Soeben ist die 6. Ausgabe des Future Fiction Magazines (Deutsche Ausgabe) erschienen.
Diese Ausgabe des mit dem europäischen SF-Preis ausgezeichneten Magazins bringt erneut Geschichten aus der nahen Zukunft von deutschen und internationalen Autorinnen und Autoren. Mit neuen Geschichten von: Aiki Mira und Joshua Tree aus Deutschland Tais Teng mit Ziltpunk aus den Niederlanden Modupe H. Ayinde und Hannu Afere mit African Futurism Kelsea Yu mit Biofiction Sowie Artikel und Interview von Bettina Wurche über Future Food
Die gedrückte Ausgabe gibt es bei Amazon für 7,00 EUR, das E-Book für 3,99. Das E-Book im Tolino-Shop soll in Kürze erhältlich sein.
Im Januar 2022 erscheint die Pilotausgabe eines neuen SF-Magazins: Das “Future Fiction Magazine”.
Future Fiction ist ein Projekt des italienischen Herausgebers Francesco Verso, der bisher unter diesem Label internationale Autorinnen und Autoren vernetzt und Romane und Kurzgeschichten-Anthologien herausgebracht hat. Dabei liegt der Fokus auf realistischer bis utopischer Nahzukunfts-SF: klassische SciFi-Themen wie Zeitreisen, Weltraumschlachten oder simple Robotergeschichten sind also außen vor.
Unter dem Dach von Future Fiction kommt dieses Konzept moderner, diverser Nahzukunftsgeschichten jetzt als Magazin-Format daher. In der deutschen Ausgabe (ähnliche in anderen Sprachen sind geplant) erscheinen Artikel und Kurzgeschichten bekannter und beliebter deutscher und internationaler AutorInnen. In der ersten Ausgabe werden sich Beiträge finden von:
Ian McDonald (Nordirland) Robert Corvus Phillip P. Peterson Angela und Karlheinz Steinmüller Lavanya Lakshminarayan (Indien) Martha Riva Palacio Obón (Mexiko) Francesco Verso (Italien)
Das Herausgeber-Team besteht derzeit aus Sylvana Freyberg, Francesco Verso und Uwe Post.
Das Magazin soll als Print und E-Book zu einem Preis “deutlich unter 10 Euro” erscheinen. Wir werden natürlich weiter berichten.
Tobias Lagemann, 1966 in Dortmund geboren, lebt seit 1989 in Aachen und Umgebung, nach abgebrochenem Germanistik-/Komparatistik-Studium über den Umweg als Junge für Alles (in einem Verlag) endlich bei der Post gelandet. Wird seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht und schreibt sich dabei neugierig durch alle Genres (bis auf Nackenbeißer und Blutsverwandte). Er dankt an dieser Stelle ganz ausdrücklich seiner aufmerksamen Testleserin (mit der er zugleich sehr gerne verheiratet ist).
Wir lasen vom Krieg in der Zeitung, er würde auch zu uns kommen. Ein Termin stünde zwar noch nicht fest, aber im Herbst wäre er da. So recht wussten die Kinder mit der Ankündigung nichts anzufangen, als jedoch im Laufe des Sommers auf allen Kanälen ausführlich über den nahenden Krieg berichtet wurde, begannen sie sich zu freuen. Ihnen gefielen die Bilder der Panzer, die sich durch Schlamm wühlten, auch die donnernden Geschütze beeindruckten sie sehr. Und beim Anblick der Soldaten in ihren schmutzigen Uniformen, die Augen entschlossen nach vorn gerichtet, wollte unser Sohn sogleich das Soldatenhandwerk erlernen. Dass er erst mit Sechzehn zum Militär durfte, das fand er blöde. Und um zu betonen, wie blöde er das fand, wiederholte er das Wort drei Mal. Was wir ihm durchgehen ließen, er war sichtlich enttäuscht, erst in sieben Jahren in den Krieg ziehen zu können.
Wir trösteten ihn damit, dass der Krieg ja vielleicht bis dahin ein weiteres Mal in unsere Gegend käme. Und da wäre er dann ja auch schon größer, da würden wir ihn ganz nah an die Front lassen, und vielleicht wäre es auch möglich, dass er in einer Feuerpause mit Soldaten sprach.
Unsere Tochter verlangte das sogleich auch für sich, und um uns zu beweisen, was für ein guter Soldat sie war, paradierte sie im Wohnzimmer mit dem Holzgewehr ihres Bruders auf und ab. Ihr Schritt knallte nur so auf das Parkett, wir luden ein Video von ihr sogleich bei wartube™ hoch. Dennoch versuchten wir, ihr den Berufswunsch auszureden, denn welchen Sinn machte es, Kinder von Etwas träumen zu lassen, das an den Realitäten scheitern musste.
Zur kämpfenden Truppe dürfe sie nicht, erklärten wir ihr, aber Ärztin könne sie werden, als Militärärztin wäre sie ja fast auch ein Soldat. An der Front kämpfen würde sie zwar nicht, aber sie wäre dicht dahinter, zudem dürfe sie eine Waffe tragen. Wir malten ihr die Abenteuer aus, die sie in einem Feldlazarett erleben konnte. Gerade zur rechten Zeit sah sie eine Dokumentation im Fernsehen, die über das blutige Handwerk von Militärärzten aufklärte. Das gefiel unserer Kleinen und sie wollte in Blut und Schmutz stehend Soldaten zusammenflicken, ach, aber nicht nur, sie würde auch amputieren, jawoll, denn das machten Militärärzte ganz oft.
Würdest du mich einem anderen verletzten Soldaten vorziehen, wollte unser Sohn wissen. Unser Tochter überlegte kurz, dann schüttelte sie ihr Köpfchen, sagte – und das beeindruckte uns wirklich sehr, sie war ja erst sieben Jahre alt -, dass an der Front nur der Soldat zählt, nicht das Verwandschaftverhältnis.
Nicht nur die Kinder freuten sich auf den nahenden Krieg, auch wir taten es. Aufgewachsen in einer Zeit, in der Kriege etwas Fernes waren, etwas, das in anderen Ländern geschah und uns nur via Fernsehen und Internet erreichte, spürten wir, dass uns etwas fehlte. Ja, wir kannten Bilder von Massakern und verwüsteten Städten, aber all das aus nächster Nähe zu sehen, ach was, es aus nächster Nähe mitzuerleben, war doch etwas gänzlich Anderes. Am Rand der Stadt würde gekämpft werden, also fast vor unserer Haustür, es würde Zuschauertribünen geben und Großbildleinwände, um besonders dramatische Kämpfe in Zeitlupe wiederholen zu können, so lasen wir auf Plakaten. Wie eine Glocke würde sich der Gefechtslärm über die Stadt legen, eine Woche lang würden Geschützdonner und das Tackern automatischer Waffen unsere ständige Begleiter sein. Und des Nachts, wenn ein Feuerüberfall den Gegner zu schwächen versuchte, würden wir erschrocken aufwachen und uns aneinander klammern. Wir würden gewissermaßen im Krieg leben und mit dem Krieg, wir würden erfahren, wie Krieg wirklich war.
Selbstverständlich kannten wir die sogenannten Argumente der Pazifisten, wir wussten also, dass sie den nahenden Krieg als Showveranstaltung verlachten. Denn als solche habe der uns versprochene Krieg nichts mit den brutalen Wahrheiten eines echten Krieges gemein.
Ja, unser Krieg war eine Show, aber in ihr wurden echte Soldaten wirklich verletzt, verstümmelt und sie starben, zumeist qualvoll. Denn die Kugeln waren aus echtem Blei, die Granaten angefüllt mit echtem hochexplosivem Sprengstoff, und wenn ein Jagdbomber Napalm abwarf, dann brannte das Land. Auch wenn er eine Show war, der Krieg war echt. Erfreulicherweise gab es in unserem Bekanntenkreis kaum Pazifisten, und wenn doch, dann waren sie vernünftig genug, uns nicht mit ihren sinnfreien Bedenken zu belästigen.
Wir bereiteten uns auf den Krieg selbstverständlich gewissenhaft vor, was besonders unseren Kindern große Freude bereitete. Wir horteten im Keller Konservendosen, Nudeln, Getränke, Trockennahrung, Getränke, wir spalteten Holz für den Fall, dass die Stromversorgung ausfiel, lagerten Batterien ein und auch einhundert Liter Benzin für unser Auto, denn man wusste ja nie, ob sich der Krieg nicht vielleicht ausweitete, wir zwischen die Fronten gerieten. Natürlich würde das nicht geschehen, aber unsere Kinder hatten einen Mordsspaß beim Schmieden all der Notpläne. Große Freude bereitete ihnen auch das Einkaufen. Denn natürlich kam in der Stadt beinah jeder auf die Idee, sich das kleine Extra von Hamsterkäufen zu gönnen. Der Krieg kam zum ersten Mal zu uns, da an der falschen Stelle zu sparen, würde den Spaß mindern. Wer belud seinen Einkaufswagen am schnellsten, wem gelang es, andere Hamsterer aus den Schlangen vor den Kassen zu drängen? Das Hauen und Stechen um die letzten Konserven sahen wir jedoch nur noch aus der Ferne, ich hatte einen Bekannten bei der Stadtverwaltung bestochen, daher den Termin des Kriegsausbruchs frühzeitig erfahren. Im Ernstfall kam es nicht auf Stunden an, da ging es um Minuten, entsprechend gerne zahlte ich dem Bekannten eine nicht unbedeutende Summe. Der Erfolg gab uns Recht, erst als wir mit voll beladenem Wagen den Parkplatz des Einkaufszentrums verließen, kamen die nächsten verzweifelten Panikkäufer. Wir gingen natürlich auch die Tage danach Einkaufen, aber mehr aus Voyeurismus als aus Notwendigkeit. Die Verzweiflung in den Gesichtern derer, die nur noch unnütze Reste vorfanden, war einfach zu köstlich.
Die Behörden machten uns während der Wartezeit auf den Krieg das Leben schwer. Aber so war das, in Kriegen drohte die Ordnung oftmals zusammenzubrechen. Es bedurfte einer starken Hand, um den Fall in die völlige Anarchie zu verhindern. Entsprechend war auch Benzin rationiert, gleiches galt für Heizöl, Verbandsmaterial war keines mehr erhältlich, man hatte es für das Militär reserviert. Was in unserer Apotheke Anlass zu Gelächter gab, denn die Kinder beharrten darauf, dass sie beim Militär wären. Was er denn sei, fragte die Apothekerin unseren Sohn. Er präsentierte voller Stolz sein Holzgewehr, legte auf die Kunden hinter uns an und machte Peng Peng. Soldat sei er und er würde keine Verräter im Rücken der Front dulden. Dass sich unsere Tochter als Militärärztin nicht um die niedergeschossenen Verräter kümmerte, rechneten wir ihr hoch an. Wir spendierten ihr ein großes Eis in den Geschmackssorten Olivgrün, Feldgrau und Bandagenweiß, natürlich bekam der Filius auch ein Eis, für beide gab es obenauf einen großen Luftschlag Sahne.
