Kategorie: Allgemein

Rezension: “Kleiner Drache” von Norbert Stöbe

Wei Xialong leitet den Pekinger Premium-Store “Himmlische Geschöpfe”, der lebensechte Roboter verkauft. Als Tochter der Firmenleiterin wurde sie von Kindheit an für die Spitzenfunktion im Unternehmen trainiert. Ihre Karriere erscheint ihr vorgezeichnet. Bis zu dem Tag, an dem ihr digitaler Assistent eine Reihe an Fehlfunktionen hat. Zu Hause entgeht die junge Frau nur knapp einem Anschlag. Und als ein Klon Xialongs Platz im Geschäft einnimmt, wird nach ihr gefahndet (Nebenbei bemerkt: eine originelle Variante des Themas Identitätsdiebstahl). Zusammen mit dem weiblichen Sexroboter Litse, den sie im Laden stehlen kann, flieht sie in eine Kleinstadt in der Grenzregion zu Myanmar. Mithilfe eines Schleusers gelingt es den beiden, die streng überwachte Grenze zu überwinden.

Die Männer, die Xialong aufgreifen, verkaufen sie als Arbeitssklavin nach Bangladesch, an eine Werft, in der alte Schiffe abgewrackt werden. Monate später kann sie sich freikaufen und übernimmt im nahen Space-Center einen Laden. Im Space-Market wird modernste Technik der Mondkolonie gehandelt. Dort führt sie den Aufstand der Händler gegen das Syndikat an, das den Markt kontrolliert. Nach dem Sieg wird er der Startpunkt für Xialongs Rückkehr nach Peking. Sie hat nun Macht und Kapital, kontrolliert den lokalen Netzknoten und hat sich zudem eine junge Hackergruppe verpflichtet. So gerüstet wagt sie es – vier Jahre nach ihrer Flucht –, den Kampf gegen ihre Klonschwester aufzunehmen.

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Story: “Ideenskizze” von Tobias Lagemann

Tobias Lagemann, 1966 in Dortmund geboren, lebt seit 1989 in Aachen und Umgebung, nach abgebrochenem Germanistik-/Komparatistik-Studium über den Umweg als Junge für Alles (in einem Verlag) endlich bei der Post gelandet. Wird seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht und schreibt sich dabei neugierig durch alle Genres (bis auf Nackenbeißer und Blutsverwandte). Er dankt an dieser Stelle ganz ausdrücklich seiner aufmerksamen Testleserin (mit der er zugleich sehr gerne verheiratet ist).

Wir lasen vom Krieg in der Zeitung, er würde auch zu uns kommen. Ein Termin stünde zwar noch nicht fest, aber im Herbst wäre er da. So recht wussten die Kinder mit der Ankündigung nichts anzufangen, als jedoch im Laufe des Sommers auf allen Kanälen ausführlich über den nahenden Krieg berichtet wurde, begannen sie sich zu freuen. Ihnen gefielen die Bilder der Panzer, die sich durch Schlamm wühlten, auch die donnernden Geschütze beeindruckten sie sehr. Und beim Anblick der Soldaten in ihren schmutzigen Uniformen, die Augen entschlossen nach vorn gerichtet, wollte unser Sohn sogleich das Soldatenhandwerk erlernen. Dass er erst mit Sechzehn zum Militär durfte, das fand er blöde. Und um zu betonen, wie blöde er das fand, wiederholte er das Wort drei Mal. Was wir ihm durchgehen ließen, er war sichtlich enttäuscht, erst in sieben Jahren in den Krieg ziehen zu können.
Wir trösteten ihn damit, dass der Krieg ja vielleicht bis dahin ein weiteres Mal in unsere Gegend käme. Und da wäre er dann ja auch schon größer, da würden wir ihn ganz nah an die Front lassen, und vielleicht wäre es auch möglich, dass er in einer Feuerpause mit Soldaten sprach.
Unsere Tochter verlangte das sogleich auch für sich, und um uns zu beweisen, was für ein guter Soldat sie war, paradierte sie im Wohnzimmer mit dem Holzgewehr ihres Bruders auf und ab. Ihr Schritt knallte nur so auf das Parkett, wir luden ein Video von ihr sogleich bei wartube™ hoch. Dennoch versuchten wir, ihr den Berufswunsch auszureden, denn welchen Sinn machte es, Kinder von Etwas träumen zu lassen, das an den Realitäten scheitern musste.
Zur kämpfenden Truppe dürfe sie nicht, erklärten wir ihr, aber Ärztin könne sie werden, als Militärärztin wäre sie ja fast auch ein Soldat. An der Front kämpfen würde sie zwar nicht, aber sie wäre dicht dahinter, zudem dürfe sie eine Waffe tragen. Wir malten ihr die Abenteuer aus, die sie in einem Feldlazarett erleben konnte. Gerade zur rechten Zeit sah sie eine Dokumentation im Fernsehen, die über das blutige Handwerk von Militärärzten aufklärte. Das gefiel unserer Kleinen und sie wollte in Blut und Schmutz stehend Soldaten zusammenflicken, ach, aber nicht nur, sie würde auch amputieren, jawoll, denn das machten Militärärzte ganz oft.
Würdest du mich einem anderen verletzten Soldaten vorziehen, wollte unser Sohn wissen. Unser Tochter überlegte kurz, dann schüttelte sie ihr Köpfchen, sagte – und das beeindruckte uns wirklich sehr, sie war ja erst sieben Jahre alt -, dass an der Front nur der Soldat zählt, nicht das Verwandschaftverhältnis.

