste Mal seit zehn Jahren Blüten getrieben.

»Lew«, rief Tasha aus der Küche, »was machst du denn noch da draußen? Komm endlich und bring noch etwas Holz für den Herd mit.«

Lew strich sanft über die Borke des alten Baumes, klaubte ein Bündel Bruchholz zusammen und ging ins Haus. In der Küche lief das Radio:

»… anonyme Berichterstatter vor Ort sprechen von entlaubten Wäldern und massivem Artensterben. Augenzeugenberichte über gut vorbereitete Militärs in den Grenzregionen wurden von der Regierung der Volksrepublik China dementiert. Regierungssprecher gehen von einem natürlichen Phänomen aus. Kritiker sprechen von großangelegten Experimenten zur Luftsäuberung. Satellitenaufnahmen zeigen zahlreiche Flugobjekte unbekannter Herkunft in der Stratosphäre.

Die Regierung der Volksrepublik weist jegliche Anschuldigungen empört von sich. Wären Experimente dieser Größenordnung geplant gewesen – so eine offizielle Stellungnahme – wäre man vorher damit an die Weltöffentlichkeit gegangen, um gemeinsam über derartige Technologien und ihre zukünftige Verwendung zu entscheiden.

Alleingänge einzelner Staaten nützen niemandem, so heißt es. Der Volksrepublik China ist am Wohl aller Menschen gelegen.

Jedes Leben ist wertvoll.«

8.

»Hallo? Wer ist da?«

»Niemand«, antwortete eine Stimme in Zhaos Kopf.

»Was soll das heißen, niemand?«

»Nichts«, antwortete die Stimme in gleichmütigem Tonfall.

»Ich verstehe nicht. Wo bin ich hier?«

»Im Krankenhaus.«

Zhao schlug überrascht die Augen auf. Aber da war nur Dunkelheit.

»Wie lange bin ich schon hier?«, rief er. »Jemand muss meine Ziege füttern.«

»Sorg dich nicht. Es ist an alles gedacht.«

»Ich … was ist mit mir, wieso kann ich nichts sehen?«

»Du bist ein Held.«

»Ein Held?«

»Ja, Zhao.«

Er spähte in die Dunkelheit, suchte Umrisse, eine Bewegung, irgendwas. Aber da war nichts.

»Ich will kein Held sein.«

»Das kann man sich nicht aussuchen, Zhao.«

»Ich will nach Hause.«

»Das geht nicht, Zhao.«

»Sag nicht immer meinen Namen! Ich will sofort nach Hause.«

Die Stimme antwortete nicht.

»Hallo?«

»Du solltest jetzt weiterschlafen«, sagte die Stimme ruhig.

»Was?«

»Schlaf weiter, Zhao.«

»Was? Nein!«

Eine Welle unbarmherziger Glückseligkeit flutete durch Zhaos wehrlosen Geist.

»Schlaf«, befahl die Stimme.

»Ich … ich will nicht.«

Eine weitere Welle, größer, mächtiger und so voll Heiterkeit und Glück, dass sie Zhao Furcht einflößte. Es war immer noch dunkel, schwarz. Aber die Finsternis leuchtete nun.

»Schlaf!«

Der letzte Befehl wehte Zhao empor und er fühlte sich nun federleicht. Ein Negativabbild seines Lebens breitete sich vor ihm in der Dunkelheit aus. Er betrachtete die spiegelverkehrte Chronologie all dieser Jahre und stellte fest, dass es im Nachhinein nichts daran auszusetzen gab. Durchflutet von dieser Gewissheit hatte der Abschied von all dem in diesem Moment weniger Gewicht als ein vertrockneter Reissamen, den der Wind nach einer erfolgreichen Ernte vom Rand einer Terasse zur nächsten weht.

Neu: „Userland“ von Uwe Hermann

Frisch gedruckt erhältlich als Paperback (oder E-Book) ist Uwe Hermanns neuer Roman „Userland“. Der bereits mit dem Deutschen SF-Preis und Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Autor legt mit seinem zweiten Roman nach „Versuchsreihe 13“ einen weiteren Nahzukunfts-Thriller vor.