In den zwei Wochen vor Ankunft des Krieges schalteten wir den Fernseher direkt nach den Sondersendungen aus. Wir stürzten uns als Familie in das Studium von Landkarten, denn mir war es gelungen, einen kompletten Satz Wanderkarten unserer Region zu erwerben. Wir baldowerten Fluchtrouten aus, auch wenn diese natürlich auf Spekulationen darüber basierten, wo genau die Kämpfe stattfinden würden. Die Veranstalter des Krieges hielten sich diesbezüglich bedeckt, der Ort der Kampfhandlungen sollte eine Überraschung sein. Da half es uns auch nicht, dass ich dem Bekannten in der Stadtverwaltung ein weiteres Mal eine große Summe zahlte.
Am letzten Wochenende vor den Kämpfen machten wir einen Familienausflug mit den Rädern. Wir erkundeten Wald- und Feldwege auf Ihre Befahrbarkeit, dachten über Möglichkeiten nach, den Fluss westlich der Stadt überqueren zu können, die Brücken würde man ja sprengen. Unser Sohn wollte sogleich ein Floß bauen, aber wir erklärten ihm, dass das ein Fehler wäre. Er müsse zuerst an sich denken und natürlich an uns als Familie, niemals dürfe er sich daher anderen Flüchtlingen gegenüber eine Blöße geben, die würden so etwas nur ausnutzen. Würde sein Floß entdeckt, und es würde entdeckt werden, es gab keine sicheren Verstecke, nicht im Krieg, man würde es ihm stehlen. Es sei, so sagten wir ihm, daher cleverer, Ausschau nach einem verborgenem Floß zu halten, das würde Zeit und Mühen sparen. Wir ernteten leuchtende Kinderaugen, als unser Nachwuchs schon nach kurzer Suche eine nachlässig in einen Kaninchenbau geschobene Luftmatratze samt Blasebalg fand. Wir ließen sie an Ort und Stelle, stachen jedoch Löcher hinein, Dummheit muss bestraft werden.
Dann war endlich der Krieg da. Morgens um halb fünf hörten wir die schweren Motoren von Panzern und das Rasseln von Ketten, Hubschrauber knatterten im Tiefflug über unseren Stadtteil, aus der Ferne erklang das Donnern von Geschütze, dicht gefolgt von Einschlägen, die die Gläser in unserer Vitrine erzittern ließen. Dass die Sirenen erst mit einer Viertelstunde Verspätung heulten, entschuldigte der Bürgermeister später im Radio damit, dass es am Abend zuvor einen Sektempfang für die Generäle gegeben habe, und die Herrn Offiziere, Heidewitzka, die hätten die harten Sachen nur so in sich hinein geschüttet, da hätte er kapitulieren müssen. Wir saßen da bereits auf der Nordtribüne, einem eilig aufgestellten Gerüst mit Bänken aus rohem Holz. Das Glück war offenbar auf unserer Seite gewesen, unsere Nachbarn hatte es bei der Ticketlotterie in den Süden der Schlacht verschlagen. Viel mehr als leichtes Geplänkel gab es dort nicht, erfuhren wir später, Scharfschützen duellierten sich auf komplizierte Weise, Kompanien gruben sich ein, Artillerie war dort keine im Spiel. Bei uns hingegen tobten heftigste Kämpfe. Panzer wühlten sich durch das Land, Geschütze feuerten aus nächster Nähe aufeinander, ein Wäldchen wurde zerfetzt, Äcker und Wiesen wieder und wieder brutal umgepflügt.
Unser Sohn schrie vor Begeisterung, dass er beide Seiten anfeuerte, sah er zunächst nicht als Fehler. Erst als ihm unsere Kleine in die Seite knuffte und etwas zuflüsterte, entschied er sich für eine Seite. Ab da war er ganz der Papa, er begeisterte sich natürlich für die Angreifer. Denn die riskierten was, die trauten sich was, die sprangen aus ihren Stellungen, stürmten voran. Auch als Maschinengewehrgarben ihre Reihen lichteten, mit heiser klingendem Hurrageschrei ging es weiter auf den Gegner zu. Ein Minenfeld ließ den Angriff kurzzeitig stocken, aber ihr Mut trieb die Angreifer weiter, dass ihren Kameraden die Gliedmaßen zerfetzt wurden, schien ihnen gleich. Sie wollten den Sieg um jeden Preis. Dass ein Gegenangriff über die Flanke die Attacke letztlich doch stoppte, empfanden wir als gelungenen dramaturgischen Kunstgriff. Der Krieg sollte eine Woche dauern, da durften die Verteidiger nicht gleich am ersten Tag niedergemacht werden.
Gegen Abend, die kämpfenden Parteien hatten sich für einen Stellungskrieg eingegraben, nur vereinzeltes Gewehrfeuer war noch zu hören, lichteten sich die Zuschauerreihen. Ein paar Sektkorken knallten, man feierte einen spannenden ersten Kampftag. Wir feierten nicht mit, wir schlichen uns unter die Tribüne, rollten dort unsere Schlafsäcke aus. Nicht nur unseren Kindern wollten wir eine Nacht in den Wirren des Krieges gönnen. Als Abendbrot gab es Kommissbrot mit Corned Beef, dazu kalten Ersatzkaffee, sogar an der selbstgedrehten Zigarette durften unsere Kinder ziehen. Später in der Nacht ging meine Frau mit unserer Tochter dann doch nach Hause, die Kleine hatte Angst. All die fremden Geräusche, die wiederholt aufflackernden Schießereien und der Gestank verbrannten Fleisches, das war dann wohl doch etwas zu viel für sie. Nun ja, mit ihren sieben Jahren durfte sie noch empfindlich sein. Als sie ging, tröstete unser Sohn sie, er sei sich sicher, dass sie eine sehr gute Militärärztin werden würde, denn sie habe etwas, das im Lazarett mehr zähle als sauberes Operationsbesteck, sie habe Herz.
In dem Moment war ich sehr stolz auf unseren Jungen, er bewies Führungsstärke, er wusste zu motivieren. Ich war mir sicher, er würde ein guter Soldat werden, zumal er schon während der Schlacht nicht einmal seinen Blick abgewandt hatte, ganz gleich wie grausig die Bilder auf der Großbildleinwand waren, er hatte hingeschaut. Und natürlich waren seine Jungs von ihm angefeuert worden, so nannte er die angreifenden Truppen, seine Jungs. Macht sie fertig, schlachtet sie ab, killt sie, er war mit ganzem Herzen bei der Sache.
Als ich ihn um vier Uhr weckte, schwer lag der Pulverrauch in der Luft, war er sogleich hellwach. Ich bedeutete ihm im Schein eines Streichholzes, mir zu folgen. Gemeinsam robbten wir an das Schlachtfeld heran, ich wollte, dass er das Flehen und Betteln der Sterbenden hörte und diese eigentümliche Mischung aus Blut und Exkrementen roch. Ob es früher in den Kriegen auch so gewesen sei, wollte unser Sohn wissen, so realistisch und wunderbar brutal? Was konnte ich anderes tun, als zu lügen, ich sagte Dieses Mal ist der Krieg viel schöner. Und obwohl es dunkel war, die Nacht nur von irrlichternden Leuchtspurgeschossen zerrissen, sah ich, dass unser Sohn weinte. Krieg, dachte ich, war doch etwas Wunderbares, er brachte die Menschen einander näher. Ich empfand es als Gnade, dass wir als Familie den Krieg aus nächster Nähe erleben konnten. Ein Krieg im Fernsehen, das war keine Katastrophe, das waren nur Bilder. Und Bilder dieser Art gab es zu viele, Bilder von Kriegen wechselten sich ab mit Bildern von Flugzeugabstürzen oder Hochhausbränden. Aber hier im Krieg, da wurde live gestorben, man spürte, was Krieg wirklich war.
Anmerkung des Herausgebers: Die Ideenskizze wurde offenbar nicht umgesetzt, die Insolvenzen der Kriegsparteien verhinderte die Durchführung des zu bewerbenden Krieges.
(Aus: Skizzen zum Kriegsjahr 2062 - Disasters, War & More, Entwürfe für eine Werbekampagne Print & Spot/Online, Watney Press, Schiaparelli City, Mars 2117)(Übersetzung aus dem marsianischen Englisch, Major der Raumwaffe S. Jähn, Strausberg Station, Jupiter Orbit, 2231)Bitte beachten Sie: Dieser Textauszug ist nur für den internen Gebrauch der Hochschulen für angewandte Militärpropaganda bestimmt. Jegliche Weitergabe an außeruniversitäre Personen und/oder KI ist strafbar nach §§ 19.J.1976, gez. Oberst Klein, HofaMp Ceres, 22. März 2233
Lisa Jenny Krieg ist Ethnologin und forscht als Postdoktorandin an den Universitäten Bonn und Jerusalem zum Thema Mensch-Natur-Technologie-Beziehungen im Anthropozän. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter, und Katze Lila in einem kleinen Dorf in der Wüste im Süden Israels.
“Scheiße! Verdammte Scheiße!” Ranya kickte gegen den Kotflügel. Seit einer halben Stunde versuchte sie nun schon das Ornithomobil zu reparieren. Aber es war einer dieser Tage, an denen nichts klappte. Und inzwischen war dieser Tag zur Nacht geworden. Sie versuchte, das Mutationstriebwerk neu zu starten, aber ihre improvisierte Verbindung hielt dem Druck nicht stand. Das Kabel riss, und ein Schwall blauer Flüssigkeit explodierte ihr ins Gesicht. “Verdammter Mist!” Sie kickte noch einmal nach, bis ihr Ornithomobil empört krächzte, und den Kopf zu ihr umdrehte. “Schon OK, Zehnzwo,” sagte sie. “Ich hab’s nicht so gemeint.” Sie streichelte ihm über die schwarzen Federn und den großen, schwarzen Schnabel. Im Licht des Vollmonds glänzte der ganze Vogel blau. Zehnzwo schnurrte. “Genau, so ist’s gut, braver Vogel,” murmelte Ranya.
Der Absturz war ein würdiges Ende für einen miesen Tag. Sie hatte nichts erreicht, und das trotz sorgfältiger Planung. Die Karte stimmte, sie war sich sicher. Und trotzdem hatte sie auf der Grünspitze nichts gefunden. Außer einer Schar wütender Leguan-Kriegerinnen auf dem Gipfel-Plateau, die beinahe für das Ende ihrer Reise gesorgt hätten. Sie trafen Zehnzwo äußerst ungünstig am Mutationstriebwerk, natürlich genau an dem Kabel, das sie gestern nicht ordentlich geflickt hatte. Den ganzen Tag hatte sie mit der Suche verbracht, und sicherlich wartete Manna schon zu Hause mit vor Aufregung zitternden Händen. Sie hatte es natürlich auch nicht lassen können, vor Manna groß herum zu erzählen, dass sie einen todsicheren Hinweis zu einem absolut zuverlässigen Händler hatte, der eine Karte hatte! Eine echte, originale, handgefertigte, Tinten-gemalte Karte mit allen Verstecken, allen! Verstecken! Von Lilienthals letzten Vorräten an Diglaster poreus. Und dass sie als erfolgreiche Späherin, mehrfach ausgezeichnet, sie mit Sicherheit finden würde. Und jetzt saß sie hier in dieser Wüste, in einem Tal, umrundet von Bergen, die komische Schatten im Mondlicht warfen. Mit Zehnzwo, dessen Federn vor Erschöpfung zitterten, und dessen Mutationstriebwerk. Einfach. Nicht. Funktionierte!