Nicht nur die Kinder freuten sich auf den nahenden Krieg, auch wir taten es. Aufgewachsen in einer Zeit, in der Kriege etwas Fernes waren, etwas, das in anderen Ländern geschah und uns nur via Fernsehen und Internet erreichte, spürten wir, dass uns etwas fehlte. Ja, wir kannten Bilder von Massakern und verwüsteten Städten, aber all das aus nächster Nähe zu sehen, ach was, es aus nächster Nähe mitzuerleben, war doch etwas gänzlich Anderes. Am Rand der Stadt würde gekämpft werden, also fast vor unserer Haustür, es würde Zuschauertribünen geben und Großbildleinwände, um besonders dramatische Kämpfe in Zeitlupe wiederholen zu können, so lasen wir auf Plakaten. Wie eine Glocke würde sich der Gefechtslärm über die Stadt legen, eine Woche lang würden Geschützdonner und das Tackern automatischer Waffen unsere ständige Begleiter sein. Und des Nachts, wenn ein Feuerüberfall den Gegner zu schwächen versuchte, würden wir erschrocken aufwachen und uns aneinander klammern. Wir würden gewissermaßen im Krieg leben und mit dem Krieg, wir würden erfahren, wie Krieg wirklich war.
Selbstverständlich kannten wir die sogenannten Argumente der Pazifisten, wir wussten also, dass sie den nahenden Krieg als Showveranstaltung verlachten. Denn als solche habe der uns versprochene Krieg nichts mit den brutalen Wahrheiten eines echten Krieges gemein.
Ja, unser Krieg war eine Show, aber in ihr wurden echte Soldaten wirklich verletzt, verstümmelt und sie starben, zumeist qualvoll. Denn die Kugeln waren aus echtem Blei, die Granaten angefüllt mit echtem hochexplosivem Sprengstoff, und wenn ein Jagdbomber Napalm abwarf, dann brannte das Land. Auch wenn er eine Show war, der Krieg war echt. Erfreulicherweise gab es in unserem Bekanntenkreis kaum Pazifisten, und wenn doch, dann waren sie vernünftig genug, uns nicht mit ihren sinnfreien Bedenken zu belästigen.

Wir bereiteten uns auf den Krieg selbstverständlich gewissenhaft vor, was besonders unseren Kindern große Freude bereitete. Wir horteten im Keller Konservendosen, Nudeln, Getränke, Trockennahrung, Getränke, wir spalteten Holz für den Fall, dass die Stromversorgung ausfiel, lagerten Batterien ein und auch einhundert Liter Benzin für unser Auto, denn man wusste ja nie, ob sich der Krieg nicht vielleicht ausweitete, wir zwischen die Fronten gerieten. Natürlich würde das nicht geschehen, aber unsere Kinder hatten einen Mordsspaß beim Schmieden all der Notpläne. Große Freude bereitete ihnen auch das Einkaufen. Denn natürlich kam in der Stadt beinah jeder auf die Idee, sich das kleine Extra von Hamsterkäufen zu gönnen. Der Krieg kam zum ersten Mal zu uns, da an der falschen Stelle zu sparen, würde den Spaß mindern. Wer belud seinen Einkaufswagen am schnellsten, wem gelang es, andere Hamsterer aus den Schlangen vor den Kassen zu drängen? Das Hauen und Stechen um die letzten Konserven sahen wir jedoch nur noch aus der Ferne, ich hatte einen Bekannten bei der Stadtverwaltung bestochen, daher den Termin des Kriegsausbruchs frühzeitig erfahren. Im Ernstfall kam es nicht auf Stunden an, da ging es um Minuten, entsprechend gerne zahlte ich dem Bekannten eine nicht unbedeutende Summe. Der Erfolg gab uns Recht, erst als wir mit voll beladenem Wagen den Parkplatz des Einkaufszentrums verließen, kamen die nächsten verzweifelten Panikkäufer. Wir gingen natürlich auch die Tage danach Einkaufen, aber mehr aus Voyeurismus als aus Notwendigkeit. Die Verzweiflung in den Gesichtern derer, die nur noch unnütze Reste vorfanden, war einfach zu köstlich.   