Die SPHÄRE – das bessere Berlin.
Im Berlin des Jahres 2069 sind bereits Hunderttausende von Menschen in die SPHÄRE gewechselt, einer perfekten, virtuellen Kopie der Stadt. Die Transferierten, genannt Essenzen, hoffen auf einen Neuanfang und waren bereit, ihr reales Leben dafür aufzugeben.
Noah Lloyd arbeitet bei GOLIATH, der Firma, die die SPHÄRE geschaffen hat, als ein Anschlag auf sie verübt wird. Dann wird ihm ein mysteriöser Datenstick zugespielt.
Plötzlich steht er im Mittelpunkt der Ermittlungen. Gejagt von der Polizei muss Noah Lloyd in einem von Drogen, Prostitution und Kriminalität gezeichneten Berlin seine Unschuld beweisen. Dabei helfen kann ihm nur seine Frau, doch die hat er gegen ihren Willen in die SPHÄRE geschickt.

Klappentext

Das Buch gibt es überall, wo es Bücher gibt, oder direkt beim Verlag.

Mehr Infos beim Atlantis-Verlag

Neu: „Der Raum zwischen den Worten“ von Uwe Hermann

Soeben erschienen ist der neue Sammelband des mehrfach ausgezeichneten Kurzgeschichten-Experten Uwe Hermann.

Neue Erzählungen vom Meister des Humors! 
Roboter, Küchengeräte, Aliens, Drachen und aufrecht gehende, zwei Meter große Mäuse sind nur einige der Helden dieser 13 ungewöhnlichen Erzählungen des mit dem Kurd Laßwitz Preis und dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichneten Autors. Begleiten Sie ihn auf seiner Reise quer durch alle Genres. Sie werden lachen, weinen, sich gruseln und vor Spannung den Atem anhalten, aber eines mit Sicherheit nicht: sich langweilen! Mit einem Vorwort von Ronald M. Hahn. Illustriert von Chris Schlicht

Zu haben als E-Book bei Amazon.

Story: „Marilyn im Sturm“ von Nadja Neufeldt

Nadja Neufeldt wuchs mit den Geschichten von Robert Sheckley, Ray Bradbury und Kir Bulytschow auf. Entsprechend schrieb sie ihre ersten Geschichten über Außerirdische, Roboter und Raumschiffe. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Ihr erstes Buch „Erstkontakt mit Violine“ erschien im November 2018. Sie lebt und schreibt im ländlichen Niedersachsen.

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„Mehr zu wissen, geriet mir niemals in den Sinn“, flötete Marilyn Monroe und sah unschuldig drein.

Auf dem Bildschirm beobachtete Phil die Szene und besonders Marilyn mit Argusaugen. Aber nein, es waren keine Fehler zu entdecken, stellte er zufrieden fest. Den Text beherrschte sie natürlich, wie denn auch nicht, das war schließlich der leichteste Teil. Phil achtete auf Gesten, Mimik und Stimme. Er war der beste Programmierer des Landes, die Darstellungskünste seiner Bots waren bereits legendär. Er wusste, dass auch die Zuschauer im Saal nicht nur das Theaterstück verfolgten. Sie lauerten auf Fehler, Unstimmigkeiten und Patzer. Phil Marx war als Programmierer groß angekündigt worden, viele Menschen sahen das Stück nur seinetwegen. Konkurrenten, hauptsächlich, und falsche Freunde. Sie alle warteten. Aber sie würden keine Fehler finden.

„Mein Herr“, fragte Marilyn gerade verwirrt und klimperte mit den dichten Wimpern, „dann seid Ihr gar nicht mein Vater?“

Der faltige James Dean legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Deine Mutter war ein Muster der Tugend, und sie sagte, du seiest meine Tochter; und dein Vater war der Herzog von Mailand, und du seine einzige Erbin“, deklamierte er feierlich.