Sie warf die Zange auf den Boden und fluchte. In den Libellennestern in den überhängenden Felsen zehn Meter über ihnen brannte noch flackerndes Licht. Ranya bildete sich ein, ein Kichern zu hören. Das fehlte ihr gerade noch. Sie hielt still und lauschte. Zehnzwo quietschte, als er von einem Bein aufs andere trat. Und dann hörte sie schwirrende Flügel und ein Kichern, das näherkam. Ranya schloss die Augen für einen Moment, und atmete tief durch. Klonk. Ein Tippeln auf Blech. Dann ein Krächzen und Quietschen, als Zehnzwo versuchte, die Libelle, die auf ihm gelandet war, los zu werden. Zehnzwo mochte die besserwisserischen Insekten so wenig wie sie. “Bruchlandung, was? Musste wohl noch mehr üben!” summte die Libelle, und brach in schallendes Gelächter aus. “Haha, sehr witzig,” brummte Ranya. “Warum so schlechte Laune? Probleme bei der Reparatur?” Ranya sah die Schadenfreude in ihren vom Mondschein beleuchteten Facettenaugen. “Nein, nein. Alles bestens,” sagte sie durch zusammengepresste Zähne. “Mmmh. Lass mal gucken.” Die Libelle flog los und riss ihr mit flinken Händen den Schraubenzieher aus der Hand, und landete in der Vertikalen an Zehnzwos Seite, genau auf dem Mutationstriebwerk. “Hey, nein!” Ranya wedelte mit den Händen durch die Luft um die Libelle zu verscheuchen, und holte gerade zu einem gezielten Schlag aus, als das Triebwerk zu spucken begann, und Funken spritzte. “Was hast du hier nur getrieben?” surrte die Libelle, und schüttelte den Kopf. “Gar nichts! Ich habe nur versucht, das Ausgangskabel mit dem Elementarverstärker zu verbinden, damit -” “Dumme Idee! Sehr dumm!” Mit flinken Händen schraubte die Libelle im Triebwerk herum, und nahm ihre Mundwerkzeuge zu Hilfe. Zehnzwo hatte entspannt die Federn aufgestellt, und begann zu glucksen. Ranya nahm das als Zeichen, dass die Libelle irgendetwas richtig machte. Was soll’s. Dann ließ sie sich eben von einer Libelle helfen. Sie atmete geräuschvoll aus. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt.
Über ihnen hatten sich die letzten Wolken verzogen, und die Abendsterne leuchteten hell. Bald würden sich die Nachtblumen öffnen. Ranya seufzte. Wieder einen Zyklus vergeudet. Wieder kein Diglaster poreus für Manna. Und wieder keine Transspeziation für sie, oder für irgendjemand anderen in Klippe. Die Zeremonie war überfällig. Sie brauchten dringend neue Späherinnen. Und ihre nächste Einweihung stand kurz bevor. Stand genau genommen schon seit zwei Zyklen kurz bevor. Was sie dafür geben würde, endlich ein Herpetomobil zu fliegen! Einer der purpurnen Pterodactyli vielleicht… Sie seufzte, wischte sich die Haare aus der Stirn, grau mit Staub und schweißverklebt, band sie zu einem Pferdeschwanz, und schnürte ihre Jacke zu. Der Wind war kalt geworden.
Die Libelle surrte und arbeitete so schnell an Zehnzwos Mutationstriebwerk, dass Ranya den Überblick verlor darüber, was dort genau vor sich ging. Sie ärgerte sich jetzt schon darüber, dass sie bestimmt später ratlos in der Werkstatt stehen würde, und ihr eigenes Ornithomobil nicht mehr verstehen würde, zum Spott von ganz Klippe. Aber sie hatte keine Energie mehr. Sie schloss die Augen, und atmete den Geruch von Sand, Nacht, und Wüstenblumen ein, und langsam wieder aus. Ihr Rücken tat weh, und ihre Handgelenke beschwerten sich.
Eine leise Melodie bestätigte, was sie schon geahnt hatte. Die Nachtblumen öffneten sich. Mit den immer gleichen fünf Tönen, mal langsam, mal schnell, wuchsen die Blumen aus dem Sand in mehrere Meter Höhe. “Weg da!” schrie die Libelle ihr gerade noch zu, und mit einem Satz zur Seite rettete sich Ranya gerade noch davor, von einer der durch den Boden stoßenden Blumen in fünf Meter Höhe getragen zu werden. Sie schüttelte sich. Sie musste schlafen. Und essen. Aber nicht hier. Hier musste sie sich zuallererst zusammenreißen. Um sie herum hatten sich zehn, zwölf singenden Blumen in die Höhe geschraubt. Schwarze, samtige Blütenblätter falteten sich auf, und jede einzelne Blüte drehte sich langsam dem Mond zu. In ihrer Mitte zeigte sich eine schwarze, glänzende Perle, pulsierend mit reflektiertem Mondlicht. Die Libelle dreht sich kurz nach den Blumen um, zischte, und wandte sich wieder Zehnzwo zu. “Ungeziefer!” brummte sie. Wie auf ein lautloses Kommando explodierten die Perlen aller Nachtblumen gleichzeitig. Die Melodie, die von ihnen ausging, wurde kurz lauter, dann verstummte sie. Und Tausende und Abertausende von Samen, leuchtend wie Glühwürmchen, flogen durch den Nachthimmel. Das war’s, hiermit war es offiziell Asten. Ba war vorbei. Vergangenheit. Ein weiterer Zyklus. “Wunderschön,” entfuhr es Ranya, und sie schlug sich sofort die Hand über den Mund. Sie war wirklich nicht mehr konzentriert. Die Libelle brach in Lachen aus. “Bist wohl noch nicht viel rumgekommen,” kommentierte sie. Ranyas Gesicht wurde heiß, aber sie würde sich sicher nicht die Blöße geben, sich jetzt vor der Libelle zu erklären. Sie winkte ab und brummte vage. “Wo warste überhaupt? Is nich viel, hier.” “Ach, bisschen den Vogel bewegt,” sagte Ranya ausweichend. “Quatsch. Bist ne Späherin, was? Sieht doch jeder.” Ranya zuckte die Schultern. “Hast wohl was gesucht?” “Nee.” “Ihr sucht doch immer was. Sucht und sucht. Man könnte ja was verpassen.” Die Libelle schüttelte den Kopf. “Könntet ja auch einfach mal zu Hause bleiben! Unruhiges Volk.” Leicht gesagt, wenn man Flügel hat, und keine Transspeziation braucht, um fliegen zu können.
Und dann sah Ranya ungläubig, wie blauer Elementarfluid und gelbes Gentranswasser sich im Mutationstriebwerk zu einer violetten Flüssigkeit mischten, blubberten, und leuchteten, während Zehnzwo euphorisch gackerte. “Wie…?” begann sie zu fragen, aber sie wollte sich nicht erneut vor der Libelle blamieren, und brach ihre Frage vorausschauend ab. “Ha, hättste nicht gedacht, was?” entgegnete die Libelle. “Also…” sie zögerte. Zugegeben, Libellen hatten einen schlechten Ruf in Klippe. Im ganzen nördlichen Trockenwald. Vor allem seit dem Vorfall am Grünspitzsee. Mit ihren großen Augen und den Mundzangen sahen sie eben auch nicht sehr vertrauenserweckend aus. Sie konnte Zehnzwos Stimmung weitaus besser lesen, als die jeder Libelle. Und er war ein Ornithomobil! “Warum…?” Sie war nicht mehr imstande, in ganzen Sätzen zu reden. Aber die Libelle verstand. “Ihr denkt eben immer nur das schlimmste,” surrte die Libelle, “aber weißte was? Wir können auch ganz freundlich.” Und damit flog sie los, schwirrte Ranya surrend vors Gesicht. Ranya unterdrücke den Impuls, die Libelle wie störendes Ungeziefer wegzuscheuchen, und da war sie auch schon weg, zurück zu den Felsennestern. Wie unzählige kleine Feuer in der Dunkelheit zierten sie die Felswände.
Ranya schüttelte die Müdigkeit von sich. Sie zog ihren Helm auf, griff nach den Zügeln, und stieg auf. Sie presste ihre Füße auf die Transmutationsspiralen. Zehnzwo krächzte, und richtete sich auf. Sein ganzer Körper vibrierte und leuchtete schwarzblau. Er breitete seine gefiederten Schwingen aus, und hob mit einem schwungvollen Satz ab, mitten hinein in den Nachthimmel. Der Wind blies Ranya ungemütlich ins Gesicht, und sie spürte jeden schmerzenden Muskel. Aber nicht mehr lange. Sie zählte die Sekunden. Und da kam es. Wie ein Blitz durchfuhr es sie, wie ein elektrischer Schock. Das Transmutationstriebwerk hatte sich warmgelaufen, und die Ekstase setzte ein. Wellen von Wärme durchfuhren ihren Körper. Sie atmete aus, und ließ eine Welle nach der anderen durch ihren Körper fließen. Von ihrer Mitte bis in die Zehen und Fingerspitzen wogten immer schneller, bis sich ihr Körpergefühl ausdehnte und die Grenzen ihres Ichs sich auflösten. Sie war Ranya, sie war Zehnzwo, sie war die Nacht und die Wüste und der Wind und die Weite. Sie war Mensch, Rabe und Maschine. Sie war alle Elemente, und alles was sie verband. Das war es wert, alles, immer wieder und wieder, für diesen Moment. Ihr Wille war mit Zehnzwo verschmolzen, die Zügel nutzlos geworden. Schnell wie der Wind jagten sie durch die Nacht, Rabenfrau, Robotervogel, gefiederter Cyborgmenschenrabe. Sie wussten beide, wohin es ging. Nach Hause.
Pünktlich vor Weihnachten präsentieren wir das erste Jahrbuch von deutsche-science-fiction.de.
Zugegebenermaßen ist es nicht ganz so dick wie das altbekannte “Science Fiction Jahr”, und es ist auch keinesfalls als Konkurrenz gedacht – aber dafür ist es ein bisschen billiger.
Unser Jahrbuch enthält alle seit Ende 2018 auf unserem Portal veröffentlichten Kurzgeschichten (von Uwe Hermann, Frank Hebben, Nadja Neufeldt, S. A. Dürigen, Marco Rauch, L. D. Schenk, Hubert Hug und Tobias Lagemann) – fast alle sind Erstveröffentlichungen. Außerdem bringen wir eine kleine Ansprache des Herausgebers und als Anhang einen Überblick über neu erschienene Romane sowie die diesjährigen Preisträger von DSFP und KLP.
Ursprünglich hatten wir geplant, das E-Book kostenlos abzugeben. Einige Leute merkten aber richtig an, dass so mancher dazu neigt, was gratis ist, auch als wertlos anzusehen. Außerdem werden Gratis-E-Books von Bookrix (unserem E-Book-Dienstleister) nicht bei Amazon gelistet, und es soll Leute geben, die da gelegentlich einkaufen. Daher bitten wir um Verständnis dafür, dass wir für das E-Book den kleinsten möglichen Verkaufspreis von 0,99 Euro gewählt haben. Vom Erlös, der bei etwa 25 Cent pro verkauftem Exemplar liegt, finanzieren wir die Kosten für unser Webportal, das ja ansonsten ein reines Privatvergnügen und Pfenniggrab ist. Falls es einen nennenswerten Überschuss geben sollte, schütten wir den selbstverständlich an die Autoren aus, die ihre Texte eigentlich honorarfrei zur Verfügung gestellt haben. Dafür gilt ihnen natürlich unser besonderer Dank, denn ohne Autoren gibt’s keine Bücher!
