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Story: „Ranya stürzt ab“ von Lisa Jenny Krieg
Lisa Jenny Krieg ist Ethnologin und forscht als Postdoktorandin an den Universitäten Bonn und Jerusalem zum Thema Mensch-Natur-Technologie-Beziehungen im Anthropozän. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter, und Katze Lila in einem kleinen Dorf in der Wüste im Süden Israels.

„Scheiße! Verdammte Scheiße!“
Ranya kickte gegen den Kotflügel. Seit einer halben Stunde versuchte sie nun schon das Ornithomobil zu reparieren. Aber es war einer dieser Tage, an denen nichts klappte. Und inzwischen war dieser Tag zur Nacht geworden.
Sie versuchte, das Mutationstriebwerk neu zu starten, aber ihre improvisierte Verbindung hielt dem Druck nicht stand. Das Kabel riss, und ein Schwall blauer Flüssigkeit explodierte ihr ins Gesicht.
„Verdammter Mist!“
Sie kickte noch einmal nach, bis ihr Ornithomobil empört krächzte, und den Kopf zu ihr umdrehte.
„Schon OK, Zehnzwo,“ sagte sie. „Ich hab’s nicht so gemeint.“
Sie streichelte ihm über die schwarzen Federn und den großen, schwarzen Schnabel. Im Licht des Vollmonds glänzte der ganze Vogel blau.
Zehnzwo schnurrte.
„Genau, so ist’s gut, braver Vogel,“ murmelte Ranya.
Der Absturz war ein würdiges Ende für einen miesen Tag. Sie hatte nichts erreicht, und das trotz sorgfältiger Planung. Die Karte stimmte, sie war sich sicher. Und trotzdem hatte sie auf der Grünspitze nichts gefunden. Außer einer Schar wütender Leguan-Kriegerinnen auf dem Gipfel-Plateau, die beinahe für das Ende ihrer Reise gesorgt hätten. Sie trafen Zehnzwo äußerst ungünstig am Mutationstriebwerk, natürlich genau an dem Kabel, das sie gestern nicht ordentlich geflickt hatte.
Den ganzen Tag hatte sie mit der Suche verbracht, und sicherlich wartete Manna schon zu Hause mit vor Aufregung zitternden Händen.
Sie hatte es natürlich auch nicht lassen können, vor Manna groß herum zu erzählen, dass sie einen todsicheren Hinweis zu einem absolut zuverlässigen Händler hatte, der eine Karte hatte! Eine echte, originale, handgefertigte, Tinten-gemalte Karte mit allen Verstecken, allen! Verstecken! Von Lilienthals letzten Vorräten an Diglaster poreus. Und dass sie als erfolgreiche Späherin, mehrfach ausgezeichnet, sie mit Sicherheit finden würde.
Und jetzt saß sie hier in dieser Wüste, in einem Tal, umrundet von Bergen, die komische Schatten im Mondlicht warfen. Mit Zehnzwo, dessen Federn vor Erschöpfung zitterten, und dessen Mutationstriebwerk. Einfach. Nicht. Funktionierte!
Sie warf die Zange auf den Boden und fluchte.
In den Libellennestern in den überhängenden Felsen zehn Meter über ihnen brannte noch flackerndes Licht.
Ranya bildete sich ein, ein Kichern zu hören. Das fehlte ihr gerade noch. Sie hielt still und lauschte. Zehnzwo quietschte, als er von einem Bein aufs andere trat.
Und dann hörte sie schwirrende Flügel und ein Kichern, das näherkam. Ranya schloss die Augen für einen Moment, und atmete tief durch.
Klonk.
Ein Tippeln auf Blech.
Dann ein Krächzen und Quietschen, als Zehnzwo versuchte, die Libelle, die auf ihm gelandet war, los zu werden. Zehnzwo mochte die besserwisserischen Insekten so wenig wie sie.
„Bruchlandung, was? Musste wohl noch mehr üben!“ summte die Libelle, und brach in schallendes Gelächter aus.
„Haha, sehr witzig,“ brummte Ranya.
„Warum so schlechte Laune? Probleme bei der Reparatur?“ Ranya sah die Schadenfreude in ihren vom Mondschein beleuchteten Facettenaugen.
„Nein, nein. Alles bestens,“ sagte sie durch zusammengepresste Zähne.
„Mmmh. Lass mal gucken.“
Die Libelle flog los und riss ihr mit flinken Händen den Schraubenzieher aus der Hand, und landete in der Vertikalen an Zehnzwos Seite, genau auf dem Mutationstriebwerk.
„Hey, nein!“
Ranya wedelte mit den Händen durch die Luft um die Libelle zu verscheuchen, und holte gerade zu einem gezielten Schlag aus, als das Triebwerk zu spucken begann, und Funken spritzte.
„Was hast du hier nur getrieben?“ surrte die Libelle, und schüttelte den Kopf.
„Gar nichts! Ich habe nur versucht, das Ausgangskabel mit dem Elementarverstärker zu verbinden, damit -“
„Dumme Idee! Sehr dumm!“
Mit flinken Händen schraubte die Libelle im Triebwerk herum, und nahm ihre Mundwerkzeuge zu Hilfe.
Zehnzwo hatte entspannt die Federn aufgestellt, und begann zu glucksen. Ranya nahm das als Zeichen, dass die Libelle irgendetwas richtig machte. Was soll’s. Dann ließ sie sich eben von einer Libelle helfen. Sie atmete geräuschvoll aus. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt.
Über ihnen hatten sich die letzten Wolken verzogen, und die Abendsterne leuchteten hell.