Die Behörden machten uns während der Wartezeit auf den Krieg das Leben schwer. Aber so war das, in Kriegen drohte die Ordnung oftmals zusammenzubrechen. Es bedurfte einer starken Hand, um den Fall in die völlige Anarchie zu verhindern. Entsprechend war auch Benzin rationiert, gleiches galt für Heizöl, Verbandsmaterial war keines mehr erhältlich, man hatte es für das Militär reserviert. Was in unserer Apotheke Anlass zu Gelächter gab, denn die Kinder beharrten darauf, dass sie beim Militär wären. Was er denn sei, fragte die Apothekerin unseren Sohn. Er präsentierte voller Stolz sein Holzgewehr, legte auf die Kunden hinter uns an und machte Peng Peng. Soldat sei er und er würde keine Verräter im Rücken der Front dulden. Dass sich unsere Tochter als Militärärztin nicht um die niedergeschossenen Verräter kümmerte, rechneten wir ihr hoch an. Wir spendierten ihr ein großes Eis in den Geschmackssorten Olivgrün, Feldgrau und Bandagenweiß, natürlich bekam der Filius auch ein Eis, für beide gab es obenauf einen großen Luftschlag Sahne.

In den zwei Wochen vor Ankunft des Krieges schalteten wir den Fernseher direkt nach den Sondersendungen aus. Wir stürzten uns als Familie in das Studium von Landkarten, denn mir war es gelungen, einen kompletten Satz Wanderkarten unserer Region zu erwerben. Wir baldowerten Fluchtrouten aus, auch wenn diese natürlich auf Spekulationen darüber basierten, wo genau die Kämpfe stattfinden würden. Die Veranstalter des Krieges hielten sich diesbezüglich bedeckt, der Ort der Kampfhandlungen sollte eine Überraschung sein. Da half es uns auch nicht, dass ich dem Bekannten in der Stadtverwaltung ein weiteres Mal eine große Summe zahlte.

Am letzten Wochenende vor den Kämpfen machten wir einen Familienausflug mit den Rädern. Wir erkundeten Wald- und Feldwege auf Ihre Befahrbarkeit, dachten über Möglichkeiten nach, den Fluss westlich der Stadt überqueren zu können, die Brücken würde man ja sprengen. Unser Sohn wollte sogleich ein Floß bauen, aber wir erklärten ihm, dass das ein Fehler wäre. Er müsse zuerst an sich denken und natürlich an uns als Familie, niemals dürfe er sich daher anderen Flüchtlingen gegenüber eine Blöße geben, die würden so etwas nur ausnutzen. Würde sein Floß entdeckt, und es würde entdeckt werden, es gab keine sicheren Verstecke, nicht im Krieg, man würde es ihm stehlen. Es sei, so sagten wir ihm, daher cleverer, Ausschau nach einem verborgenem Floß zu halten, das würde Zeit und Mühen sparen. Wir ernteten leuchtende Kinderaugen, als unser Nachwuchs schon nach kurzer Suche eine nachlässig in einen Kaninchenbau geschobene Luftmatratze samt Blasebalg fand. Wir ließen sie an Ort und Stelle, stachen jedoch Löcher hinein, Dummheit muss bestraft werden.