Zu haben ist das Jahrbuch überall, wo es E-Books gibt, siehe hier.
Wir wünschen gute Unterhaltung und eine schöne Vorweihnachtszeit!
Tobias Lagemann, 1966 in Dortmund geboren, lebt seit 1989 in Aachen und Umgebung, nach abgebrochenem Germanistik-/Komparatistik-Studium über den Umweg als Junge für Alles (in einem Verlag) endlich bei der Post gelandet. Wird seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht und schreibt sich dabei neugierig durch alle Genres (bis auf Nackenbeißer und Blutsverwandte). Er dankt an dieser Stelle ganz ausdrücklich seiner aufmerksamen Testleserin (mit der er zugleich sehr gerne verheiratet ist).
Hätte ich geahnt, welche Folgen unser Duell in der #Scool haben würde, ich hätte zehn Jahre zuvor nicht mit dem Programmieren begonnen. Das hätte zwar meinen Eltern nicht gefallen, die wünschten sich ja doch wie alle Eltern, dass aus dem Kind mal was Vernünftiges wird, aber wenn es zwischen zufriedenen Eltern und dem Ende der Welt abzuwägen gilt, senkt sich die Waagschale recht schnell in Richtung des eigenen Überlebens.
Aber der Reihe nach und damit zu Bernd und seinem ersten Tag in meiner Klasse. Der musste ein ganz besonders schlauer Junge sein, denn mit seinen gerade mal sieben Jahren würde er mit uns zusammen das Abitur machen. Okay, so besonders ist das nicht, in Bayern beginnen gar nicht mal so wenige Mädchen mit sechs Jahren zu studieren, aber doch etwas besonders Ärgerliches für mich, denn ich war zwölf und musste neben Bernd sitzen. Also jetzt nicht in #Rea, meine Eltern haben mich ja in die #Scool geschickt und da ist alles #Virtu. Das erlaubte mir, dass ich mir die Situation ein gutes Stück erträglicher gestalten konnte. Ein paar kleine Hacks in der ersten Pause und Bernd war mit einem mal ein von Pickeln arg geplagter Nerd von achtzehn Jahren. Den ich meinen Eltern in einer #SilWork-Sequence als Beispiel dafür verkaufte, dass es gar nicht schlimm um mich stand.
»Und du hast da auch nicht etwas Verbotenes gemacht?«, wollte mein Vater wissen.
»Verbotenwas?«
»…tenes.«
»Nee.«
»Es handelt sich also nicht wieder …«
»Das war ich nicht«, schrieb ich. Meine Eltern waren ziemlich nachtragend, sie hielten mir die Sache mit dem arg pornografischen Material vor, das ein #Scool-Mod peinlicherweise als Unterrichtseinheit in Geschichte – Thema: Katharina die Große, Zarin deutschen Geblüts – präsentiert hatte. Zwar gab es keinerlei Beweise dafür, dass meine schnell übers Board flippenden Finger mit im Spiel gewesen waren, aber nicht nur meine Eltern verdächtigten mich zumindest der Teilhabe an der Aktion. Entsprechend vorsichtig war ich in Sachen Hacks geworden.
»Lade deinen neuen Freund doch mal zu uns ein«, schrieb meine Mutter. Ja, sie versuchte es immer mit Ablenkungen, wenn sich ein Krach zwischen mir und meinem Vater anbahnte. Dafür mochte ich sie.
»Klar. Mach ich. Hab dich lieb. Kuss. Und, Papa?«
»Ja, mein Liebling?«
»Du denkst ans Spiel? An die Karten?«
»Bekommst du, wenn du die Bio-Einheit bestehst.«
»Klar. Supi. Danke.«
»Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Klar doch, ich lasse die Finger vom Board und lerne brav.«
»Prima, mein Liebling.« Prima war fast nix an der Schreiberei mit meinen Eltern, wie immer gab es nur Druck. Dem ich nicht würde ausweichen können, Bio war meine größte Schwäche. An Genen rummachen war nicht mein Ding, auch wenn es sich dabei nur um den richtigen Umgang mit Codes handelte. Ich sah mich als #B-Coder, nicht als #G-Coder, hatte mit dem #B-Programmieren schon vor Eintritt in den Kindergarten begonnen. Sehr zur Freude meiner Eltern, die meine Begeisterung für Bits und Bytes für ein zukunftsweisendes Hobby hielten. Entsprechend großzügig fiel die materielle Unterstützung für mein Hobby aus, denn, so mein Vater, vielleicht macht sich ja – Originalzitat! – »mein kleiner Liebling« noch vor Abschluss der Grundschule als Programmierer selbständig.
Habe ich nicht gemacht, natürlich nicht. Es gab einfach zu viele clevere Kids, die gut mit #B-Code umgehen konnten, vor allem aber echt voll auf der Erfolgsschiene waren, also Kohle ohne Ende machen wollten, während ich es eher locker angehen ließ, beim #B-Coden meinen Spaß haben wollte, also nur witzige Sachen machen wollte.
Und damit bin ich wieder beim »Prima war fast nix«. Denn prima an der Schreiberei mit meinen Eltern war, dass die letzten Buchstaben meines Vaters gerade im atomaren Feuer eines durch mein Zimmer flutenden Weltuntergangs vergingen, als Bernd meinen Hack konterte. Er hatte sich in ein blond bezopftes, dirndltragendes Mädel mit gerade jottwede gegangenen Milchzähnen verwandelt.
»Hallo Bernadette«, schrieb ich und tat so, als hätte er mich nicht überrascht.
»Du bist echt nett, Zonen-Gabi, möchtest du meine Freundin sein?«
Freundin? Moment …
Und, äh, ich habe zwar echt flotte Finger am Board, aber ich brauchte dann noch so ein, zwei, drei weitere Momente, um zu verstehen, was er aus mir gemacht hatte. Ich wusste nämlich nicht, was eine Zonen-Gabi ist. Zonen kannte ich nur im Zusammenhang mit Coden, dabei handelte es sich um unterschiedlich intensiv geschützte Zonen des #sww. So dass ich zuerst nach dem #Tag einer Hackerin namens Zonen-Gabi suchte. Die war mir zwar noch nicht übers Board gelaufen, aber was heißt das schon, das #sww ist ja eine echt große Angelegenheit, umfasst ja augenblicklich das gesamte Sonnensystem.
Nee, also das geht zu weit, dachte ich, als ich sah, was Bernd aus mir gemacht hatte. Sie kennen den #VidFeed ja, kurz vor dem großen Rumms habe ich den ins #sww eingespeist, ich als dauergewellte Blondine Banane essend, dazu freudig mit strahlend blauen Augen in die Cam blickend und dann sächselnd: »Isch gönnde misch sinnlous midd Schbageddi behengn.«
Das war gewiss ein Fehler, denn ich war nicht wütend, wirklich nicht, ganz im Gegenteil, ich war amüsiert. Denn da war mit Bernd jemand, der gut war, mit dem es Spaß machen würde, sich die Codes um die Ohren zu tippen, bis einem von uns keiner mehr einfiel, der den Hack zuvor noch toppen konnte. Gerade auch wegen der Schbageddi, in die sich meine blonde Dauerwelle gegen Ende des #VidFeed verwandelten. Hey, dachte ich, der Bernd ist sieben Jahre alt, den schaffe ich. Und so schaffte ich ihn noch vor Ende der #SilWork-Sequence als Margot in eine ZK-Sitzung. Ich fand das passend, die Dame mit der blauen Dauerwelle war ja – ich gestehe, ich musste es recherchieren – seinerzeit für Volksbildung zuständig. Und wo waren wir? Genau, in einer Bildungseinrichtung.
»Nickie!« Oha, der #Mod.
»Anwesend« schrieb ich flott und ließ dabei Margot nicht von meinem Bildschirm verschwinden.
»Wir haben zwar Deutsch, aber nicht Deutsch-Deutsche Geschichte.«
»Ich war das nicht …«
»Nickie?«
»Anwes«
Weiter kam ich mit dem Schreiben nicht, denn ich hatte Bernds Konter entdeckt. »Nun?«
»Anwesend. Das war ich nicht. Wirklich nicht.«
»Profile kann man nicht hacken, Nickie.«
Ha, dachte ich, das denkst auch nur du und der Rest der Lehrerschaft und gewiss auch die, die #Scool als prima Methode für den Heimunterricht wohlhabender Kinder anbieten. Selbstverständlich kann man Profile hacken und damit Schabernack treiben, das weiß doch jeder Coder, der sich seinen Code nicht mit dem #Script-Kit schreibt, sondern wirklich coden kann. Womit ich wieder bei Bernd bin, der eben diese Kunst auch meisterhaft beherrschte. Mich hatte er in einen Autofahrer verwandelt, der mit einem abschreckend altmodisch gestylten Auto wiederholt gegen eine Mauer fuhr, auf der Stand Die Mauer muss weck.
Immerhin hatte Bernd bei seinem Hack einen Fehler gemacht, das ließ hoffen, dass er weitere machte. Ich beschloss, ihn zu provozieren, griff seinen Schreibfehler auf und machte aus ihm einen Wecker, dessen Zeiger Fünf vor Zwölf anzeigten.
Kennen Sie Tom und Jerry? Ich kannte die nicht bis zu dem Augenblick, als mir eine frech grinsende Maus eine brennende Dynamitstange in mein Katzenmäulchen stopfte und geschwind mit einem großen Pflaster zuklebte.
Rrrrrums.
Okay, Bernd du willst …
»Nickie?«
»Anwesend.«
»… Krieg? Du kannst ihn haben.«
»Wie viele Handlungsorte finden sich im Götz von Goethe?«
Ich sendete dem Mod ein paar gelangweilt dreinschauende Bilder von kaiserlichen Soldaten, dann Bernd ein Bild eines Arschs, der von ihm geleckt wurde.
»Nickie?«
»Anwesend.«
»Die Mauer muss weg. Weg mit g.«
Ich eroberte mir mein Profil zurück, indem ich die Burg sturmreif schoss, die Bernd aus Code errichtet hatte. Mit wehenden Fahnen zog ich durch das zerschossene Tor in mein Profil ein und hisste eine Flagge, auf der ich als Zonen-Gabi zu sehen war.
»Danke, Nickie. Und nun, bitte, die Antwort auf meine Frage.«
»Anwesend.«
»Scheint mir nicht so.«
Ja, ich war abgelenkt, nein, ich gab es nicht zu. Dafür war ich viel zu beschäftigt, denn Bernd blockte so vier, fünf meiner Hacks ab, bevor ich ihn mit dem sechsten in eine Frau verwandelte, die »Ausgerechnet Bananen« sang. Geschafft.
»50.«
Die Zahl nahm ich zum Anlass, die singende Frau zu entblößen und die Blöße beinah zugleich wieder mit einem Kleidchen aus fünfzig Bananen zu bedecken.
»Nickie und Bernd?«
»Anwesend.«
»Dito.«
»Ihr stört.«
Hatte ich mich verhackt? Konnte nicht sein.