Bald würden sich die Nachtblumen öffnen. Ranya seufzte. Wieder einen Zyklus vergeudet. Wieder kein Diglaster poreus für Manna. Und wieder keine Transspeziation für sie, oder für irgendjemand anderen in Klippe.
Die Zeremonie war überfällig. Sie brauchten dringend neue Späherinnen. Und ihre nächste Einweihung stand kurz bevor. Stand genau genommen schon seit zwei Zyklen kurz bevor. Was sie dafür geben würde, endlich ein Herpetomobil zu fliegen! Einer der purpurnen Pterodactyli vielleicht…
Sie seufzte, wischte sich die Haare aus der Stirn, grau mit Staub und schweißverklebt, band sie zu einem Pferdeschwanz, und schnürte ihre Jacke zu. Der Wind war kalt geworden.
Die Libelle surrte und arbeitete so schnell an Zehnzwos Mutationstriebwerk, dass Ranya den Überblick verlor darüber, was dort genau vor sich ging. Sie ärgerte sich jetzt schon darüber, dass sie bestimmt später ratlos in der Werkstatt stehen würde, und ihr eigenes Ornithomobil nicht mehr verstehen würde, zum Spott von ganz Klippe. Aber sie hatte keine Energie mehr.
Sie schloss die Augen, und atmete den Geruch von Sand, Nacht, und Wüstenblumen ein, und langsam wieder aus. Ihr Rücken tat weh, und ihre Handgelenke beschwerten sich.
Eine leise Melodie bestätigte, was sie schon geahnt hatte. Die Nachtblumen öffneten sich. Mit den immer gleichen fünf Tönen, mal langsam, mal schnell, wuchsen die Blumen aus dem Sand in mehrere Meter Höhe.
„Weg da!“ schrie die Libelle ihr gerade noch zu, und mit einem Satz zur Seite rettete sich Ranya gerade noch davor, von einer der durch den Boden stoßenden Blumen in fünf Meter Höhe getragen zu werden.
Sie schüttelte sich. Sie musste schlafen. Und essen. Aber nicht hier. Hier musste sie sich zuallererst zusammenreißen.
Um sie herum hatten sich zehn, zwölf singenden Blumen in die Höhe geschraubt. Schwarze, samtige Blütenblätter falteten sich auf, und jede einzelne Blüte drehte sich langsam dem Mond zu. In ihrer Mitte zeigte sich eine schwarze, glänzende Perle, pulsierend mit reflektiertem Mondlicht.
Die Libelle dreht sich kurz nach den Blumen um, zischte, und wandte sich wieder Zehnzwo zu. „Ungeziefer!“ brummte sie.
Wie auf ein lautloses Kommando explodierten die Perlen aller Nachtblumen gleichzeitig. Die Melodie, die von ihnen ausging, wurde kurz lauter, dann verstummte sie. Und Tausende und Abertausende von Samen, leuchtend wie Glühwürmchen, flogen durch den Nachthimmel. Das war’s, hiermit war es offiziell Asten. Ba war vorbei. Vergangenheit. Ein weiterer Zyklus.
„Wunderschön,“ entfuhr es Ranya, und sie schlug sich sofort die Hand über den Mund. Sie war wirklich nicht mehr konzentriert. Die Libelle brach in Lachen aus.
„Bist wohl noch nicht viel rumgekommen,“ kommentierte sie.
Ranyas Gesicht wurde heiß, aber sie würde sich sicher nicht die Blöße geben, sich jetzt vor der Libelle zu erklären. Sie winkte ab und brummte vage.
„Wo warste überhaupt? Is nich viel, hier.“
„Ach, bisschen den Vogel bewegt,“ sagte Ranya ausweichend.
„Quatsch. Bist ne Späherin, was? Sieht doch jeder.“
Ranya zuckte die Schultern.
„Hast wohl was gesucht?“
„Nee.“
„Ihr sucht doch immer was. Sucht und sucht. Man könnte ja was verpassen.“ Die Libelle schüttelte den Kopf. „Könntet ja auch einfach mal zu Hause bleiben! Unruhiges Volk.“
Leicht gesagt, wenn man Flügel hat, und keine Transspeziation braucht, um fliegen zu können.
Und dann sah Ranya ungläubig, wie blauer Elementarfluid und gelbes Gentranswasser sich im Mutationstriebwerk zu einer violetten Flüssigkeit mischten, blubberten, und leuchteten, während Zehnzwo euphorisch gackerte.
„Wie…?“ begann sie zu fragen, aber sie wollte sich nicht erneut vor der Libelle blamieren, und brach ihre Frage vorausschauend ab.
„Ha, hättste nicht gedacht, was?“ entgegnete die Libelle.
„Also…“ sie zögerte. Zugegeben, Libellen hatten einen schlechten Ruf in Klippe. Im ganzen nördlichen Trockenwald. Vor allem seit dem Vorfall am Grünspitzsee. Mit ihren großen Augen und den Mundzangen sahen sie eben auch nicht sehr vertrauenserweckend aus. Sie konnte Zehnzwos Stimmung weitaus besser lesen, als die jeder Libelle. Und er war ein Ornithomobil!
„Warum…?“ Sie war nicht mehr imstande, in ganzen Sätzen zu reden. Aber die Libelle verstand.
„Ihr denkt eben immer nur das schlimmste,“ surrte die Libelle, „aber weißte was? Wir können auch ganz freundlich.“
Und damit flog sie los, schwirrte Ranya surrend vors Gesicht. Ranya unterdrücke den Impuls, die Libelle wie störendes Ungeziefer wegzuscheuchen, und da war sie auch schon weg, zurück zu den Felsennestern. Wie unzählige kleine Feuer in der Dunkelheit zierten sie die Felswände.