Dann war endlich der Krieg da. Morgens um halb fünf hörten wir die schweren Motoren von Panzern und das Rasseln von Ketten, Hubschrauber knatterten im Tiefflug über unseren Stadtteil, aus der Ferne erklang das Donnern von Geschütze, dicht gefolgt von Einschlägen, die die Gläser in unserer Vitrine erzittern ließen. Dass die Sirenen erst mit einer Viertelstunde Verspätung heulten, entschuldigte der Bürgermeister später im Radio damit, dass es am Abend zuvor einen Sektempfang für die Generäle gegeben habe, und die Herrn Offiziere, Heidewitzka, die hätten die harten Sachen nur so in sich hinein geschüttet, da hätte er kapitulieren müssen. Wir saßen da bereits auf der Nordtribüne, einem eilig aufgestellten Gerüst mit Bänken aus rohem Holz. Das Glück war offenbar auf unserer Seite gewesen, unsere Nachbarn hatte es bei der Ticketlotterie in den Süden der Schlacht verschlagen. Viel mehr als leichtes Geplänkel gab es dort nicht, erfuhren wir später, Scharfschützen duellierten sich auf komplizierte Weise, Kompanien gruben sich ein, Artillerie war dort keine im Spiel. Bei uns hingegen tobten heftigste Kämpfe. Panzer wühlten sich durch das Land, Geschütze feuerten aus nächster Nähe aufeinander, ein Wäldchen wurde zerfetzt, Äcker und Wiesen wieder und wieder brutal umgepflügt.

Unser Sohn schrie vor Begeisterung, dass er beide Seiten anfeuerte, sah er zunächst nicht als Fehler. Erst als ihm unsere Kleine in die Seite knuffte und etwas zuflüsterte, entschied er sich für eine Seite. Ab da war er ganz der Papa, er begeisterte sich natürlich für die Angreifer. Denn die riskierten was, die trauten sich was, die sprangen aus ihren Stellungen, stürmten voran. Auch als Maschinengewehrgarben ihre Reihen lichteten, mit heiser klingendem Hurrageschrei ging es weiter auf den Gegner zu. Ein Minenfeld ließ den Angriff kurzzeitig stocken, aber ihr Mut trieb die Angreifer weiter, dass ihren Kameraden die Gliedmaßen zerfetzt wurden, schien ihnen gleich. Sie wollten den Sieg um jeden Preis. Dass ein Gegenangriff über die Flanke die Attacke letztlich doch stoppte, empfanden wir als gelungenen dramaturgischen Kunstgriff. Der Krieg sollte eine Woche dauern, da durften die Verteidiger nicht gleich am ersten Tag niedergemacht werden.

Gegen Abend, die kämpfenden Parteien hatten sich für einen Stellungskrieg eingegraben, nur vereinzeltes Gewehrfeuer war noch zu hören, lichteten sich die Zuschauerreihen. Ein paar Sektkorken knallten, man feierte einen spannenden ersten Kampftag. Wir feierten nicht mit, wir schlichen uns unter die Tribüne, rollten dort unsere Schlafsäcke aus. Nicht nur unseren Kindern wollten wir eine Nacht in den Wirren des Krieges gönnen. Als Abendbrot gab es Kommissbrot mit Corned Beef, dazu kalten Ersatzkaffee, sogar an der selbstgedrehten Zigarette durften unsere Kinder ziehen. Später in der Nacht ging meine Frau mit unserer Tochter dann doch nach Hause, die Kleine hatte Angst. All die fremden Geräusche, die wiederholt aufflackernden Schießereien und der Gestank verbrannten Fleisches, das war dann wohl doch etwas zu viel für sie. Nun ja, mit ihren sieben Jahren durfte sie noch empfindlich sein. Als sie ging, tröstete unser Sohn sie, er sei sich sicher, dass sie eine sehr gute Militärärztin werden würde, denn sie habe etwas, das im Lazarett mehr zähle als sauberes Operationsbesteck, sie habe Herz.

In dem Moment war ich sehr stolz auf unseren Jungen, er bewies Führungsstärke, er wusste zu motivieren. Ich war mir sicher, er würde ein guter Soldat werden, zumal er schon während der Schlacht nicht einmal seinen Blick abgewandt hatte, ganz gleich wie grausig die Bilder auf der Großbildleinwand waren, er hatte hingeschaut. Und natürlich waren seine Jungs von ihm angefeuert worden, so nannte er die angreifenden Truppen, seine Jungs. Macht sie fertig, schlachtet sie ab, killt sie, er war mit ganzem Herzen bei der Sache.