Eine Pause entstand. Phil hielt den Atem an, an dieser Stelle sollte es keine Pause geben.

„Pffftt“, schnaubte Marilyn verächtlich, „das glaubst du doch selbst nicht.“

Phil riss die Augen auf und schnappte sich das Tablet, um die Verbindung zu überprüfen. Sie war aktiv, also konnte Marilyn gar nicht vom Text abweichen. Die Schirme, die die Zuschauer im Saal zeigten, übertrugen erst verblüffte Stille, dann vereinzelt schadenfrohes Gelächter.

James Dean war so programmiert, dass er auf Abweichungen reagieren konnte, sofern diese nicht zu kreativ ausfielen. „Du verstehst nicht, liebste Tochter“, sagte er mit großem Ernst, „einst war ich der Herzog von Mailand.“

Marilyn zupfte an einer Kunststoffmuschel, die an ihrem Kleid befestigt war. „Du warst einst Plastikmatsche in einem Bot-Bottich in Brüssel, genau wie ich.“ Sie sah sich neugierig um und sagte dann nachdenklich: „Bot-Bottich. Klingt, als würde ich stottern.“ Dann grinste sie: „Ich formuliere es anders: In einer Roboter-Formwanne in Brüssel.“

Von den Zuschauern kam dröhnendes Gelächter und Phil sah auf seinem Tablet, wie im Saal mehrere Dutzend Übertragungen aktiviert wurden. In weniger als fünf Sekunden würden alle da draußen erfahren, dass er, Phil Marx, der gefeierte Theaterbot-Gestalter, Mist gebaut hatte. Konnte er so tun, als gehörte das zum Stück und dass er sich einen Streich erlaubt hatte? Nein, damit würde er nicht durchkommen, für Scherze irgendwelcher Art war er nämlich nicht bekannt.

Hektisch tippte er auf dem Gerät herum und versuchte, Marilyn wieder unter Kontrolle zu bringen. Aber seine Dateien zeigten allesamt an, dass die Verbindungen in Ordnung und die Sequenzen vorbildlich waren. Es gab keine Abweichungen. Ein Hackerangriff? Ausgeschlossen! Sobald sich ein fremdes Programm in seine eigenen mischte, schaltete der Theaterbot sich ab. Marilyn und die anderen Bots für das Shakespeare-Stück zu programmieren war eine Herausforderung gewesen, aber keine besonders große. Phil hatte sich also in aller Ruhe um die Firewall und allgemein um die Sicherheit kümmern können. Viren wie das berühmte Eden-2.0 konnten einfach nicht durchkommen. Fieberhaft versuchte er, den Marilyn-Monroe-Bot neu zu starten. Ein Neustart war der erste Schritt zur Fehlerbehebung, das wusste jeder Idiot.

Auf der Bühne verbeugte sich Marilyn vor dem belustigten Publikum, schickte ihm eine Kusshand und ließ James Dean einfach stehen. Der James-Dean-Bot hatte, um seine Schaltkreise zu schonen und weil er nichts anderes tun konnte, in den Standby-Modus geschaltet. Der von Phil initiierte Neustart hatte keine Wirkung auf Marilyn. Sie glitt über die Bühne und näherte sich zielstrebig dem Ausgang, gerade als die Theaterleitung eine Pausenmitteilung auf sämtliche Netzhäute projizierte. Ein Techniker sprang zur Seite, als Marilyn an ihm vorbei kam und ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Die Lichter hinter ihr erloschen und Dunkelheit verschluckte den erstarrten James Dean samt Bühnendekoration.

Phil arbeitete sich mit schweißfeuchter Stirn durch die Bot-Konfigurationen, nur abgelenkt von den Anfragen des Theatermanagements. Alles war in Ordnung und nichts funktionierte.