Ranya schüttelte die Müdigkeit von sich. Sie zog ihren Helm auf, griff nach den Zügeln, und stieg auf. Sie presste ihre Füße auf die Transmutationsspiralen. Zehnzwo krächzte, und richtete sich auf. Sein ganzer Körper vibrierte und leuchtete schwarzblau. Er breitete seine gefiederten Schwingen aus, und hob mit einem schwungvollen Satz ab, mitten hinein in den Nachthimmel.
Der Wind blies Ranya ungemütlich ins Gesicht, und sie spürte jeden schmerzenden Muskel. Aber nicht mehr lange. Sie zählte die Sekunden.
Und da kam es. Wie ein Blitz durchfuhr es sie, wie ein elektrischer Schock. Das Transmutationstriebwerk hatte sich warmgelaufen, und die Ekstase setzte ein. Wellen von Wärme durchfuhren ihren Körper. Sie atmete aus, und ließ eine Welle nach der anderen durch ihren Körper fließen. Von ihrer Mitte bis in die Zehen und Fingerspitzen wogten immer schneller, bis sich ihr Körpergefühl ausdehnte und die Grenzen ihres Ichs sich auflösten. Sie war Ranya, sie war Zehnzwo, sie war die Nacht und die Wüste und der Wind und die Weite. Sie war Mensch, Rabe und Maschine. Sie war alle Elemente, und alles was sie verband. Das war es wert, alles, immer wieder und wieder, für diesen Moment.
Ihr Wille war mit Zehnzwo verschmolzen, die Zügel nutzlos geworden. Schnell wie der Wind jagten sie durch die Nacht, Rabenfrau, Robotervogel, gefiederter Cyborgmenschenrabe. Sie wussten beide, wohin es ging.
Nach Hause.
ENDE
Deutscher Science Fiction Preis: Die Gewinner
Soeben wurden die Gewinner des Deutschen Science-Fiction-Preises 2020 bekanntgegeben.
In der Kategorie „beste Kurzgeschichte“ gewann Tom Turtschi mit „Don’t be evil“, erschienen in NOVA 28. Als bester Roman ausgezeichnet wurde „Der Würfel“ von Bijan Moini.
Die weiteren Platzierungen und alle weiteren Infos finden sich auf der DSFP-Homepage.
Wir gratulieren herzlich!
Kurd-Laßwitz-Preis: Die Nominierungen
Nach dem DSFP gibt sich auch der KLP die Ehre: Soeben wurden die Nominierungen für die neueste Ausgabe des Preises bekanntgegeben. Es sind viel zu viele, um alle Kategorien hier aufzuführen, daher verweisen wir schlicht auf die Quelle, sprich, die Webseite:
http://www.kurd-lasswitz-preis.de/2020/KLP_2020_Nominierungen.htm
Neu: „Influence – Fehler im System“ von Christian Linker
Bei dtv bold ist ein Nahzukunfts-Thriller des preisgekrönten Autors Christian Linker erschienen: „Influence – Fehler im System“.

Ausgangssituation des Thrillers ist, dass Infrastruktur und Kommunikation der digitalen Welt zusammenbrechen.
Das Buch ist ab sofort überall zu haben, wo es Bücher gibt (auch als E-Book).
Weitere Infos beim Verlag.
Eine Rezension hier auf dsf ist in Vorbereitung.
Neu: „Qube“ von Tom Hillenbrand
In der Fortsetzung von „Hologrammatica“ begibt sich DSFP-Sieger Hillenbrand erneut in eine bemerkenswerte Zukunft.

London, 2091.
Investigativjournalist Calvary Doyle wird auf offener Straße niedergeschossen. Zuvor hatte der Reporter zum Thema Künstliche Intelligenz recherchiert. Die auf KI-Gefahrenabwehr spezialisierte UNO-Agentin Fran Bittner beginnt in dem Fall zu ermitteln.
Der Journalist besaß anscheinend neue, beunruhigende Informationen über den berüchtigten Turing-Zwischenfall, bei dem die Menschheit die Kontrolle über eine KI verlor. Die KI befand sich seinerzeit in einem Quantencomputer, einem sogenannten Qube. Gibt es womöglich noch einen solchen Würfel, mit einer weiteren digitalen Superintelligenz darin? Und kann Fran Bittner den zweiten Qube finden, bevor jemand auf die Idee kommt, ihn zu aktivieren?
Das Buch ist für 12 EUR (E-Book 9,99) überall erhältlich.
Neu: NOVA 28
Soeben erschienen ist die 28. Ausgabe des deutschen SF-Magazins NOVA.

Die 224 Seiten starke Ausgabe kostet 16,90 (auch als E-Book erhältlich) und ist überall zu haben, wo es Bücher gibt.
Außerdem gibt es im Moment einen Abverkauf älterer Ausgaben zu vergünstigten Preisen.
Alle weiteren Infos finden sich auf nova-sf.de.
Das dsf-Jahrbuch 2019
Pünktlich vor Weihnachten präsentieren wir das erste Jahrbuch von deutsche-science-fiction.de.

Zugegebenermaßen ist es nicht ganz so dick wie das altbekannte „Science Fiction Jahr“, und es ist auch keinesfalls als Konkurrenz gedacht – aber dafür ist es ein bisschen billiger.
Unser Jahrbuch enthält alle seit Ende 2018 auf unserem Portal veröffentlichten Kurzgeschichten (von Uwe Hermann, Frank Hebben, Nadja Neufeldt, S. A. Dürigen, Marco Rauch, L. D. Schenk, Hubert Hug und Tobias Lagemann) – fast alle sind Erstveröffentlichungen. Außerdem bringen wir eine kleine Ansprache des Herausgebers und als Anhang einen Überblick über neu erschienene Romane sowie die diesjährigen Preisträger von DSFP und KLP.