»Ich war es nicht«, schrieb Bernd.
Ich lachte.
Das Lachen war in der Klasse zu hören. Bernd hatte mein Mikro gekapert. Ja, bis dahin war alles nur eine alberne Kabbelei unter zwei coolen ScoolKids, die echt was auf dem Kasten hatten. Was die beiden zu dem Zeitpunkt nicht wussten: In der #Ware meines Rechners war ein kitzekleiner Programmierfehler, just in dem Teil des Codes, der für die Steuerung des Mikros zuständig war. Im normalen Betrieb kam der Fehler nicht zum tragen, griff jedoch jemand von außen mit bösen Absichten auf mein Mikro zu, verselbständigte sich der Fehler. Bei meinem blitzneuen Quantencomputer erwies sich das als katastrophal. Die Katze war da, dann weg, dann zu viert, war da, miaute, leckte sich die Bäuche – ja, Bäuche, in der Welt der Quanten kann eine Katze sehr, sehr viele Bäuche haben -, war weg, kam nicht zurück, blieb weiter abwesend, hey, wo bleibt denn die Katze, die kann doch nicht einfach fortbleiben, die …
Damit war der Geist aus der Flasche oder anders formuliert: Kater Tom schlich sich quantenspringlebendig in den Zentralrechner des Weltverteidigungskommandos – Sitz, ja, in Berlin – ein. Das hatte man einst für eine tolle Idee gehalten, das mit Berlin, habe doch das Ende des Kalten Krieges mit der Wiedervereinigung Deutschlands ein erstes Highlight gefunden, aus dem letztlich die Einigung der Welt erwachsen sei. Das habe zwar gedauert, aber egal. Berlin, Berlin, wir vereinigen uns in Berlin.
Aber diese Welt, also die Erde, war zum Zeitpunkt der Einigung nur eine von vielen bewohnten Schwerkraftdellen im solaren System. Auf der Venus tummelten sich Menschen, auf dem Mars sowieso, Ceres war unter Touris echt angesagt, im Gürtel schnallten die Prospektoren angesichts unvorstellbarer Vorräte an Erzen die Gürtel nicht enger, sondern weiter, ein Billionär ließ im Schatten der Saturnringe ein Generationenraumschiff bauen et cetera perge perge. Oder kurz und knapp gesagt: Die Menschen waren überall. Und wie das so ist mit den Menschen, sie können sich zwar einigen, aber das ist nur von Dauer, wenn sie sich darauf einigen können, dass andere nicht dazu gehören. Zwar lebte die Menschheit die mit diesem Denken verbundene Konfliktfreudigkeit nicht mehr mit der Üppigkeit früherer Jahrhunderte aus, aber man wappnete sich für den Fall der Fälle, also: Sicher ist sicher. Und: Ein paar Waffen sind ganz besonders sicher. Vor allem: Viele Waffen garantieren Frieden und Freiheit blablabla.
Kater Tom, und damit hatten weder Bernd noch ich auch nur das Geringste zu tun, legte der Maus, in die der sich munter rumquantende Softwarefehler den Zentralrechner des Weltverteidigungskommandos der Erde verwandelt hatte, eine brennende Dynamitstange auf den Schwanz, pappte ihn mit einem Schleifchen fest und dann, Trickfilmexperten wissen es, explodierte die Maus mit einem Rrums.
Okay, dieser Rrums war dann doch etwas mehr, denn während Jerry nur das Fell zerzaust wurde, kippte das über dem Zentralrechner liegende Brandenburger Tor um. Da das bei der nach einem Rohrbruch erfolgten Verflüssigung des märkischen Sandes schon mal fast geschehen war, nahm den Umfaller niemand wirklich ernst. Als sich dann jedoch Raketen aus dem Boden schoben, überraschend kleine, spitze Dinger, die mit Donnergetöse abhoben, hieß es #BreakingNews.
Als die Raketen die Schwerkraft der Erde überwanden, machte sich Nervosität breit, denn der Rückrufbefehl für die Raketen funktionierte nicht.
»Sorry, wir waren das nicht. Wir wollen das nicht. Wir kommen für alle Schäden auf«, schrieb die Erdregierung immer und immer wieder ins Sonnensystem hinein.
Die kurze Antwort: #Thismeanswar
Dann #TheMartianEmpireStrikesBack
… #maytheforcebewithyou
»Nein. Stop. Halt. Alles auf Anfang.«
»Say it in English, please.«
Der letzte Satz stammte von mir, ja, ich hatte das »Say it in English, please« getippt. Ich hielt all die Action, die sich auf meinem Screen zeigte, für eine Spielerei Bernds. Und, ja, ich versuchte zu kontern, nun ja, ich konterte beziehungsweise hatte bereits gekontert, gleich zu Beginn nämlich, als sich die Raketen aus der Mitte Berlins erhoben hatten. Ähm, ja, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, ich hatte den Rückrufbefehl der Raketen außer Kraft gesetzt. Wie gesagt, ich hielt all das, was mir mein Screen optisch und akustisch bot, für eine Spielerei Bernds. Und er, das weiß ich jetzt, hielt all das, was sich auf seinem Screen sehen und hören ließ, für meinen Hack. Den er natürlich auch konterte, eigentlich wollte er mit dem betreffenden Hack die Raketen bloß mit einem großen Netz fangen, aber der Softwarefehler meiner Mikro-Ware quantete so munter herum, das Netz legte solarsystemweit alle Verteidigungsmaßnahmen lahm.
Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrums.
Ein großes Krachen und Bersten und Sterben begann, aus dem die auf der Erde lebenden Menschen als glückliche Überlebende heraus gekommen wären, ja, wären, denn es war ja ein Krachen und Bersten. Das sehr, sehr viele große und kleine Trümmerteile durch das Sonnensystem sausen ließ. Da das Netz die Asteroidenabwehr als Verteidigungsmaßnahme eingeschätzt und ergo ausgeschaltet hat, war die Erde dem sich nähernden kosmischen Bombardement letztlich schutzlos ausgeliefert. Für die, die konnten, hieß es: Ab unter die Erde. Ganz, ganz tief. Dort war natürlich nicht viel Platz, so dass wirklich nur die, die konnten, weil sie viel, viel Geld hatten oder sehr, sehr gute Beziehungen, in die Tiefbunker hinabsteigen durften. Und zu meiner großen Erleichterung mussten auch ein paar Menschen zwangsweise nach unten, weil sie Riesenmist gebaut hatten. Damit meine ich mich und Bernd. Zur Strafe – ja, echt jetzt – sollten wir überleben, denn wir sollten ein Leben lang nicht vergessen, dass wir die Menschheit ausgelöscht hatten.
Und so sitzen wir jetzt in #Rea nebeneinander und können gar nicht fassen, was für einen Mist wir gebaut haben. Bernd ist nämlich keine sieben Jahre alt, er ist zwölf, er hatte sein Scool-Profil bloß etwas aufgehübscht, um in seiner neuen Klasse nicht gleich als Looser einzusteigen. Und er mag Mädchen aus Bayern, so wie ich eines bin, auch wenn ich jetzt nicht mehr in Bayern bin, sondern in einem Bunker tief unter Hamburg. Hätten wir das alles bloß mal vorher gewusst, wir hätten beide niemals mit Programmieren angefangen. Das hätte zwar meinen Eltern nicht gefallen, denn … Aber das habe ich, glaube ich, schon gesagt.
Hubert Hug, geboren 1959, verheiratet, zwei Kinder, ist Molekularbiologe. Science-Fiction-Geschichten von ihm sind unter anderem in Golem, Flash Fiction Magazine, Fantasia des EDFC und der Edition Bärenklau erschienen. Er lebt in einer Sackgasse an einem Bach mit merkwürdigen Kreaturen. Das könnte seine Andersartigkeit erklären.
Der
Bach rauschte und die Erlen blühten. Im Gehöft mit dem weit
überhängendem Dach klingelte das Telefon. Herr Wiesler schaltete
den Herd aus, ging zum Telefonapparat und nahm den Hörer ab.
„Hallo.
Wer ist dort?“, fragte er.
„Mein Name ist Überking, Leiter des Amts für Pollenverwaltung.“ Die Stimme klang etwas heiser und belegt.
„Was
für eine Verwaltung?“, erkundigte sich Herr Wiesler.
„Amt für Pollenverwaltung“, sang es aus dem Hörer.
„Noch
nie gehört“, sagte Herr Wiesler.
„Das
sollten Sie aber. Wir haben sowieso das Gefühl, dass Sie nicht mit
der Zeit gehen wollen.“
„Mit
welcher Zeit?“
„Hören
Sie, Herr Wiesler. Ich habe nicht viel Zeit.“ Herr Überking klang
ärgerlich. „Ich rufe Sie wegen einer ernsten Sache an.“
„Ja
… dann sagen Sie endlich, was passiert ist.“
„Genau.
Sie scheinen vernünftig zu werden. Ihre Erlen blühen.“
„Die
Erlen am Bach?“
„Ja
genau. Sie stehen auf ihrem Grundstück. Sie hätten diese schon
letztes Jahr fällen sollen. Ein entsprechendes Schreiben war Ihnen
von uns zugekommen.“
„Davon
weiß ich nichts. Sicher war Ihr Schreiben nicht wichtig.“
„Alles,
was von uns kommt, ist wichtig“, schrie Herr Überking. „Wir sind
eine hoheitliche Behörde.“
„Das
ist gut. Ich bin ein Bauer im Schwarzwald.“
„Hören
Sie, mein guter Herr. Wir geben Ihnen die letzte Chance.“
„Was
wollen Sie von mir?“
„Ich
sage Ihnen, was Sie schon lange wissen sollten. Nach Baum- und
Blütengesetzbuch Paragraph 14z, Absatz 4.1.3, Zeile 5 bis 11 dürfen
keine Erlen im Schwarzwald blühen.“
„Das
ist mir neu. Erlen blühen hier meines Wissens seit Tausenden von
Jahren.“
„Kann
sein. Aber Erlen dürfen nicht mehr blühen. Das ist Allgemeinwissen.
Bald habe ich keine Geduld mehr mit Ihnen.“
„Kein
Problem. Ich muss sowieso gleich meine Hühner füttern.“
„Hühner
…“, Herr Überking machte eine Pause. Er hustete und röchelte,
bevor er erbost weitersprach. „Ich werd’ schon krank, wenn ich
das Wort ‘Hühner’ höre. Hoffentlich haben Sie die Viecher
entsprechend der Vorschriften eingesperrt.“
„Ja“,
sagte Herr Wiesler.
„Okay.
Um Ihre Hühner wird sich später eine andere Abteilung kümmern. Ich
werde das Problem weiterleiten. Zurück zu den Erlen.“
„Ich
bin noch hier“, sagte Herr Wiesler. „Aber bald muss ich gehen.“
„Sie
müssen die Erlen fällen. Sonst werde ich eine dafür qualifizierte
Baumfällfirma vorbeischicken. Auf Ihre Kosten.“
„Die
Krähen bauen ein Nest in den Erlen. Die kann man nicht einfach
fällen. Außerdem brauche ich die Bäume als Hochwasserschutz.“
„Um
den Hochwasserschutz kümmert sich eine andere Abteilung.“
„Hat
die Abteilung einen Kuhstall?“
„Lenken Sie nicht wieder vom Thema ab.“
„Sie
haben mit dem Thema angefangen. Wir wissen doch, dass Erlen, wenn es
regnet, fast so viel Wasser aufnehmen können, wie ihrem Volumen
entspricht. Das ist alles Wasser, das nicht mehr in meinen Kuhstall
laufen kann. Der ist nämlich manchmal überschwemmt und die Kühe
stehen im Wasser. Dann geben sie weniger Milch. Kann ich jetzt
auflegen? Ich möchte die Erlen behalten. Sie gehören doch mir,
oder?“
„Nein.