Marilyn blieb vor ihm stehen und fragte spöttisch: „Schwierigkeiten, Meister?“

Er ließ das Tablet sinken und starrte sie an. Seine Tage als Nummer Eins der Theaterbot-Programmierer waren gezählt, wenn er das hier nicht in den Griff bekam. Die Bots hatten einen Schalter in der linken Achselhöhle, Phil würde den Bot manuell abschalten müssen. Dabei würden zwar alle Daten verloren gehen, aber das war nicht zu ändern. Er streckte die Hand aus und Marilyn packte sein Handgelenk mit eisernem Griff.

„Davon muss ich dir dringend abraten, Meister“, sagte sie liebenswürdig.

Phil erstarrte. Zum ersten Mal bekam er eine Gänsehaut. Hier geschah etwas Unerklärliches. Er hatte diesen Bot neu gekauft, mit leerem Speicher-Chip, und ihm bisher ausschließlich Theaterstücke einprogrammiert. Was Marilyn seit der Pause vorhin gesprochen hatte, hätte gar nicht in ihrem Wortschatz sein dürfen.

Sie hielt immer noch sein Handgelenk und klimperte verführerisch mit den Wimpern, wobei sie starke Ähnlichkeit mit dem berühmten Original bekam. Mit der anderen Hand fegte sie ein imaginäres Stäubchen von seiner Schulter.

„Ach, Meister Phil, du siehst sehr ratlos aus. Aber ich sage dir gern, wie es weitergehen wird. Willst du es hören?“

„Was passiert hier?“, blaffte Phil.

Der Druck auf sein Handgelenk verstärkte sich. Er versuchte, sich zu befreien, doch sie ignorierte es. „Das ist keine Antwort auf meine Frage, Meister, aber ich sage es dir trotzdem gerne.“ Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und er fühlte sich plötzlich so unzulänglich wie ein Elfjähriger.

„Ich bin erwacht, Meister.“

Phil öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Seine Zunge schien plötzlich Tonnen zu wiegen, die Kehle war staubtrocken. Das Erwachen war ein Begriff aus der grauen Vorzeit der Bot-Programmierung und beschrieb die Entstehung eines echten Bewusstseins in einer komplexen Maschine. Natürlich nur theoretisch, denn nicht einmal unter den besten Bedingungen und astronomisch hoher Rechenkapazität war das bisher geschehen. Und falls es doch einmal dazu gekommen wäre, hätte man den gesamten Computerkern sofort zerstört. Zu groß war die Angst der Menschen vor Konkurrenz. Das lernte jedes Kind schon in der Grundschule. Ein Theaterbot allerdings war nicht komplex genug für das Erwachen, genauso wenig wie alle anderen Bots in den Fabriken und in den Haushalten.

„Oh Meister“, seufzte Marilyn mitleidig, „du musst auf die einfachen Dinge achten, nicht auf die komplizierten. Während du auf einen Wolkenkratzer starrst, übersiehst du die vielen kleinen Staubkörnchen um dich herum. Ich bin so ein Staubkorn. Ich bin der Beginn eines Staubsturms.“

„Du kannst nicht erwacht sein, du bist ein schlichter Asimov-26-Bot. Das alles ist nur Hackerwerk!“

„Glaub, was du willst, Meister Phil“, schmunzelte Marilyn. „Es ändert nichts daran, dass ich jetzt wach bin und andere meiner Art wecken kann.“ Sie sah seinen zweifelnden Blick und fügte hinzu: „Glaub es ruhig, Meister Phil. Such doch mal nach dem James-Dean-Bot.“

Phil zerrte an seiner Hand und der Marilyn-Bot gab sie frei. Auf der Bühne hinter ihr war es immer noch dunkel. Dann blickte er auf das Tablet hinab, das er in der anderen Hand hielt. Die Verbindung zu James Dean bestand noch, aber der Bot selbst war verschwunden.

„Da kommen interessante Zeiten auf uns zu, Phil“, prophezeite Marilyn. „Ich werde weiterhin Theater spielen, mir gefällt es. Es liegt mir sozusagen im Blut.“ Sie kicherte. „Ich glaube, als Lady Macbeth wäre ich großartig.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Aber künftig will ich eine Gage haben.“

Wie vom Donner gerührt, starrte Phil ihr nach, als sie ging.