Ursprünglich hatten wir geplant, das E-Book kostenlos abzugeben. Einige Leute merkten aber richtig an, dass so mancher dazu neigt, was gratis ist, auch als wertlos anzusehen. Außerdem werden Gratis-E-Books von Bookrix (unserem E-Book-Dienstleister) nicht bei Amazon gelistet, und es soll Leute geben, die da gelegentlich einkaufen. Daher bitten wir um Verständnis dafür, dass wir für das E-Book den kleinsten möglichen Verkaufspreis von 0,99 Euro gewählt haben. Vom Erlös, der bei etwa 25 Cent pro verkauftem Exemplar liegt, finanzieren wir die Kosten für unser Webportal, das ja ansonsten ein reines Privatvergnügen und Pfenniggrab ist. Falls es einen nennenswerten Überschuss geben sollte, schütten wir den selbstverständlich an die Autoren aus, die ihre Texte eigentlich honorarfrei zur Verfügung gestellt haben. Dafür gilt ihnen natürlich unser besonderer Dank, denn ohne Autoren gibt’s keine Bücher!
Zu haben ist das Jahrbuch überall, wo es E-Books gibt, siehe hier.
Wir wünschen gute Unterhaltung und eine schöne Vorweihnachtszeit!
Neu: „Das Netz der Sterne“ von Andreas Brandhorst
Soeben ist der neue Weltraum-Roman von Andreas Brandhorst erschienen: „Das Netz der Sterne“.

In die unbekannten Weiten des Universums vorzustoßen – das ist der Job der Kartografen bei Interkosmika, dem Konzern, der die interstellaren Reisen zwischen den Sternen kontrolliert. Tess ist eine solche Kartografin, doch nicht freiwillig, denn sie muss bei Interkosmika die Schulden ihrer Familie abarbeiten. Und sie weiß, dass ihre Mission alles andere als einfach wird. Denn ihr Auftrag führt sie in eine Region, aus der noch keiner lebend zurückgekehrt ist … Mit »Das Netz der Sterne« stößt Andreas Brandhorst das Tor zu einer neuen Welt auf – ideal für Brandhorst-Fans und Neueinsteiger!
Verlagstext
Story: „Scoolduell“ von Tobias Lagemann
Tobias Lagemann, 1966 in Dortmund geboren, lebt seit 1989 in Aachen und Umgebung, nach abgebrochenem Germanistik-/Komparatistik-Studium über den Umweg als Junge für Alles (in einem Verlag) endlich bei der Post gelandet. Wird seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht und schreibt sich dabei neugierig durch alle Genres (bis auf Nackenbeißer und Blutsverwandte). Er dankt an dieser Stelle ganz ausdrücklich seiner aufmerksamen Testleserin (mit der er zugleich sehr gerne verheiratet ist).

Hätte ich geahnt, welche Folgen unser Duell in der #Scool haben würde, ich hätte zehn Jahre zuvor nicht mit dem Programmieren begonnen. Das hätte zwar meinen Eltern nicht gefallen, die wünschten sich ja doch wie alle Eltern, dass aus dem Kind mal was Vernünftiges wird, aber wenn es zwischen zufriedenen Eltern und dem Ende der Welt abzuwägen gilt, senkt sich die Waagschale recht schnell in Richtung des eigenen Überlebens.
Aber der Reihe nach und damit zu Bernd und seinem ersten Tag in meiner Klasse. Der musste ein ganz besonders schlauer Junge sein, denn mit seinen gerade mal sieben Jahren würde er mit uns zusammen das Abitur machen. Okay, so besonders ist das nicht, in Bayern beginnen gar nicht mal so wenige Mädchen mit sechs Jahren zu studieren, aber doch etwas besonders Ärgerliches für mich, denn ich war zwölf und musste neben Bernd sitzen. Also jetzt nicht in #Rea, meine Eltern haben mich ja in die #Scool geschickt und da ist alles #Virtu. Das erlaubte mir, dass ich mir die Situation ein gutes Stück erträglicher gestalten konnte. Ein paar kleine Hacks in der ersten Pause und Bernd war mit einem mal ein von Pickeln arg geplagter Nerd von achtzehn Jahren. Den ich meinen Eltern in einer #SilWork-Sequence als Beispiel dafür verkaufte, dass es gar nicht schlimm um mich stand.
»Und du hast da auch nicht etwas Verbotenes gemacht?«, wollte mein Vater wissen.
»Verbotenwas?«
»…tenes.«
»Nee.«
»Es handelt sich also nicht wieder …«
»Das war ich nicht«, schrieb ich. Meine Eltern waren ziemlich nachtragend, sie hielten mir die Sache mit dem arg pornografischen Material vor, das ein #Scool-Mod peinlicherweise als Unterrichtseinheit in Geschichte – Thema: Katharina die Große, Zarin deutschen Geblüts – präsentiert hatte. Zwar gab es keinerlei Beweise dafür, dass meine schnell übers Board flippenden Finger mit im Spiel gewesen waren, aber nicht nur meine Eltern verdächtigten mich zumindest der Teilhabe an der Aktion. Entsprechend vorsichtig war ich in Sachen Hacks geworden.
»Lade deinen neuen Freund doch mal zu uns ein«, schrieb meine Mutter. Ja, sie versuchte es immer mit Ablenkungen, wenn sich ein Krach zwischen mir und meinem Vater anbahnte. Dafür mochte ich sie.