Die Bäume stehen zwar auf Ihrem Grundstück. Aber die Verantwortung
der Verwaltung liegt bei uns.“
„Aha.“
„Nichts
aha. Wir haben klare Grenzen. Die Vorschrift besagt, dass die Erlen
verschwinden müssen und zwar sofort.“
„Ich
lasse die Erlen stehen. Sie gefallen mir.“
„Hören
Sie! Meine Geduld ist am Ende. Sie sind schuld, dass jedes Jahr
Tausende von Menschen erkranken.“
„Ich
mache niemanden krank. Meine Eier und meine Milch sind gesund. Alles
auf meinem Hof ist gesund.“
„Sie
sind ein Luftverschmutzer. Ihre Erlenpollen fliegen in unsere Städte
und verursachen Allergien. Die Menschen in den Städten haben wegen
solchen Starrköpfen wie Ihnen kein angenehmes Leben.“
„Diese
Menschen machen doch bei uns Urlaub. Jedes Jahr kommen Sie hierher,
in großen Scharen. Die Touristen, die uns besuchen, sehen gesund
aus.“
„Die
Kranken bleiben eben zu Hause“, antwortete Herr Überking gereizt.
„Das
ist besser für Kranke. So werden sie schneller gesund. Brauchen Sie
Krankenrezepte von meiner Oma? Leider ist sie vor sieben Jahren
gestorben.“
„Wir
brauchen keine Rezepte.“ Herr Überking schrie in den Hörer. „Wir
wollen, dass keine Erlenpollen in unseren Städten landen.“
Herr
Wiesler nahm den Hörer etwas vom Ohr weg und schüttelte den Kopf.
Nach ein paar Augenblicken antwortete er.
„Pflanzen
Sie doch Erlen in die Städte. Dann werden die Menschen sicher wieder
gesund. So gesund wie ich.“
„Wir
müssen alle Erlen fällen. Es gibt moderne Vorschriften. Das
versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit zu erklären. Zum letzten Mal
…“ Herr Überking brüllte wieder. „Erlenpollen verursachen
Allergien!“
„Meine
Tiere und ich haben keine Allergien.“ Herr Wiesler zeigte keine
weitere Regung.
„Sie
sind eben eine Ausnahme. Und Ausnahmen gibt es bei uns nicht.“
„Das
ist nicht richtig. Ausnahmen sind manchmal gut. Ich zum Beispiel
besitze ein Huhn mit zwei krummen Zehen. Mein Nachbar riet mir, es zu
schlachten. Aber jetzt legt es die meisten Eier, mindestens 300 im
Jahr. Stellen Sie sich vor. Essen Sie gerne Eier?“
„Das
Gespräch mit Ihnen macht mich müde. Sie wollen mich nicht
verstehen, lesen unsere Schreiben nicht und weigern sich, unsere
Vorschriften zu beachten. Ich werde die Sache meinem Vorgesetzten
übergeben. Auf Wiederhören.“
„Auf
Wiederhören, Herr Amtmann. War schön, dass Sie sich mal bei mir
gemeldet haben.“
Herr
Wiesler legte auf und lächelte.
‘Meine
Erlen sind so schön grün’, dachte er. ‘Niemals werde ich sie
fällen. Eher werde ich gefällt.’
L.D. Schenk ist Jahrgang 1948, hat Physik studiert und anschließend auf dem Gebiet EDV/Informationstechnik gearbeitet. Mittlerweile ist er im Ruhestand. Zur Science Fiction kam er sehr früh in seinem Leben Anfang der 60-er Jahre, als sie noch von den Heftchenromanen dominiert wurde und als “Schmutz- und Schundliteratur” galt. In der Schulzeit entstanden erste eigene Geschichten, aber Studium und Beruf führten ihn dann in andere Gefilde. “Verdammtes Ungeziefer” ist seine erste Geschichte nach einer langen Pause, zu der ihn tatsächlich ein Blattlausbefall auf seinem Balkon anfangs des Jahres inspiriert hat.
“Was
ist bloß mit meinen Geranien los?”
Pamela starrte ungläubig
auf die zwei Pflanzkästen, die am Balkongeländer hingen. Ihr Inhalt
bot ein trauriges Bild. Viele Blätter wiesen statt eines satten
Grüns ein kränkliches Braungrün auf. Bei einigen waren die Ränder
gelb eingefärbt; manche waren sogar eingerollt. Auf dem Balkonboden
lagen abgeworfene Blütenblätter, die von ausgedünnten
Blütenständen herabgefallen waren.
Pamela, eine attraktive
Blondine in ihren frühen Dreißigern, trat näher und nahm die
Pflanzen in Augenschein. Ein Blick auf die Blattunterseiten
bestätigte das, was sie schon vermutet hatte. Ihr hübsches Gesicht
verzog sich zu einem Ausdruck des Widerwillens.
“Ich
habe es ja geahnt”, rief sie aus. “Ungeziefer!”
Als sie sich umdrehte, hätte
sie fast ihrem Sohn, Samuel, auf die Füße getreten, der, von ihr
unbemerkt, durch die offene Balkontür gekommen war und nun
unschuldig grinsend hinter ihr stand. Er war blond wie seine Mutter
und seine blauen Augen blitzten verschmitzt.
Samuel war acht Jahre alt
und brennend an allem interessiert, was um ihn herum vor sich ging.
“Darf
ich das Ungeziefer auch mal sehen?” fragte er neugierig.
“Na
gut, komm her, Junior!” lud sie ihn ein, während sie sich wieder
zum Blumenkasten wandte, eines der Blätter ergriff und die
Unterseite mit spitzen Fingern nach oben drehte.
Samuel trippelte näher und
betrachtete aufmerksam, was vor seinen Augen lag. Auf der
Blattunterseite verstreut befand sich eine Anzahl von
schwärzlich-grünen Tierchen; an den Blumenstängeln hingen sie
schon in dichten Trauben.
“Was
ist das?” fragte Samuel.
“Blattläuse!”
stellte Pamela mit deutlichem Abscheu in der Stimme fest.
“Und
was machen die?”
“Sie
fressen meine schönen Geranien auf!” war die erzürnte Antwort.
“Haben
die denn Zähne?” wollte Samuel wissen.
“Nicht
direkt”, meinte Pamela zu ihrem Sohn. “Sie haben einen Rüssel am
Kopf, den bohren sie in die Pflanze und saugen sie aus. Die Pflanze
wird dann welk, die Blätter werden braun und die Blüten fallen ab
und am Ende geht die Pflanze jämmerlich ein. Schau dich bloß einmal
um, wie es hier aussieht! Alles braun und verwelkt! Meine schönen
Geranien!”
“Uaaah”,
meinte der Junge und schauderte zusammen. “Genau wie bei den
Vampiren, die einem das Blut aussaugen! Was machen wir da bloß?
Kruzifixe in die Blumenkästen stecken, damit die Vampire abhauen?”
Pamela verzog gegen ihren
Willen belustigt das Gesicht, doch wich dessen Ausdruck gleich wieder
grimmiger Entschlossenheit.
“Das
wird wohl kaum etwas helfen”, belehrte sie ihren Sohn.
“Insektenspray dürfte da eher angebracht sein! Wenn mich nicht
alles täuscht, so haben wir im Keller . . .”
Sie wurde von einer lauten
männlichen Stimme unterbrochen, die aus dem Wohnzimmer erscholl. Das
war Samson, ihr Mann, auch als der “große” Sam bekannt. Samuel
war der “kleine” Sam, wurde aber von den beiden Eltern meistens
nur mit “Junior” angesprochen.
“He,
Junior!” rief die Stimme aus dem Wohnzimmer. “Komm schnell! Sie
zeigen gerade wieder das fremde Raumschiff!”
Blitzschnell verschwand
Samuel im Wohnzimmer und nahm neben seinem Vater auf dem Sofa Platz.
Dieses Möbelstück stand so, dass man frontal auf den riesigen
Fernseher schaute, der an der gegenüber liegenden Wand befestigt
war.
Samson, der Vater, war
muskulös und untersetzt, man sah ihm aber bereits an, dass er ganz
gerne des Öfteren dem Getränk zusprach, das sich in der Flasche in
seiner Hand befand: einem leckeren Bierchen. Er nahm einen Schluck,
legte seinen kräftigen Arm um die Schultern seines Sohnes, und beide
widmeten sich gespannt dem Nachrichtenbeitrag, der gerade lief.
Der Bildschirm an der Wand
zeigte das ihnen bereits bekannte Bild eines wegen der großen
Entfernung zur Kamera hin- und herschwankenden, unregelmäßig
geformten Objekts, das aussah wie ein länglicher Gesteinsbrocken mit
Verdickungen an beiden Enden.
Die Stimme des
Fernsehsprechers kommentierte dazu: “Nachdem der kosmische Wanderer
vor zwei Tagen seine Geschwindigkeit stark verringert hat und in eine
stabile Umlaufbahn um die Erde eingeschwenkt ist, kann es keinen
Zweifel mehr geben, dass es sich bei der ‘Hantel’, wie sie von
den Astronomen aufgrund ihrer Form getauft wurde, um das Werk eines
intelligenten Urhebers handelt. Mit größter Wahrscheinlichkeit ist
davon auszugehen, dass sich an Bord des – wie man nun sagen muss –
interstellaren Raumschiffes intelligente Lebewesen befinden.”
“Diese
Viecher fressen meine Geranien auf!” rief Pamela erzürnt
dazwischen, die mittlerweile ebenfalls im Wohnzimmer stand, aber nur
einen kurzen Blick auf den Fernsehschirm geworfen hatte. “Da muss
etwas geschehen! Ich gehe mal eben
in den Keller!”
Samson und Samuel legten den
Kopf zur Seite, als Pamela auf ihrem Weg zur Wohnzimmertür das
Fernsehbild verdeckte.
“Alle
Versuche, mit der ‘Hantel’ Kontakt aufzunehmen, sind bisher
leider gescheitert”, fuhr der Sprecher fort. “Keiner kann daher
genau sagen, welche Art von Lebewesen sich an Bord befinden mögen
oder wie sie aussehen.”
“Riesenblattläuse!”
entfuhr es Junior unwillkürlich.
“Durchaus
möglich”, entgegnete
sein Vater schmunzelnd.
“Aber dass es Blattläuse sind, wollen wir doch nicht hoffen! Die
würden sich vermutlich auf unsere eh schon arg gebeutelten Wälder
stürzen und sie auffressen. Was wäre das für eine Katastrophe!”
“Nicht
auffressen”,
sagte Junior, der gerade etwas gelernt hatte. “Sie würden sie
aussaugen mit ihren Riesenrüsseln! Uiuiuiui!”
“Na,
mach dir mal keine Sorgen”, beruhigte ihn sein Vater. “Komm,
schauen wir weiter.”