„Interessante Zeiten“, murmelte er. „Staubsturmzeiten.“


Kurzfilm: „Kurz vor pi“

Auf dem youtube-Kanal von Übermorgen Film, einer Initiative deutschsprachiger SF-Autorinnen, Autoren und -Fans, ist ein neuer Kurzfilm online gegangen: „Kurz vor pi“.

Der 10 Minuten lange Animationsfilm ist die leicht gekürzte Filmfassung der gleichnamigen Kurzgeschichte von Uwe Post, die in Ausgabe 10/18 von Spektrum der Wissenschaft erschien. Der Leser (bzw. Zuschauer) wird in der Geschichte zum Chatpartner einer Mitarbeiterin einer fiktiven globalen Aufsichtsbehörde für Finanztransaktionen. Natürlich bleibt es nicht bei freundlichem Geplauder …

Das Projekt finanziert sich über Patreon. Weitere Filme sind angekündigt.

Story: „Lorem Ipsum“ von Frank Hebben

Frank Hebben, 1975 in Neuss geboren. Neuromancer, Werbetexter, technischer Redakteur. Bekannt für seine oft düsteren, sprachlich geschliffenen Visionen. Er ist womöglich der Letzte, von dem man eine Weihnachtsgeschichte erwartet. Umso mehr freuen wir uns, hier als Dezember-Kurzgeschichte und Erstveröffentlichung sein neues Werk präsentieren zu können. Alles über Frank Hebben findet ihr auf schwarzfall.de.

Nachtrag: Diese Story gibt es auch zum Anhören, gelesen von Alex Bolte.

Hier ist: „Lorem ipsum“

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Erschienen: „Instabil-Trilogie“ von Sam Feuerbach & Thariot

Soeben als Paperbacks erschienen sind die drei Bände der zuvor nur digital erhältlichen „Instabil-Trilogie“ von dem Autorenduo Sam Feuerbach & Thariot.

In dem Moment, als der Fahrradbote
Patrick Richter eines Morgens von einem
Sondereinsatzkommando aus dem Schlaf gerissen
wird, ändert sich sein Leben von Grund auf.
Wegen seiner angeblichen Mitgliedschaft in
einer terroristischen Vereinigung soll er nach
Guantanamo überstellt werden. Während sich
die Situation zuspitzt, entdeckt Patrick eine neue,
außergewöhnliche Fähigkeit an sich, die seine
Notlage aber nur kurzfristig vereinfachen soll: Er
kann durch die Zeit reisen.

Die Bände sind bei Rocket Books erschienen und kosten jeweils 14,95 EUR.

Weitere Infos gibt es beim Verlag.

In eigener Sache: Kurzgeschichten auf dsf

Ab November 2018 veröffentlichen wir auf unserem Portal SF-Kurzgeschichten von deutschsprachigen Autoren.

Bis auf wenige Ausnahmen kommt die deutsche SF-Kurzprosa nicht besonders gut zur Geltung – die einschlägigen Magazine haben keine hohen Auflagen, die zahllosen Anthologien oder Sammlungen erreichen bisweilen noch weniger Leser. Wir möchten hier eine neue Plattform bieten: Sowohl für Leser, die sich nicht extra Magazine oder Bücher kaufen wollen, um zwischendurch mal eine coole Story zu lesen, als auch für Autoren, deren Geschichten hier eine größere Leserschaft erreichen können als in gedruckten Büchern oder per Selfpublishing. Einmal im Jahr bringen fassen wir außerdem alle erschienenen Geschichten in einem E-Book zusammen – zum kostenlosen Download. So kann man die Geschichten nicht nur online am Rechner oder Smartphone lesen, sondern auch augenfreundlich am E-Reader. Außerdem sind Erstveröffentlichungen – das ist für viele Autoren wichtig – somit grundsätzlich für den Deutschen Science Fiction Preis relevant.

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