»Klar. Mach ich. Hab dich lieb. Kuss. Und, Papa?«
»Ja, mein Liebling?«
»Du denkst ans Spiel? An die Karten?«
»Bekommst du, wenn du die Bio-Einheit bestehst.«
»Klar. Supi. Danke.«
»Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Klar doch, ich lasse die Finger vom Board und lerne brav.«
»Prima, mein Liebling.« Prima war fast nix an der Schreiberei mit meinen Eltern, wie immer gab es nur Druck. Dem ich nicht würde ausweichen können, Bio war meine größte Schwäche. An Genen rummachen war nicht mein Ding, auch wenn es sich dabei nur um den richtigen Umgang mit Codes handelte. Ich sah mich als #B-Coder, nicht als #G-Coder, hatte mit dem #B-Programmieren schon vor Eintritt in den Kindergarten begonnen. Sehr zur Freude meiner Eltern, die meine Begeisterung für Bits und Bytes für ein zukunftsweisendes Hobby hielten. Entsprechend großzügig fiel die materielle Unterstützung für mein Hobby aus, denn, so mein Vater, vielleicht macht sich ja – Originalzitat! – »mein kleiner Liebling« noch vor Abschluss der Grundschule als Programmierer selbständig.
Habe ich nicht gemacht, natürlich nicht. Es gab einfach zu viele clevere Kids, die gut mit #B-Code umgehen konnten, vor allem aber echt voll auf der Erfolgsschiene waren, also Kohle ohne Ende machen wollten, während ich es eher locker angehen ließ, beim #B-Coden meinen Spaß haben wollte, also nur witzige Sachen machen wollte.
Und damit bin ich wieder beim »Prima war fast nix«. Denn prima an der Schreiberei mit meinen Eltern war, dass die letzten Buchstaben meines Vaters gerade im atomaren Feuer eines durch mein Zimmer flutenden Weltuntergangs vergingen, als Bernd meinen Hack konterte. Er hatte sich in ein blond bezopftes, dirndltragendes Mädel mit gerade jottwede gegangenen Milchzähnen verwandelt.
»Hallo Bernadette«, schrieb ich und tat so, als hätte er mich nicht überrascht.
»Du bist echt nett, Zonen-Gabi, möchtest du meine Freundin sein?«
Freundin? Moment …
Und, äh, ich habe zwar echt flotte Finger am Board, aber ich brauchte dann noch so ein, zwei, drei weitere Momente, um zu verstehen, was er aus mir gemacht hatte. Ich wusste nämlich nicht, was eine Zonen-Gabi ist. Zonen kannte ich nur im Zusammenhang mit Coden, dabei handelte es sich um unterschiedlich intensiv geschützte Zonen des #sww. So dass ich zuerst nach dem #Tag einer Hackerin namens Zonen-Gabi suchte. Die war mir zwar noch nicht übers Board gelaufen, aber was heißt das schon, das #sww ist ja eine echt große Angelegenheit, umfasst ja augenblicklich das gesamte Sonnensystem.
Nee, also das geht zu weit, dachte ich, als ich sah, was Bernd aus mir gemacht hatte. Sie kennen den #VidFeed ja, kurz vor dem großen Rumms habe ich den ins #sww eingespeist, ich als dauergewellte Blondine Banane essend, dazu freudig mit strahlend blauen Augen in die Cam blickend und dann sächselnd: »Isch gönnde misch sinnlous midd Schbageddi behengn.«
Das war gewiss ein Fehler, denn ich war nicht wütend, wirklich nicht, ganz im Gegenteil, ich war amüsiert. Denn da war mit Bernd jemand, der gut war, mit dem es Spaß machen würde, sich die Codes um die Ohren zu tippen, bis einem von uns keiner mehr einfiel, der den Hack zuvor noch toppen konnte. Gerade auch wegen der Schbageddi, in die sich meine blonde Dauerwelle gegen Ende des #VidFeed verwandelten. Hey, dachte ich, der Bernd ist sieben Jahre alt, den schaffe ich. Und so schaffte ich ihn noch vor Ende der #SilWork-Sequence als Margot in eine ZK-Sitzung. Ich fand das passend, die Dame mit der blauen Dauerwelle war ja – ich gestehe, ich musste es recherchieren – seinerzeit für Volksbildung zuständig. Und wo waren wir? Genau, in einer Bildungseinrichtung.
»Nickie!« Oha, der #Mod.
»Anwesend« schrieb ich flott und ließ dabei Margot nicht von meinem Bildschirm verschwinden.
»Wir haben zwar Deutsch, aber nicht Deutsch-Deutsche Geschichte.«
»Ich war das nicht …«
»Nickie?«
»Anwes«
Weiter kam ich mit dem Schreiben nicht, denn ich hatte Bernds Konter entdeckt. »Nun?«
»Anwesend. Das war ich nicht. Wirklich nicht.«
»Profile kann man nicht hacken, Nickie.«
Ha, dachte ich, das denkst auch nur du und der Rest der Lehrerschaft und gewiss auch die, die #Scool als prima Methode für den Heimunterricht wohlhabender Kinder anbieten. Selbstverständlich kann man Profile hacken und damit Schabernack treiben, das weiß doch jeder Coder, der sich seinen Code nicht mit dem #Script-Kit schreibt, sondern wirklich coden kann. Womit ich wieder bei Bernd bin, der eben diese Kunst auch meisterhaft beherrschte. Mich hatte er in einen Autofahrer verwandelt, der mit einem abschreckend altmodisch gestylten Auto wiederholt gegen eine Mauer fuhr, auf der Stand Die Mauer muss weck.
Immerhin hatte Bernd bei seinem Hack einen Fehler gemacht, das ließ hoffen, dass er weitere machte. Ich beschloss, ihn zu provozieren, griff seinen Schreibfehler auf und machte aus ihm einen Wecker, dessen Zeiger Fünf vor Zwölf anzeigten.