Als ich ihn um vier Uhr weckte, schwer lag der Pulverrauch in der Luft, war er sogleich hellwach. Ich bedeutete ihm im Schein eines Streichholzes, mir zu folgen. Gemeinsam robbten wir an das Schlachtfeld heran, ich wollte, dass er das Flehen und Betteln der Sterbenden hörte und diese eigentümliche Mischung aus Blut und Exkrementen roch. Ob es früher in den Kriegen auch so gewesen sei, wollte unser Sohn wissen, so realistisch und wunderbar brutal? Was konnte ich anderes tun, als zu lügen, ich sagte Dieses Mal ist der Krieg viel schöner. Und obwohl es dunkel war, die Nacht nur von irrlichternden Leuchtspurgeschossen zerrissen, sah ich, dass unser Sohn weinte. Krieg, dachte ich, war doch etwas Wunderbares, er brachte die Menschen einander näher. Ich empfand es als Gnade, dass wir als Familie den Krieg aus nächster Nähe erleben konnten. Ein Krieg im Fernsehen, das war keine Katastrophe, das waren nur Bilder. Und Bilder dieser Art gab es zu viele, Bilder von Kriegen wechselten sich ab mit Bildern von Flugzeugabstürzen oder Hochhausbränden. Aber hier im Krieg, da wurde live gestorben, man spürte, was Krieg wirklich war.

Anmerkung des Herausgebers: Die Ideenskizze wurde offenbar nicht umgesetzt, die Insolvenzen der Kriegsparteien verhinderte die Durchführung des zu bewerbenden Krieges. 
(Aus: Skizzen zum Kriegsjahr 2062 - Disasters, War & More, Entwürfe für eine Werbekampagne Print & Spot/Online, Watney Press, Schiaparelli City, Mars 2117)

(Übersetzung aus dem marsianischen Englisch, Major der Raumwaffe S. Jähn, Strausberg Station, Jupiter Orbit, 2231)

Bitte beachten Sie: Dieser Textauszug ist nur für den internen Gebrauch der Hochschulen für angewandte Militärpropaganda bestimmt. Jegliche Weitergabe an außeruniversitäre Personen und/oder KI ist strafbar nach §§ 19.J.1976, gez. Oberst Klein, HofaMp Ceres, 22. März 2233 

Rezension: “Qualityland 2.0” von Marc-Uwe Kling

Nachdem der erste SF-Roman von Marc-Uwe Kling (“Qualityland”, Rezension hier) den Deutschen SF-Preis gewinnen konnte, stellt sich die spannende Frage, ob die Fortsetzung an diese Qualität anknüpfen kann.

Womit eines schon gesagt ist: Ja, es handelt sich um eine waschechte Fortsetzung. Um Staffel 2 der (geplanten) Streaming-Serie gewissermaßen, denn die Handlung schließt direkt ans Ende von Band 1 an, es treten die gleichen Figuren auf. Die Geschichte aus Band 1 sollte man beim Lesen optimalerweise noch im Kopf haben. Zwar ist dem Roman ein (dreieinhalbseitiges) Figurenregister vorangestellt, aber keine Zusammenfassung des bisherigen Geschehens. Wer Band 1 nicht gelesen (oder größtenteils vergessen) hat, wird vieles in Band 2 nicht verstehen.

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Berlin Sci-Fi Filmfest dieses Jahr online

Wegen der Corona-Beschränkungen muss auch das Berlin Sci-Fi Filmfest virtuell stattfinden.
Das Programm wird also online gezeigt und damit auch ohne Besuch in der Hauptstadt verfügbar. Es gibt einen Pass für das gesamte Festival ($50) und einen für fünf Sessions ($20). Das Event findet statt vom 27.11. bis 6.12.
Weitere Infos gibt’s online:
https://xerb.tv/channel/berlinscififilmfest/virtual-events

Neue Anthologie: “Das Alien tanzt Walzer”

Unter dem Motto “Schwungvolle SF und Fantastik aus einem heiteren Universum” hat Ellen Norten 24 deutsche SF-Autorinnen und -Autoren versammelt.

Claudia Aristov, Tobias Bachmann, Regine Bott, Diane Dirt, Kai Focke, Uwe Hermann, Georg Jansen, Nikolaj Kohler, Stephanie Lammers, Marcel Michaelsen, Wolfgang Mörth, Jasmin Mrugowski, Miklos Muhi, Monika Niehaus, Ellen Norten, Alisha Pilenko, Nob Shepherd, Kornelia Schmid, Stok, Gard Spirlin, Achim Stößer, Uwe Voehl, Johnny Wallmann und Karla Weigand.

Weitere Infos gibt es direkt bei p.machinery.