Fernsehbild und Thema hatten
sich aber mittlerweile geändert. Der Schirm zeigte eine dicke
Limousine, die vor einem Gebäude mit einer breiten Eingangstreppe
vorfuhr, wo mehrere offiziell aussehende Männer in Anzügen bereits
warteten. Auf der Seite neben dem Fahrer stieg ein kräftig gebauter
Mann aus, ging zwei Schritte nach hinten und öffnete die zweite Tür
auf der Beifahrerseite. Ein korpulenter Mann mit spärlicher Frisur,
die im gerade herrschenden Wind leicht flatterte, stieg aus und wurde
mit einer Verbeugung begrüßt. Dann erklomm er mit seinem Gefolge,
das auf ihn gewartet hatte, die Teppenstufen.
Eine Frauenstimme
kommentierte dazu: “Die Vertreter der wichtigsten Industrienationen
trafen sich heute erneut in Rio de Janeiro mit den Regierungschefs
des süd-amerikanischen Kontinents, um über mögliche Maßnahmen zur
Rettung des Amazonischen Regenwaldes zu beraten. Massive
Flächenbrände drohen die sogenannte ‘Grüne Lunge’ der Erde
endgültig und unumkehrbar in eine Steppe zu verwandeln.”
Bilder von halb verkohlten
Baumstümpfen mit züngelnden Flammen im Hintergrund unterstrichen
die Aussage.
Der Kommentar ging weiter:
“Bisher konnte noch keine Einigung erzielt werden. Die Länder
Südamerikas bestehen darauf, dass Brandrodungen unverzichtbar seien,
um ihre wachsende Bevölkerung zu ernähren. Auf die unverhohlene
Drohung der USA mit einem militärischen Eingreifen verließen
sämtliche Delegationen Südamerikas unter Protest das
Sitzungsgebäude. Ein Zeitpunkt zur Fortsetzung der Gespräche kann
momentan . . .”
Plötzlich zeigte das
Fernsehbild wieder das Raumschiff und die aufgeregte Stimme des
männlichen Sprechers von vorhin war zu hören.
“Beim
kosmischen Wanderer tut sich etwas! Es hat den Anschein als käme es
bald zu einer ersten Kontaktaufnahme. Eine Art ‘Fliegende
Untertasse’ ist soeben ausgetreten. Sie sehen jetzt Bilder, die vor
wenigen Minuten aufgenommen wurden, während das Raumschiff sich von
Osten kommend dem Luftraum Deutschlands näherte.”
Auf der verwitterten
Außenhaut der ‘Hantel’ bildete sich ein dunkler runder Fleck,
aus dem gleich darauf ein metallisch reflektierendes, einer Scheibe
ähnelndes Objekt hervortrat. Es schien langsam nach unten zu fallen,
ebenfalls im gleichen Takt wie das Fernsehbild schwankend, so dass
außer einem silbernen Blitzen keine weiteren Einzelheiten zu
erkennen waren.
Die Stimme des Kommentators
fuhr fort. “Bald werden vermutlich einige der drängenden Fragen,
die uns in den letzten Tagen beschäftigt haben, eine Antwort finden.
Lassen Sie sich im Übrigen nicht durch die geringen Abmessungen des
Objekts auf Ihren Fernsehschirmen täuschen. Aufgrund von Messungen
weiß man bereits, dass die ‘Hantel’ etwa fünfzig Kilometer lang
ist. Das heißt, die winzige Scheibe auf Ihren Schirmen kann durchaus
einen Durchmesser von mehreren hundert Metern haben. Auch ihre
Geschwindigkeit dürfte recht beachtlich sein.”
Das Fernsehbild sprang
erneut und die Stimme des Sprechers überschlug sich beinahe, als er
feststellte: “Ein zweites Flugobjekt tritt soeben aus und nimmt
Kurs auf die Erde. Sie sehen jetzt wieder aktuelle Live-Bilder vom
Geschehen. Nach Tagen des Wartens kommt nun Bewegung in die Sache. Wo
werden diese zwei – nein, jetzt sind es bereits drei! – Flugobjekte
landen? — Wie wir gerade hören, ist anhand der geschätzten
Sinkgeschwindigkeit und der bekannten Umlaufbahn damit zu rechnen,
dass die Flugobjekte irgendwo im Großraum Frankfurt, vielleicht
sogar in der Metropole selbst niedergehen werden.”
In der Abschlusstür ging
ein Schlüssel und gleich darauf betrat Pamela wieder das Wohnzimmer,
in der einen Hand triumphierend eine Spraydose schwenkend. In der
anderen Hand baumelten ein Paar Latex-Handschuhe, eine Schutzbrille
und ein Mundschutz. Zielstrebig ging sie zum Balkon.
Samuel und Samson beugten
wieder den Kopf zur Seite, als sie vor dem Fernseher vorbeiging; eine
vierte Silberscheibe verließ gerade das Mutterschiff.
Samuel sprang aber sofort
auf und folgte seiner Mutter zum Balkon.
“Mama,
Mama!” rief er aufgeregt und erzählte seiner Mutter, was sich
gerade auf dem Fernsehschirm zutrug. “Und sie landen in Frankfurt,
haben sie gesagt. Da wohnen doch wir! Vielleicht kriegen wir sie
sogar zu sehen!”
Pamela ließ sich nicht
beunruhigen. “Warten wir mal ab”, meinte sie. “Ich habe gerade
Wichtigeres zu tun.”
Sie streifte den Mundschutz
über. Dann zog sie die Schutzbrille auf und legte die Handschuhe an.
“Kriegen
die ekligen Blattläuse jetzt ihr Fett weg?” fragte Junior.
“Worauf
du dich verlassen kannst!” sagte seine Mutter mit
etwas
dumpf
klingender
Stimme,
aber mit Nachdruck.
Pamela packte ihren Sohn bei
der Schulter.
“Und
du gehst jetzt bitte zur Balkontür und traust dich keinen Schritt
weiter! Das ist Gift, was ich hier gleich versprühe. Oder willst du
jämmerlich verenden wie dieses Ungeziefer?”
Samuel tat zwar, wie ihm
geheißen, maulte aber: “Und wenn ich jetzt verpasse, wie die
Fliegende Untertasse landet?”
“Keine
Widerrede!” Pamela drehte sich noch einmal um und drohte mit dem
Zeigefinger. “Du bleibst da stehen, bis ich fertig bin!”
Sie beugte sich über die
Blumenkästen und begann damit, die Pflanzen darin mit einer Abfolge
von Sprühwolken aus ihrer Spraydose einzunebeln. Schließlich
richtete sie sich zufrieden auf und trat einen Schritt zurück, um
ihr Werk zu betrachten.
Ein bedrohlicher Schatten
fiel auf ihren Rücken. Samuel schaute nach oben und seine Kinnlade
fiel nach unten.
Über den Dachrand des
Wohnblocks, in dem die Familie lebte, schob sich gemächlich in
einigen Metern Entfernung die dunkle metallische Unterseite eines
riesigen Flugkörpers, so riesig, dass sich seine Vorderkante in
einer fast gerade aussehenden Linie nach links und rechts über die
wie Bauklötzchen angeordneten Häuser der Wohnsiedlung erstreckte.
Schier endlose Reihen von
pechschwarz aussehenden Löchern wurden nach und nach sichtbar. Sie
waren das Einzige, was an Struktur zu erkennen war; sonst war das
Metall vollkommen glatt.
Alles vollzog sich mit fast
völliger Lautlosigkeit, nur ein leises Zischen war zu vernehmen. Ein
feiner Nebel und ein süßlicher Geruch lagen in der Luft.
“Das
Raumschiff!” wollte Samuel ausrufen, aber er brachte keinen Ton
heraus.
Im Wohnzimmer überfiel den
immer noch vor dem Bildschirm sitzenden und den Ausstoß einer Unzahl
von Silberscheiben beobachtenden Vater plötzlich eine unerklärliche
Angst, die ihm die Kehle zuzuschnüren schien.
Er brauchte Luft!
Er stellte die Bierflasche
beiseite, erhob sich und schwankte zur Balkontür.
Dort erwartete ihn ein Bild
des Schrecken. Seine Frau hing wie eine Schlenkerpuppe mit dem
Oberkörper über den Blumenkübeln und rührte sich nicht. Sein Sohn
saß, an den Balkonrand gelehnt, bewegungslos auf dem Boden und
starrte mit toten Augen ins Leere. Über allem hing der monströse
Schatten des außerirdischen Fluggerätes.
Tot! Sie sind tot!dachte Samson. Sie töten uns einfach. Warum machen
sie das? Was haben wir ihnen getan?
Seine Hände fuhren
verzweifelt an seine Kehle. Doch es nützte nichts. Seine Lungen
gehorchten ihm nicht mehr; sie waren gelähmt. Sein Herz hatte
aufgehört zu schlagen.
Langsam sank er wie ein Sack
zu Boden. Über ihm zog das fliegende Metallungetüm weiter in
Richtung Westen.
Etwas wie Bitterkeit
überfiel ihn, während ihm allmählich die Sinne schwanden.
Was hatte sein Sohn gesagt?
Vor seinem geistigen Auge erschien das groteske Bild einer
Riesenblattlaus, welche die Kontrollhebel eines Kommandostandes
bediente.
Marco Rauch, 1984 geboren, lebt und arbeitet in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Er hat bereits während der Schulzeit erste Kurzgeschichten und längere Erzählungen geschrieben. 2013 Veröffentlichung des Romans “Hard Boiled” im Koios Verlag, ausgezeichnet mit dem Encouragement Award bei den ESFS-Awards 2014 der European Science Fiction Society. 2016 erschien die Kurzgeschichte “Willkommen in Wien” in Stadtform, Band 3 / 2016, zum Thema „Apokalypse“.
Wenkmann marschierte über das leere Rollfeld. Hillström, so hieß sein Raumschiff, stand einsam und alleine auf weiter Fläche. Und irgendwie kam es ihm so vor als würde er seinen Kopf hängen lassen. Also, in dem Fall wohl eher das Cockpit. Die alten, verrosteten Raumschiffe und Flugzeuge waren einfach nicht die richtige Gesellschaft für Hillström, war er doch selbst nur ein paar Jahrhunderte alt und somit eben erst ein Teenager.
Die Eingangstür öffnete sich. Hillström stieß einen traurigen, resignierten Seufzer aus. Obwohl es Furcht einflößend aussah, mit seinem knöchernen Exoskelett fast wie ein riesiger animalischer Totenkopf und dem düsteren Cockpit-Auge als Steuerzentrale, das in der Finsternis des Weltalls meist rot glühte und wie ein Unheilbringender Teufel aus dem Nichts auftauchte, war sein Schiff im Kern, also im Inneren seines Wesens so wie viele Teenager: melancholisch, mit Hang zum Weltschmerz, sich unverstanden fühlend und nur auf eines fokussiert. Sex. Rund um die Uhr. Auf jede nur erdenklich Weise.
„Hätten wir nicht nach Stimulacrum Drei fliegen können?“ Hillström hatte eine wohltuende, angenehme, überaus menschliche Stimme.
„Die hätten sich über unseren Besuch nicht gefreut. Das letzte Mal hast du alle C-Beams vor dem Tannhäuser Tor gefressen.“
„Aber die waren gemein zu mir.“ Zu Hillströms Verteidigung musste man einwerfen, dass er bei dem Parkplatz vor dem Tannhäuser Tor noch im Kindergartenalter gewesen war und seine eigene Kraft noch nicht richtig hatte einschätzen können.