Kennen Sie Tom und Jerry? Ich kannte die nicht bis zu dem Augenblick, als mir eine frech grinsende Maus eine brennende Dynamitstange in mein Katzenmäulchen stopfte und geschwind mit einem großen Pflaster zuklebte.
Rrrrrums.
Okay, Bernd du willst …
»Nickie?«
»Anwesend.«
»… Krieg? Du kannst ihn haben.«
»Wie viele Handlungsorte finden sich im Götz von Goethe?«
Ich sendete dem Mod ein paar gelangweilt dreinschauende Bilder von kaiserlichen Soldaten, dann Bernd ein Bild eines Arschs, der von ihm geleckt wurde.
»Nickie?«
»Anwesend.«
»Die Mauer muss weg. Weg mit g.«
Ich eroberte mir mein Profil zurück, indem ich die Burg sturmreif schoss, die Bernd aus Code errichtet hatte. Mit wehenden Fahnen zog ich durch das zerschossene Tor in mein Profil ein und hisste eine Flagge, auf der ich als Zonen-Gabi zu sehen war.
»Danke, Nickie. Und nun, bitte, die Antwort auf meine Frage.«
»Anwesend.«
»Scheint mir nicht so.«
Ja, ich war abgelenkt, nein, ich gab es nicht zu. Dafür war ich viel zu beschäftigt, denn Bernd blockte so vier, fünf meiner Hacks ab, bevor ich ihn mit dem sechsten in eine Frau verwandelte, die »Ausgerechnet Bananen« sang. Geschafft.
»50.«
Die Zahl nahm ich zum Anlass, die singende Frau zu entblößen und die Blöße beinah zugleich wieder mit einem Kleidchen aus fünfzig Bananen zu bedecken.
»Nickie und Bernd?«
»Anwesend.«
»Dito.«
»Ihr stört.«
Hatte ich mich verhackt? Konnte nicht sein.
»Ich war es nicht«, schrieb Bernd.
Ich lachte.
Das Lachen war in der Klasse zu hören. Bernd hatte mein Mikro gekapert. Ja, bis dahin war alles nur eine alberne Kabbelei unter zwei coolen ScoolKids, die echt was auf dem Kasten hatten. Was die beiden zu dem Zeitpunkt nicht wussten: In der #Ware meines Rechners war ein kitzekleiner Programmierfehler, just in dem Teil des Codes, der für die Steuerung des Mikros zuständig war. Im normalen Betrieb kam der Fehler nicht zum tragen, griff jedoch jemand von außen mit bösen Absichten auf mein Mikro zu, verselbständigte sich der Fehler. Bei meinem blitzneuen Quantencomputer erwies sich das als katastrophal. Die Katze war da, dann weg, dann zu viert, war da, miaute, leckte sich die Bäuche – ja, Bäuche, in der Welt der Quanten kann eine Katze sehr, sehr viele Bäuche haben -, war weg, kam nicht zurück, blieb weiter abwesend, hey, wo bleibt denn die Katze, die kann doch nicht einfach fortbleiben, die …
Damit war der Geist aus der Flasche oder anders formuliert: Kater Tom schlich sich quantenspringlebendig in den Zentralrechner des Weltverteidigungskommandos – Sitz, ja, in Berlin – ein. Das hatte man einst für eine tolle Idee gehalten, das mit Berlin, habe doch das Ende des Kalten Krieges mit der Wiedervereinigung Deutschlands ein erstes Highlight gefunden, aus dem letztlich die Einigung der Welt erwachsen sei. Das habe zwar gedauert, aber egal. Berlin, Berlin, wir vereinigen uns in Berlin.
Aber diese Welt, also die Erde, war zum Zeitpunkt der Einigung nur eine von vielen bewohnten Schwerkraftdellen im solaren System. Auf der Venus tummelten sich Menschen, auf dem Mars sowieso, Ceres war unter Touris echt angesagt, im Gürtel schnallten die Prospektoren angesichts unvorstellbarer Vorräte an Erzen die Gürtel nicht enger, sondern weiter, ein Billionär ließ im Schatten der Saturnringe ein Generationenraumschiff bauen et cetera perge perge. Oder kurz und knapp gesagt: Die Menschen waren überall. Und wie das so ist mit den Menschen, sie können sich zwar einigen, aber das ist nur von Dauer, wenn sie sich darauf einigen können, dass andere nicht dazu gehören. Zwar lebte die Menschheit die mit diesem Denken verbundene Konfliktfreudigkeit nicht mehr mit der Üppigkeit früherer Jahrhunderte aus, aber man wappnete sich für den Fall der Fälle, also: Sicher ist sicher. Und: Ein paar Waffen sind ganz besonders sicher. Vor allem: Viele Waffen garantieren Frieden und Freiheit blablabla.
Kater Tom, und damit hatten weder Bernd noch ich auch nur das Geringste zu tun, legte der Maus, in die der sich munter rumquantende Softwarefehler den Zentralrechner des Weltverteidigungskommandos der Erde verwandelt hatte, eine brennende Dynamitstange auf den Schwanz, pappte ihn mit einem Schleifchen fest und dann, Trickfilmexperten wissen es, explodierte die Maus mit einem Rrums.
Okay, dieser Rrums war dann doch etwas mehr, denn während Jerry nur das Fell zerzaust wurde, kippte das über dem Zentralrechner liegende Brandenburger Tor um. Da das bei der nach einem Rohrbruch erfolgten Verflüssigung des märkischen Sandes schon mal fast geschehen war, nahm den Umfaller niemand wirklich ernst. Als sich dann jedoch Raketen aus dem Boden schoben, überraschend kleine, spitze Dinger, die mit Donnergetöse abhoben, hieß es #BreakingNews.