Rezension: “Salzgras & Lavendel” von Gabriele Behrend

Douglas Hewitt ist in der Verwaltung von Acodis Inc. als “Datenarchäologe” tätig. Kaynee Simmons arbeitet im “Zenith”, einem Traumazentrum außerhalb der Stadt. Douglas ist im Ghetto unter “Wilden” geboren, die sich kein Implantat und “Persönlichkeitsset” leisten können. Nachdem er zur Waise wurde, erhielt er im Heim zumindest ein “Basisset”, das ihm ein sozialverträgliches Verhalten ermöglichen sollte. Kaynee dagegen hat ihr “Socket” gleich nach der Geburt implantiert bekommen und switcht nach Bedarf und Situation zwischen den vielen “Abspaltungen” ihrer künstlich erzeugten multiplen Persönlichkeit hin und her.

Die beiden leben im Zeitalter der “Effizienzdiversität”. Die in der Regel postnatal eingesetzten Implantate haben eine Gesellschaft hervorgebracht, die auf Effizienz getrimmt ist. Die Technik, die aus der Gamer-Szene hervorging, führte nicht nur zu einer Leistungssteigerung jedes Einzelnen, sondern ermöglicht es der großen Mehrheit auch, auf alle nur denkbaren Situation angemessen zu reagieren. So “kommen alle viel besser miteinander aus”, findet Kaynee.

Doch der äußere Schein trügt. Douglas zum Beispiel führt ein einsames und eintöniges Leben. Er wird von Ängsten und Zweifeln geplagt, die ihn bis in seine Träume verfolgen. Und dann begeht er – scheinbar aus heiterem Himmel – einen Mord. Um der Haft zu entgehen, bleibt ihm nur der Ausweg, sich ebenfalls eine multiple Persönlichkeit implantieren zu lassen. Im “Zenith” trifft er auf Kaynee, die seine “Patin” wird – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ihre Hardware Fehler aufweist und sie die Kontrolle über sich verliert.

“Salzgras & Lavendel” spielt an einem unbestimmten Ort in der Zukunft, an dem “alles seinen ruhigen Gang” geht, während die Welt ringsum “an allen Ecken und Enden brennt”. Die Autorin streut nur wenige Hinweise auf klimatische Veränderungen und auf den technischen Fortschritt ein. Sie konzentriert sich auf die Frage, wie eine Gesellschaft aussähe, in der technische “Aufspaltungen” der Persönlichkeit – “neuronale Cluster” genannt – die Regel sind. Indem man Katy, Keira, Kandy, Kassy und Kaynees andere “Splits” in Aktion erlebt, hat man bereits nach wenigen Seiten einen lebhaften Eindruck davon, wie die Menschen im Alltag damit umgehen.

Am Beispiel von Douglas zeigt Gabriele Behrend, dass diese Technik für Menschen mit schweren Traumata ein Segen sein kann. Auf der anderen Seite stellt das Buch kritische Fragen: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn eine solche Technik zur Norm wird, sie sich aber nicht jeder leisten kann? Wenn der öffentliche Frieden gefördert wird, aber niemand mehr eingreift, um Verbrechen zu verhindern? Was passiert, wenn die Technik versagt oder Fehler in ihrer Anwendung passieren? Wie würde der Staat reagieren, wenn ein Dogma ins Wanken gerät? Was die multiplen Persönlichkeiten betrifft, läuft der Roman auf die Frage hinaus, ob eine Separation – wie Kaynees “geordnetes Haus” – oder die Fusion der einzelnen Ich-Aspekte die richtige Antwort ist, um ein glückliches Leben zu führen.

Das alles packt die Autorin in eine Geschichte, die weder trocken noch langweilig ist. Dafür sorgen unter anderem die Nebenfiguren: der Techniker Sanders Mayerhoff, der neben seiner Arbeit im “Zenith” geheime Experimente durchführt und eifersüchtig auf Douglas ist; und Claire Paulson, die Leiterin des Traumazentrums, die als Spezialistin für “adulte Diversität” gilt – und die am bittersüßen Ende des Romans auf ganz unerwartete Weise zu Douglas’ Retterin wird.

Hier und da ist der Autorin beim Schreiben die Fantasie durchgegangen. Ein Meeting aller Ich-Aspekte im eigenen Kopf? Und im Kopf einer anderen Person? Das sind großartige Szenen, die noch dazu perfekt in die Dramaturgie passen. Sie erscheinen jedoch übertrieben.