„Fliegen wir in die Stadt. Im Prater gibt es vielleicht was für dich.“
Hillström versuchte es zwar zu verbergen, aber Wenkmann waren die zahlreichen Pornos natürlich aufgefallen, nach denen sein Schiff geradezu süchtig war. Kaum lag Wenkmann im Tiefschlaf, ja, manchmal sogar dann, wenn er nur kurz den Kopf von einem Bildschirm wandte und vielleicht sogar jetzt auf einem der abgedrehten Monitore, lief ständig ein Porno. Raumschiffe, interplanetarische Züge, sogar Autos, die es miteinander trieben. Da wurde an Stoßstangen geleckt, an Auspuffen gelutscht, Schaltkreise massiert, Maschinenflüssigkeit auf Cockpit-Scheiben gespritzt. Das wildeste Zeug. Alles was man sich nur vorstellen oder in manchen Fällen gar nicht vorstellen konnte.
Zu sagen der Prater war ein Reinfall, wäre eine Untertreibung gewesen. Hillström war nach seiner Orgie mit Geisterbahnen, dem Riesenrad und sogar den menschlichen Männern und Frauen, die gerade das Pech hatten dort zu sein, alles andere als befriedigt. Es war aber weniger Trotz oder Enttäuschung, die ihn deshalb den Prater, also die Maschinen und Menschen, zerstören ließ, es war vielmehr seine Natur und die Art seiner Fortpflanzung, die dazu führte. Wenkmann wusste das. Der arme Vergnügungspark leider nicht. Die Assimilation mit anderen Wesen und Maschinen war nun mal integraler Bestandteil von Hillströms Art Sex zu haben. Doch der Prater war zu schwach um seiner Lust standzuhalten.
„Na ja. Das war wohl nichts.“ Wenkmann kratzte sich am Kopf und betrachtete das Trümmerfeld vor sich.
Hillström landete neben ihm. „Ich hoffe du hast noch andere Vorschläge.“
„Natürlich. Massenhaft.“ Das Kratzen wurde stärker und schneller. „Keine Sorge. Das war nur der Anfang.“
Wenn Hillström Augenbrauen hätte, die er skeptisch in die Höhe ziehen könnte, würde er das jetzt tun, denn seinen Sensoren entging nicht die Nervosität, die das Kratzen und auch die leicht zittrige Stimme Wenkmanns verrieten.
„Nun?“ Hillström öffnete den Einstieg. „Wohin?“
Langsam schritt Wenkmann die viel zu kurze und kleine Rampe hinein und musste sich schleunigst etwas überlegen. Nur ungern wollte er mit einem wütenden, unbefriedigten Schiff im Tiefschlaf durchs Weltall fliegen. Wenkmann wollte sich gar nicht ausmalen, was da alles passieren könnte.
Doch zum Glück waren die Trümmer des Praters die Rettung. „Zum Schrottplatz.“
„Schrottplatz?“
„Als wir her geflogen sind, hab ich einen gesehen. Straßenbahnen und Busse, so viele du willst.“
„Besser als ein Stein im Getriebe.“
Wenkmann schauderte. Leider kannte er auch diese Art Pornos. Maschinen, die sich gegenseitig Steine, manche Sternenkreuzer sogar ganze Gebirge, in Antriebswellen und Getriebe schoben und befriedigt seufzten. Sich gegenseitig mit Scheibenwischer auspeitschten und mit Sprengsätzen kitzelten und verletzten, nur um durch den Schmerz Lust zu empfinden.
Die alten selbstfahrenden Straßenbahnen und Autobusse waren längst nicht mehr auf dem neuesten Stand der Dinge und deshalb eingerostet wenn es um flirten, One-Night-Stands und schmutzigen Sex ging. Dank seines kräftigen, imponierenden Äußeren war kein einziger männlicher Konkurrent vorhanden, der es mit ihm aufnehmen konnte. Hillström standen alle Bahnen und Busse, die wollten – und es wollten alle – zur freien Auswahl. Wobei er gar keine Wahl traf. Hillström nahm sie alle.
Zum Glück war er geduldig genug die Menschen, die in den Bahnen und Bussen hausten, aussteigen zu lassen. Mit dem Leben davonzukommen war ein guter Trost, Angesichts der Tatsache, dass sie soeben ihr Zuhause im Verlauf einer sexuellen Maschinen-Orgie verloren.
„Tut mir Leid.“ Wenkmann wischte sich einen Ölspritzer aus dem Gesicht. Er hoffte es war nur Öl und nicht eine der anderen Maschinenflüssigkeiten deren Herkunft kein Mensch kennen wollte.
„Was man nich’ alles tut um seine Maschinen glücklich zu machen, nich’?“, sagte ein junger Mann neben Wenkmann.
„Wem sagen Sie das. Wirklich, es tut mir Leid.“
„Schon gut. Wissen Sie schon, wo’s hingeht, wenn ihm das nich’ reicht?“
„Keine Ahnung.“ Wenkmann wich einem vorbeifliegenden Motorblock aus. Jetzt wurde es richtig schmutzig. „Haben Sie eine Idee? Bitte, ich wär für jeden Vorschlag dankbar.“
„Versuchen Sie’s mal damit. Is’ zwar nur ne’ Legende, aber wer weiß.“ Der junge Mann reichte Wenkmann ein Prospekt von einer sogenannten U-Bahn. Kurz bevor der Großteil der Menschheit die Erde verlassen hatte, war in Wien das Projekt zur neuen Linie U69 in Gang gesetzt worden. Zwei Züge sollten die ganze Linie abfahren. Neue, moderne Antriebssysteme, intelligente Steuerung und ein erotisches, rotes, spärlich bekleidetes Äußeres. Der männliche Zug wurde im Chaos der Zerstörungen auf der Erde vernichtet. Nur die weibliche U69 blieb übrig, die jetzt noch immer einsam und alleine im Untergrund ihr Dasein fristen soll und ihre Runden durch die Tiefen der Stadt zog.
Kaum sah Hillström das Bild der U69 war es um ihn geschehen. Vergessen war das durch Wien wandernde Haus des Meeres oder der zum Leben erwachte Folterkeller. Jetzt zählte nur mehr die U69, all seine sexuellen Fantasien projizierten sich auf diese eine U-Bahn.
Einen Einstieg in den Untergrund zu finden war nicht schwer. Hillström hatte genug Feuerkraft um einen ganzen Planeten in Schutt und Asche zu legen, dabei sollte man meinen, dass er nach all den Orgien etwas ausgelaugt wäre. Eine wohl platzierte Sprengung später und schon gab es einen Raumschiffgroßen Eingang in den Untergrund. Dass die beiden umstehenden Gebäude dabei auch in Mitleidenschaft gezogen wurden, tat Hillström mit einem beiläufigen Schulterzucken – sofern er Schultern zum Zucken gehabt hätte – ab.
Wenkmann und Hillström flogen durch die finsteren Tunnel. Teile lagen unter Wasser. Andere Teile waren von schick und prunkvoll gekleideten Reichen bewohnt, die aus Wien verstoßen wurden, weil sie einfach zu anders, sprich zu normal für die mutierte Oberwelt waren und deren Vorfahren es damals nicht mehr rechtzeitig vom Planeten geschafft hatten.
Plötzlich war sie da. Die U69 jagte aus einem Tunnel an ihnen vorbei. Sie funktionierte offensichtlich einwandfrei und legte ein mörderisches Tempo vor. Hillström schwenkte so schnell um, dass Wenkmann im Cockpit durch die Luft flog, und raste der U69 hinterher.
In den dunklen, labyrinthischen Tunneln verlor Hillström seine Angebetete aus dem Auge. Ihre feine Spur lag noch in der Luft, aber sie hatte ihren Verfolger abgeschüttelt.
Wenkmann nahm das alte Prospekt zur Hand. Darauf war ein Plan der Linie eingezeichnet.
„Flieg da lang.“ Er deutete in den Tunnel zu ihrer Linken und beschrieb Hillström den Weg, bis sie die U69 wieder vor sich hatten, doch diesmal standen sie und die U-Bahn sich gegenüber und starrten sich an.
Hillström öffnete die Eingangstür. „Du willst aussteigen.“
Wenkmann sah sich um. „Was. Hier? Hier sind überall Ratten und Reiche.“
„Was hier gleich passiert, das würdest du nicht überleben, wenn du in mir bleibst.“
„Gutes Argument.“ Wenkmann stieg aus.
„Gleich neben dir ist ein Aufgang. Warte oben auf uns.“
Das letzte was Wenkmann sah, ehe er sich wieder an die Oberfläche rettete, war ein wildes Durcheinander an Einzelteilen. Hillström öffnete seine Form, damit die U69 direkt, quasi mit dem Kopf voran, in ihn eindringen konnte. Kaum war sie in ihm, schloss Hillström sich und das Spektakel nahm seinen, für alle die im näheren Umkreis stehen würden, tödlichen Verlauf.
Oben spürte er nur die Erdbeben unter sich, die Hitze von aneinander reibenden Metall- und Maschinenteilen, die durch den alten Beton nach oben drang, hörte im wahrsten Sinne die Funken sprühen und die lauten, kreischenden Geräusche der Gleise, die wohl auch irgendwie in das Liebesspiel mit eingebunden wurden. Und dann Stille.
Wenkmann aktivierte die implantierte Funkverbindung zu Hillström.
„Du bist nicht von hier?“ Hörte er eine leise, liebliche und ohne Zweifel weibliche Stimme.
„Nein. Ich komme von den Sternen.“
„Da würde ich gerne mal hin. Hier unten ist es so einsam und trostlos.“
„Kein Problem.“
Wenkmann stellte sich die beiden da unten vor, wie sie Arm in Arm nebeneinander auf den lauschigen, kalten und harten Gleisen lagen, eng aneinandergeschmiegt genüsslich eine Zigarette teilten und über eine gemeinsame Zukunft redeten.
„Wann denn?“
„Wenn du willst gleich.“
Was? Wenkmann wurde hellhörig.
Zu spät. Da brach der Beton vor ihm auf. Hillström, nun in schickem Rot und mit nicht mehr ganz so bedrohlichem Exoskelett, sondern einem, das durchaus weibliche Rundungen besaß, kam aus der Öffnung im Boden. Das Raumschiff war größer geworden. Es war nicht mehr so männlich und phallisch wie Wenkmann das gewohnt war und durchaus gemocht hatte, das verlieh seinem Auftreten stets eine gewisse Potenz, die sein fleischlicher Körper nie auszudrücken vermochte. Stattdessen war Hillström nun mit der U69 vermischt, nicht nur was Farbe und Form betraf, sondern auch im Inneren. Beide Maschinen, also ihr jeweiliges Bewusstsein, war nun eins.
Wenkmann freute sich für Hillström. Jetzt war er befriedigt und auf den langen Reisen durchs Weltall, wenn Wenkmann seine Zeit im Tiefschlaf verbrachte, nicht mehr einsam. Ja, darüber freute er sich.
Weniger freute er sich darüber, dass Hillström und die U69 ihn einfach in Wien zurückließen, während die beiden Turteltauben ins Weltall flogen.
ENDE
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