Als die Raketen die Schwerkraft der Erde überwanden, machte sich Nervosität breit, denn der Rückrufbefehl für die Raketen funktionierte nicht.
»Sorry, wir waren das nicht. Wir wollen das nicht. Wir kommen für alle Schäden auf«, schrieb die Erdregierung immer und immer wieder ins Sonnensystem hinein.
Die kurze Antwort: #Thismeanswar
Dann #TheMartianEmpireStrikesBack
… #maytheforcebewithyou
»Nein. Stop. Halt. Alles auf Anfang.«
»Say it in English, please.«
Der letzte Satz stammte von mir, ja, ich hatte das »Say it in English, please« getippt. Ich hielt all die Action, die sich auf meinem Screen zeigte, für eine Spielerei Bernds. Und, ja, ich versuchte zu kontern, nun ja, ich konterte beziehungsweise hatte bereits gekontert, gleich zu Beginn nämlich, als sich die Raketen aus der Mitte Berlins erhoben hatten. Ähm, ja, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, ich hatte den Rückrufbefehl der Raketen außer Kraft gesetzt. Wie gesagt, ich hielt all das, was mir mein Screen optisch und akustisch bot, für eine Spielerei Bernds. Und er, das weiß ich jetzt, hielt all das, was sich auf seinem Screen sehen und hören ließ, für meinen Hack. Den er natürlich auch konterte, eigentlich wollte er mit dem betreffenden Hack die Raketen bloß mit einem großen Netz fangen, aber der Softwarefehler meiner Mikro-Ware quantete so munter herum, das Netz legte solarsystemweit alle Verteidigungsmaßnahmen lahm.
Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrums.
Ein großes Krachen und Bersten und Sterben begann, aus dem die auf der Erde lebenden Menschen als glückliche Überlebende heraus gekommen wären, ja, wären, denn es war ja ein Krachen und Bersten. Das sehr, sehr viele große und kleine Trümmerteile durch das Sonnensystem sausen ließ. Da das Netz die Asteroidenabwehr als Verteidigungsmaßnahme eingeschätzt und ergo ausgeschaltet hat, war die Erde dem sich nähernden kosmischen Bombardement letztlich schutzlos ausgeliefert. Für die, die konnten, hieß es: Ab unter die Erde. Ganz, ganz tief. Dort war natürlich nicht viel Platz, so dass wirklich nur die, die konnten, weil sie viel, viel Geld hatten oder sehr, sehr gute Beziehungen, in die Tiefbunker hinabsteigen durften. Und zu meiner großen Erleichterung mussten auch ein paar Menschen zwangsweise nach unten, weil sie Riesenmist gebaut hatten. Damit meine ich mich und Bernd. Zur Strafe – ja, echt jetzt – sollten wir überleben, denn wir sollten ein Leben lang nicht vergessen, dass wir die Menschheit ausgelöscht hatten.
Und so sitzen wir jetzt in #Rea nebeneinander und können gar nicht fassen, was für einen Mist wir gebaut haben. Bernd ist nämlich keine sieben Jahre alt, er ist zwölf, er hatte sein Scool-Profil bloß etwas aufgehübscht, um in seiner neuen Klasse nicht gleich als Looser einzusteigen. Und er mag Mädchen aus Bayern, so wie ich eines bin, auch wenn ich jetzt nicht mehr in Bayern bin, sondern in einem Bunker tief unter Hamburg. Hätten wir das alles bloß mal vorher gewusst, wir hätten beide niemals mit Programmieren angefangen. Das hätte zwar meinen Eltern nicht gefallen, denn … Aber das habe ich, glaube ich, schon gesagt.
Story: „Nur eine Unterbrechung“ von Hubert Hug
Hubert Hug, geboren 1959, verheiratet, zwei Kinder, ist Molekularbiologe. Science-Fiction-Geschichten von ihm sind unter anderem in Golem, Flash Fiction Magazine, Fantasia des EDFC und der Edition Bärenklau erschienen. Er lebt in einer Sackgasse an einem Bach mit merkwürdigen Kreaturen. Das könnte seine Andersartigkeit erklären.

Der Bach rauschte und die Erlen blühten. Im Gehöft mit dem weit überhängendem Dach klingelte das Telefon. Herr Wiesler schaltete den Herd aus, ging zum Telefonapparat und nahm den Hörer ab.
„Hallo. Wer ist dort?“, fragte er.
„Mein Name ist Überking, Leiter des Amts für Pollenverwaltung.“ Die Stimme klang etwas heiser und belegt.
„Was für eine Verwaltung?“, erkundigte sich Herr Wiesler.
„Amt für Pollenverwaltung“, sang es aus dem Hörer.
„Noch nie gehört“, sagte Herr Wiesler.