In Stil und Sprache ragt das Buch deutlich aus der Masse der Science-Fiction-Literatur heraus. Die Verwendung des Präsens schafft eine große Nähe zu den Protagonisten. Mit einfachen Mitteln gelingt es der Autorin jederzeit, den Leser durch die vielen Ich-Aspekte der Figuren zu lotsen, so dass man immer genau weiß, mit welchem man es gerade zu tun hat.

Für die zentrale Frage des Buchs – Separation oder Fusion? – findet Gabriele Behrend starke Bilder. Eine eindeutige Antwort sucht man vergebens. Wahrscheinlich, weil es keine gibt.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum:

Kurzfilm: Cyber Space Pirates Yo-ho!

Es ist gewissermaßen ein Projekt der deutschen SF-Community: Denn zu dem schrägen animierten Kurzfilm “Cyber Space Pirates Yo-ho!” von ÜBERMORGEN FILM haben zahlreiche bekannte Autorinnen und Autoren der deutschen SF-Szene den Figuren ihre Stimmen geliehen.

Der am meisten gefürchtete Pirat des Weltraums steht vor Gericht, weil er eine Filiale der Stellarbank ausgeraubt hat. Aber nicht alles ist so, wie man es erwartet …

Den gut 10 Minuten langen Film gibt’s kostenlos bei Youtube.

Rezension: “Unter den Sternen von Tha” von Heribert Kurth

Knapp 500.000 Jahre in der Zukunft: Unser Heimatuniversum ist erforscht und besiedelt, außer uns gibt es darin kein intelligentes Leben. Eine rätselhafte fremde Rasse, die aus einem Nachbaruniversum stammen muss, beauftragt den Navigator Ttrebi H*tr damit, die Geschichte der Menschheit zu protokollieren. Um den Auftrag abzuschließen, erhält er das Privileg, ein Jahr auf dem streng geschützten Planeten Tha zu verbringen. Dort gelangt er – unter dem Einfluss der Blüten einer heimischen Pflanze – zu ganz neuen Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen den Entdeckungen und Erfindungen der menschlichen Rasse und ihren (möglichen) religiösen Voraussetzungen.

Das Debüt von Heribert Kurth lässt sich in keine bekannte Schublade packen. Wer Action oder gar Space Opera erwartet, wird mit Sicherheit maßlos enttäuscht. Das Buch ist ein Protokoll, noch dazu ein Fragment, das nicht weniger als knapp 500 Jahrtausende umfasst. Der Protagonist Ttrebi H*tr nimmt den “geneigten Leser” fest an die Hand und führt ihn durch eine weitgehend chronologische Auflistung der wichtigsten Ereignisse. Das Spektrum reicht von kurzen Einträgen bis zu mehrseitigen Abhandlungen: vom Fund seltener Erden auf dem Mars über die Entdeckung der “Parallelkörper” in der “Terunalzone” bis zum Bau “dunkler Energiekollektoren” und “Sekundärlichtrezeptoren” – wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Entwicklungen, die nicht nur überlichtschnelles Reisen ermöglichen, sondern der Menschheit sogar Blicke in die Vergangenheit erlauben.

Ein “Protokoll” ist die denkbar unattraktivste Form, eine spannende Geschichte zu präsentieren. Es ist der blühenden Phantasie des Autors zu verdanken, dass diese “Zukunftsgeschichte der Menschheit” stets unterhaltsam bleibt. Aufgelockert wird sie zudem von Ttrebi H*trs persönlichen, oft philosophischen Reflexionen. Er weiß den Leser auf die Folter zu spannen, indem er wichtige Ereignisse und Erkenntnisse erst später, an passender Stelle berichtet. So wird zum Beispiel nach und nach immer mehr über seine Auftraggeber bekannt. Und es wird eine rote Linie deutlich, nämlich dass alle intelligenten Rassen von der Neugier getrieben immer neue Grenzen überschreiten, um Antworten auf die grundlegenden Fragen zu erhalten: nach dem Ursprung ihrer Schöpfung und dem Sinn ihrer Existenz. (Die Antworten, die das Buch selbst gibt, kann man mögen oder auch nicht.)

Der Stil und die Sprache dieser “Niederschrift” sind so außergewöhnlich wie ihr Thema. Der Leser ist mit opulenten Satzgebilden, einer sehr gewählten Ausdrucksweise und vielen Übertreibungen und Superlativen konfrontiert. Diesen Stil, der ein wenig an längst vergangene Zeiten erinnert, mag nicht jeder als “passend” empfinden. Aber wer weiß schon, wie sich unsere Nachkommen im Jahr 500000 ausdrücken werden.