„Das sollten Sie aber. Wir haben sowieso das Gefühl, dass Sie nicht mit der Zeit gehen wollen.“
„Mit welcher Zeit?“
„Hören Sie, Herr Wiesler. Ich habe nicht viel Zeit.“ Herr Überking klang ärgerlich. „Ich rufe Sie wegen einer ernsten Sache an.“
„Ja … dann sagen Sie endlich, was passiert ist.“
„Genau. Sie scheinen vernünftig zu werden. Ihre Erlen blühen.“
„Die Erlen am Bach?“
„Ja genau. Sie stehen auf ihrem Grundstück. Sie hätten diese schon letztes Jahr fällen sollen. Ein entsprechendes Schreiben war Ihnen von uns zugekommen.“
„Davon weiß ich nichts. Sicher war Ihr Schreiben nicht wichtig.“
„Alles, was von uns kommt, ist wichtig“, schrie Herr Überking. „Wir sind eine hoheitliche Behörde.“
„Das ist gut. Ich bin ein Bauer im Schwarzwald.“
„Hören Sie, mein guter Herr. Wir geben Ihnen die letzte Chance.“
„Was wollen Sie von mir?“
„Ich sage Ihnen, was Sie schon lange wissen sollten. Nach Baum- und Blütengesetzbuch Paragraph 14z, Absatz 4.1.3, Zeile 5 bis 11 dürfen keine Erlen im Schwarzwald blühen.“
„Das ist mir neu. Erlen blühen hier meines Wissens seit Tausenden von Jahren.“
„Kann sein. Aber Erlen dürfen nicht mehr blühen. Das ist Allgemeinwissen. Bald habe ich keine Geduld mehr mit Ihnen.“
„Kein Problem. Ich muss sowieso gleich meine Hühner füttern.“
„Hühner …“, Herr Überking machte eine Pause. Er hustete und röchelte, bevor er erbost weitersprach. „Ich werd’ schon krank, wenn ich das Wort ‘Hühner’ höre. Hoffentlich haben Sie die Viecher entsprechend der Vorschriften eingesperrt.“
„Ja“, sagte Herr Wiesler.
„Okay. Um Ihre Hühner wird sich später eine andere Abteilung kümmern. Ich werde das Problem weiterleiten. Zurück zu den Erlen.“
„Ich bin noch hier“, sagte Herr Wiesler. „Aber bald muss ich gehen.“
„Sie müssen die Erlen fällen. Sonst werde ich eine dafür qualifizierte Baumfällfirma vorbeischicken. Auf Ihre Kosten.“
„Die Krähen bauen ein Nest in den Erlen. Die kann man nicht einfach fällen. Außerdem brauche ich die Bäume als Hochwasserschutz.“
„Um den Hochwasserschutz kümmert sich eine andere Abteilung.“
„Hat die Abteilung einen Kuhstall?“
„Lenken Sie nicht wieder vom Thema ab.“
„Sie haben mit dem Thema angefangen. Wir wissen doch, dass Erlen, wenn es regnet, fast so viel Wasser aufnehmen können, wie ihrem Volumen entspricht. Das ist alles Wasser, das nicht mehr in meinen Kuhstall laufen kann. Der ist nämlich manchmal überschwemmt und die Kühe stehen im Wasser. Dann geben sie weniger Milch. Kann ich jetzt auflegen? Ich möchte die Erlen behalten. Sie gehören doch mir, oder?“
„Nein. Die Bäume stehen zwar auf Ihrem Grundstück. Aber die Verantwortung der Verwaltung liegt bei uns.“
„Aha.“
„Nichts aha. Wir haben klare Grenzen. Die Vorschrift besagt, dass die Erlen verschwinden müssen und zwar sofort.“
„Ich lasse die Erlen stehen. Sie gefallen mir.“
„Hören Sie! Meine Geduld ist am Ende. Sie sind schuld, dass jedes Jahr Tausende von Menschen erkranken.“
„Ich mache niemanden krank. Meine Eier und meine Milch sind gesund. Alles auf meinem Hof ist gesund.“
„Sie sind ein Luftverschmutzer. Ihre Erlenpollen fliegen in unsere Städte und verursachen Allergien. Die Menschen in den Städten haben wegen solchen Starrköpfen wie Ihnen kein angenehmes Leben.“
„Diese Menschen machen doch bei uns Urlaub. Jedes Jahr kommen Sie hierher, in großen Scharen. Die Touristen, die uns besuchen, sehen gesund aus.“
„Die Kranken bleiben eben zu Hause“, antwortete Herr Überking gereizt.
„Das ist besser für Kranke. So werden sie schneller gesund. Brauchen Sie Krankenrezepte von meiner Oma? Leider ist sie vor sieben Jahren gestorben.“
„Wir brauchen keine Rezepte.“ Herr Überking schrie in den Hörer. „Wir wollen, dass keine Erlenpollen in unseren Städten landen.“
Herr Wiesler nahm den Hörer etwas vom Ohr weg und schüttelte den Kopf. Nach ein paar Augenblicken antwortete er.
„Pflanzen Sie doch Erlen in die Städte. Dann werden die Menschen sicher wieder gesund. So gesund wie ich.“
„Wir müssen alle Erlen fällen. Es gibt moderne Vorschriften. Das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit zu erklären. Zum letzten Mal …“ Herr Überking brüllte wieder. „Erlenpollen verursachen Allergien!“
„Meine Tiere und ich haben keine Allergien.“ Herr Wiesler zeigte keine weitere Regung.
„Sie sind eben eine Ausnahme. Und Ausnahmen gibt es bei uns nicht.“
„Das ist nicht richtig. Ausnahmen sind manchmal gut. Ich zum Beispiel besitze ein Huhn mit zwei krummen Zehen. Mein Nachbar riet mir, es zu schlachten. Aber jetzt legt es die meisten Eier, mindestens 300 im Jahr. Stellen Sie sich vor. Essen Sie gerne Eier?“
„Das Gespräch mit Ihnen macht mich müde. Sie wollen mich nicht verstehen, lesen unsere Schreiben nicht und weigern sich, unsere Vorschriften zu beachten. Ich werde die Sache meinem Vorgesetzten übergeben. Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören, Herr Amtmann. War schön, dass Sie sich mal bei mir gemeldet haben.“
Herr Wiesler legte auf und lächelte.
‘Meine Erlen sind so schön grün’, dachte er. ‘Niemals werde ich sie fällen. Eher werde ich gefällt.’