Unterhaltung:
Anspruch:

Ideenreichtum:

Rezension: “Im nächsten Leben wird alles besser” von Hans Rath

Ein Mann erwacht. Jedoch nicht am folgenden Tag, sondern 25 Jahre später, als alter Mann. Weder kann er sich an seinen Assistenten Gustav erinnern, noch daran, was mit seiner Ehe passiert ist, noch an seine eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken.

Mühsam beginnt er damit, diese ihm fremde Zukunftswelt zu erkunden und seine Erinnerungen wiederzufinden.

Hans Rath schafft hier eine grundsätzlich interessante Ausgangslage, indem er die zukünftige Welt durch die Augen eines Mannes erklärt, für den alles neu und unbekannt ist. Als zweite Ebene arbeitet der Roman mit Rückblenden. Man erfährt viel über das alte Leben des Ich-Erzählers: Seine Freunde, wie er seine Frau kennenlernte und natürlich über ihn, den pessimistischen Schwarzseher.

Die gefällige, schnörkellose Sprache und die geschickte Konstruktion beider Ebenen machen den Roman zu einem gut lesbaren Werk für alle, die wenig oder keine Erfahrung mit SF haben.

Routinierten SF-Fans werden dagegen die meisten Ideen vertraut sein, für sie gibt es wenig Neues zu entdecken. Wer zuvor Hillenbrand oder Suarez gelesen und die Matrix-Filme gesehen hat, langweilt sich schnell, viele Stellen sind dann vorhersehbar, die philosophischen Überlegungen bekannt und der Schluss unbefriedigend.

Dass der Schluss durchaus offen lässt, ob alles so ist, wie es scheint, funktioniert mäßig gut. Vor allem aber ärgert man sich darüber, dass man sich vorher über einige Dinge geärgert hat, die natürlich vom Schluss her betrachtet logisch sind, den Lesegenuss zwischendurch aber sehr schmälern.

Da der Autor selbst Philosoph ist, muss man darüber hinwegsehen, dass Szenen teilweise dafür benutzt werden, Überlegungen zur Zukunft und dem menschlichen Sein zu transportieren. Das wirkt an mehr als einer Stelle eher wie ein Essay denn wie eine Diskussion unter echten Menschen – die Wortgefechte passen etwas zu flüssig ineinander. So wirkt dann auch die Wandlung von Arnold vom dauermeckernden Besserwisser zum tiefenphilosophisch-geläuterten Weltversteher konstruiert, vor allem wichtig, um Botschaften des Autors zu transportieren.

Dafür entschädigen die gut gezeichneten Figuren und deren realistische Biografien. Der Roman ließt sich zügig genug, um ihn nicht abzubrechen.

Wer gerne philosophische Romane liest und wenig Erfahrung mit SF hat, wird gut unterhalten.

Unterhaltung:
Anspruch:
Ideenreichtum:

Neu: NOVA 29

Die 29. Ausgabe des wohl bekanntesten deutschen SF-Magazins ist da.

 Tino Falke: Im Bärental
* T. Elling: Die letzte Jungfrau
* Tom Turtschi: Die Pinocchio-Abteilung
* J. A. Hagen: Das Ebenbild
* Moritz Greenman: Spiegelzeit
* Uwe Post: … und mir wird nichts mangeln
* Frank Hebben: Am letzten Tag
* Norbert Stöbe: Expedition 13b/Regalis
* Peter Stohl: Keine Maßnahmen erforderlich
* Martin Wambsganß: Geifer

 
Mit einer Gaststory aus Kanada von
* Louis B. Shalako: Anna

Der Sekundärteil mit dem Schwerpunkt Simulationshypothese:
* Thomas A. Sieber: Die ultimative Verschwörungshypothese
* Erfan Kasraie: Science-Fiction, philosophische Hypothese oder Bullshit? Eine philosophische Untersuchung der Simulationshypothese
* Fabian Vogt: Die beste aller Simulationen. Ein theologischer Streifzug durch die Möglichkeit der Wirklichkeit
* Wolfgang Mörth: Die Gummiwelt-Illusion
 
Mit Nachrufen auf:
* Karl Smith: Erinnerung an Syd Mead 1933–2019
* Cory Doctorow: RIP Mike Resnick

Wie üblich ist NOVA von namhaften Künstlern der Szene farbig illustriert.

Das 220 Seiten starke Magazin ist zum Beispiel bei Amazon für 16,90 zu haben.